Sandra Schön, Martin Ebner, Hannes Rothe, Renate Steinmann und Florian Wenger (2013). Macht mit im Web! Anreizsysteme zur Unterstützung von Aktivitäten bei Community- und Content-Plattformen. Band 6 der Reihe „Social Media“, herausgegeben von Georg Güntner und Sebastian Schaffert, Salzburg: Salzburg Research. (ISBN 978-3-902448-38-5)
Macht mit im Web! Anreizsysteme zur Unterstützung von Aktivitäten bei Community- und Content-Plattformen
1.
2. Macht mit im Web!
Anreizsysteme zur Unterstützung von Aktivitäten
bei Community- und Content-Plattformen
Sandra Schön
mit Beiträgen von Martin Ebner, Hannes Rothe,
Renate Steinmann und Florian Wenger
2
4. VORWORT
Das Kompetenzzentrum für neue Medien wurde beginnend mit dem Jahr 2000 als Denkfabrik für
innovative Konzepte und Lösungen für die österreichische Medien und ContentIndustrie aufge
baut und bietet seitdem Technologieführern und den Betreibern fortschrittlicher InternetPlatt
formen eine Heimat zur Entwicklung und Erprobung innovativer Informationssysteme und ar
chitekturen. Gemeinsam mit führenden Vertretern der Medien und ContentIndustrie wurden
dabei von Beginn an konkrete Lösungen entwickelt und erfolgreich umgesetzt. In der Laufzeit des
aktuellen „Salzburg NewMediaLab – The Next Generation“ steht eine Fortentwicklung der Ver
knüpfung und Verwendung von LinkedDataPrinzipien für multimediale Inhalte auf dem Pro
gramm. Durch die Nutzung verfügbarer Wissensquellen und des sozialen Kontextes, in dem In
halte erzeugt und verwendet werden, bietet sich Unternehmen damit die Chance, ihre Inhalte
über verschiedene Anwendungen hinaus zu verknüpfen und den Kostendruck bei der Entwick
lung personalisierter Inhalte zu reduzieren.
Auch wenn bei dieser Art von Verknüpfung und Kontextualisierung von Inhalten ein hoher Auto
matisierungsgrad wünschenswert ist, lebt das Konzept von einer, direkten oder indirekten, Mit
wirkung der Benutzer/innen. Das bedeutet, dass diese in irgendeiner Form zur Interaktion mit
den Inhalten beitragen sollen. Egal, ob dadurch die Ergänzung oder Kommentierung von Beiträ
gen, eine Verbesserung der Verschlagwortung, eine Bewertung von Beiträgen, oder der Aufbau
von Wissensbasen verbunden ist: damit ist Aufwand verbunden, den man nur dann zu tragen be
reit ist, wenn der (gefühlte) Nutzen der „Beteiligung“ höher ist. „Redakteure taggen nicht“, meinte
ein leitender Angestellter einer österreichischen Tageszeitung in einem Projektmeeting zur Erör
terung von Maßnahmen zur Verbesserung der Beschlagwortung der Nachrichtenartikel und ver
wies damit auf den Unwillen, redaktionelle Artikel mit geeigneten Metadaten zu versehen. Glei
chermaßen berichtete der für die Einführung eines Dokumentenverwaltungssystems zuständige
Projektmanager, dass jedes neue Feldelement, das in der Erfassungsmaske beim Anlegen eines
Dokuments verpflichtend eingeführt wird, intensive Diskussionen mit den Anwendergruppen
nach sich zieht: Neue Pflichtfelder bedeuten mehr Aufwand für die Anwender/innen und würden
demnach die Akzeptanz des Systems negativ beeinflussen. Was also tun? Neben technologischen
Verfahren zur Vereinfachung bieten sich auch so genannte „Anreizsysteme“ rund um die Interak
tion mit Inhalten an.
Der vorliegende sechste Band der Buchreihe „Social Media“ beschreibt und untersucht Anreize
und Anreizsysteme im Web, die Nutzer/innen zu Beiträgen motivieren und aktivieren versuchen:
Wir identifizieren unterschiedliche Arten von Anreizsystemen und stellen theoretische Erklärun
gen für ihre Funktionsweise vor. Gleichzeitig betrachten wir die praktische Umsetzung in erfolg
reichen Systemen, wie z.B. die Sammlung von Straßen und Verkehrsdaten, das FrageAntwort
Forum YahooClever, das FotoProjekt 365 und die Unterstützung einer öffentlichen Abstim
mung. Abschließend stellen wir die Herausforderungen und Stolperstellen bei der Entwicklung
von passenden und erfolgreichen Anreizsystemen vor.
Wir hoffen, mit diesem sechsten Band der „Social Media Reihe“ einen interessanten Einblick in
die Möglichkeiten von Anreizen und Anreizsystemen im Web zu geben. Auch im Namen von San
dra Schön bedanke ich mich dabei herzlich bei allen, die sich an der Erstellung dieses Reports be
teiligt haben.
Wir hoffen, die Zusammenstellung inspiriert auch Ihre Pläne und Arbeiten!
Georg Güntner
Zentrumsleiter – www.newmedialab.at
Juni 2013
4
6. INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung und Vorgehen............................................................................................................7
1.1 Hintergrund......................................................................................................................................... 7
1.2 Forschungsfragen und Vorgehen................................................................................................ 7
1.3 Beiträge von Nutzer/innen............................................................................................................8
1.4 Nutzer/innen: Vom einzelnen Experten bis zur Masse......................................................9
2 Theorien und Forschung zu Formen und Funktion von Anreizen auf
Webplattformen................................................................................................................. 11
2.1 Einführung.........................................................................................................................................11
2.2 Verständnis von Anreizen und Anreizsystemen im Web............................................... 11
2.3 Vom Anreiz zur Handlung: Ein Strauß möglicher Erklärungen................................... 12
2.4 Übertragung der Theorien auf OnlineAktivitäten und Webplattformen ...............15
2.5 Allgemeine Ableitungen der Theorien zu Anreizsystemen............................................16
2.6 Stand der Forschung zu Anreizsystemen im Web............................................................. 16
3 Anreize und Anreizsysteme im Web....................................................................................19
3.1 Anreize und Anreizsysteme im Web....................................................................................... 19
3.2 Warum werden Anreize und Anreizsysteme eingesetzt?...............................................20
3.3 Anreizsystem „Gemeinschaft und Freundschaft“...............................................................20
3.4 Anreizsystem „Persönliches Feedback“.................................................................................22
3.5 Anreizsystem „Spiel und Unterhaltung“...............................................................................24
3.6 Anreizsystem „Reputation“.........................................................................................................26
3.7 Anreizsystem „Währung“ ........................................................................................................... 29
3.8 Anreizsystem „Belohnung“ ........................................................................................................ 32
3.9 Anreizsysteme im Vergleich....................................................................................................... 35
4 Erfolgreich Anreize setzen: Beispiele im Überblick...................................................... 37
4.1 Auswahl der Beispiele...................................................................................................................37
4.2 Überblick über die Beispiele...................................................................................................... 37
5 Sammlung von Strassen und Verkehrsdaten: Motive und Anreize........................39
5.1 Die Sammlung von Straßen und Verkehrsdaten...............................................................39
5.2 Vorgehen............................................................................................................................................ 39
5.3 Ergebnis: Beiträge und Aufwendungen der Beitragenden.............................................40
5.4 Ergebnis: Anreize aus Sicht der Anbieter..............................................................................41
5.5 Ergebnis: Motive für Teilnahme............................................................................................... 42
5.6 Diskussion: Anreizsysteme als Selektion der Zielgruppe...............................................43
6
7. 6 Auswirkungen von Bewertungen beim FrageAntwortForum Yahoo!Clever.....45
6.1 Die FrageAntwortPlattform Yahoo!Clever........................................................................ 45
6.2 Vorgehen............................................................................................................................................ 46
6.3 Ergebnisse: Unterschiedliche Formen des Feedbacks und Auswirkungen auf die
Aktivitäten in der Folgewoche............................................................................................. 46
6.4 Diskussion......................................................................................................................................... 48
7 Die Rolle der Erwähnung auf Twitter bei #OPCO12......................................................49
7.1 Twitter und #OPCO12.................................................................................................................. 49
7.2 Vorgehen............................................................................................................................................ 49
7.3 Ergebnis: Niemand twittert bei OPCO12 ohne Reaktion von anderen viel.............50
7.4 Ergebnis: Wer nur wenig twitterte, erhielt oft keine Reaktion....................................51
7.5 Ergebnis: Mehr als 14 Tweets twittert man nicht „allein“..............................................52
7.6 Ergebnis: Das (Weiter) Twittern ist eine Reaktion auf Erwähnungen –
Exemplarischer TweetsMentionsVerlauf..................................................................... 53
7.7 Diskussion......................................................................................................................................... 54
8 Anreize für die Unterstützung bei der öffentlichen Abstimmung beim MOOC
Production Fellowship.....................................................................................................55
8.1 Öffentliche Abstimmungen im Web........................................................................................ 55
8.2 Das Public Voting beim MOOC Production Fellowship ...................................................56
8.3 Vorgehen............................................................................................................................................ 57
8.4 Argumentationen und Anreize ausgewählter Bewerbungen im Web.......................57
8.5 Zusammenschau und Diskussion ............................................................................................ 64
8.6 Empfehlungen für die Werbung um Stimmen beim Public Voting.............................65
9 Ein Foto am Tag – Zielsetzungen der Teilnahme ........................................................... 67
9.1 Project 365 bzw. „Ein Bild am Tag“......................................................................................... 67
9.2 Vorgehen............................................................................................................................................ 67
9.3 Ergebnis: Genannte Ziele der Teilnahme ............................................................................. 68
9.4 Diskussion......................................................................................................................................... 69
10 Herausforderungen bei der Implementierung von Anreizsystemen...................71
10.1 Herausforderungen im Überblick..........................................................................................71
10.2 Herausforderungen im Einzelnen......................................................................................... 71
10.3 Spezielle Herausforderungen für unterschiedliche Anreizsysteme .......................74
11 Entwicklung eines Anreizsystems..................................................................................... 75
11.1 Vorgehen......................................................................................................................................... 75
11.2 Empfehlungen für die Entwicklung eines Belohnungssystems.................................75
11.3 Empfehlungen zum Aufbau von OnlineGemeinschaften............................................ 76
11.4 Empfehlungen zur Entwicklung von CrowdsourcingAktivitäten............................77
11.5 Empfehlungen zur Entwicklung eines Reputationssystems.......................................77
11.6 Handlungsmodell zur Entwicklung eines Anreizsystems............................................78
12 Ausblick: Es bleibt spannend...............................................................................................83
13 Anhang.........................................................................................................................................84
13.1 Literatur...........................................................................................................................................84
13.2 Anhang: Auswertung der Motive für Projekt 365...........................................................89
7
8. 1 EINLEITUNG UND VORGEHEN
Sandra Schön
Unternehmen und Initiativen interessieren sich für Anreize und Anreizsysteme, um gezielt das
Mitmachen und Mitwirken im Web zu unterstützen. Ihre Zielsetzungen sind unterschiedlicher
Art: Sie reichen von der Idee, Kunden bei der Innovationsentwicklung einzubinden und von ihren
guten Ideen zu profitieren bis hin zu Webplattformen, mit deren Hilfe Nutzer/innen sich gegen
seitig beim Lernen unterstützen.
Die Fragestellung hinter der vorliegenden Zusammenstellung und vorgestellten Analysen ist, wie
Beiträge zu einer Webplattformen durch die Gestaltung des Angebots initiiert und unterstützt
werden können.
1.1 Hintergrund
Im Hintergrund dieser Studie steht das Salzburg NewMedia Lab, das zu den neuen Anforderun
gen an die Medien und ContentIndustrie forscht und entwickelt. Unter dem Schlagwort „Linked
Media“ (verlinkte Medien) tritt das Kompetenzzentrum seit 2010 für ein neuartiges Konzept digi
taler Informationen ein, das auf der Verknüpfung von Inhalten, von strukturierten Daten und von
Personen bzw. auf deren sozialen Interaktion mit den Inhalten beruht. Durch die Nutzung verfüg
barer Wissensquellen und des sozialen Kontextes bietet sich Unternehmen die Chance, ihre Inhal
te über verschiedene Anwendungen hinaus zu verknüpfen und den Kostendruck bei der Entwick
lung personalisierter Inhalte zu reduzieren. Die Vorreiterrolle bei der Umsetzung des LinkedMe
diaKonzepts nehmen unter der Koordination der Salzburg Research Forschungsgesellschaft füh
rende österreichische Medienunternehmen (ORF, Red Bull Media House, Salzburg AG und Salz
burger Nachrichten, Der Standard) und Softwarehäuser (mediamid, Semantic Web Company,
TECHNODAT) ein. Sie werden wissenschaftlich begleitet von Forschungseinrichtungen im Be
reich der MultimediaTechnologien, des Semantic Web und der sozialen Medien (Studiengang
MultiMediaTechnology der FH Salzburg, Semantic Technology Institut der Universität Innsbruck,
Salzburg Research). Diese Studie entstand im Rahmen der Forschungsarbeit des Salzburg New
Media Labs in den Monaten Oktober 2012 bis Juni 2013.
1.2 Forschungsfragen und Vorgehen
Für die Content und Medienindustrie, wie auch für zahlreiche weitere Unternehmungen, ist die
Frage wichtig, wie man Mitarbeiter/innen, Mitglieder, oder auch andere registrierte oder Interes
sierte Nutzer/innen einer Webplattform motivieren und unterstützen kann, Beiträge zu liefern.
Bloß weil das Angebot prinzipiell ermöglicht, sich beispielsweise im unternehmensinternen Wis
sensmanagementsystem auszutauschen, in einem Bilderarchiv Bilder hochzuladen oder auf einer
Rezeptseite Kochtipps zu veröffentlichen, bedeutet dies noch lange nicht, dass entsprechende Ak
tivitäten auch eintreffen. Die Entwicklung des sogenannte „Web 2.0“ gibt zwar eine Reihe von
Möglichkeiten der Partizipation und Teilnahme (O'Reilly, 2005), aber es ist bekannt, dass sie nur
bei wenigen Personen und Angeboten unmittelbar zu großer Aktivität führt.
Forschungsleitend sind bei dieser Studie folgende Fragestellungen:
| Was sind Anreize und Anreizsysteme? Welche Theorien und Erklärungen gibt es?
| Welche Anreizsysteme lassen sich im Web finden?
| Welche konkreten Erfahrungen werden im Hinblick auf Anreizsysteme und Beiträge von Nut
zer/innen bei erfolgreichen Projekten gemacht?
| Wie können passende und wirkungsvolle Anreizsysteme entwickelt werden?
Aufbauend auf einer Literaturrecherche zu Anreizen und Anreizsystemen und ihren Wirkungen
bei Webangeboten, werden in dieser Arbeit zunächst wissenschaftliche Theorien rund um Anrei
ze eingeführt, um dann unterschiedliche vorzufindende Anreizsysteme im Web zu beschreiben.
Insbesondere mit den Studien zu Reputationssystemen und zu mobilen und OnlineGemeinschaf
8
9. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
ten, die auch in der Reihe dieses Bandes erschienen sind, können wir dabei selbst auf hilfreiche
Vorarbeiten zurückgreifen (vgl. Schaffert & WiedenBischof, 2009; Schaffert, Güntner, Lassnig, &
WiedenBischof, 2010; Schön, WiedenBischof, Schneider & Schumann, 2011).
Es gibt bereits, jedoch handelt es sich dabei um eine überschaubare Zahl, einige Forschungsarbei
ten, die konkret die Wirkung der Anreize zum Mitmachen im Web analysieren. Dabei werden so
wohl Nutzer/innen zu ihren Motiven befragt als auch Nutzeraktivitäten ausgewertet. Um diese
existierenden Beiträge zu ergänzen, haben wir exemplarisch zu ausgewählten Themen und Web
angeboten eigene Analysen angefertigt und vorgestellt. Dabei ist es uns wichtig, dass es sich um
Daten und Erfahrungen mit laufenden, erfolgreichen Webplattformen handelt. Das Band schließt
mit der Entwicklung eines Modells zur Entwicklung eines Anreizsystems für Webplattformen.
1.3 Beiträge von Nutzer/innen
Die Studie ist plakativ überschrieben mit „Macht mit im Web!“ – doch mit welchen Beiträgen sol
len Nutzer/innen beitragen? Einige Angebote leben davon, dass viele Nutzer/innen es verwen
den, z.B. etwas aufrufen, herunterladen, ansehen oder auch mit anderen teilen, weil z.B. Werbe
einnahmen damit verknüpft sind. Andere Angebote leben davon, dass Nutzer/innen Inhalte er
stellen oder Bilder hochladen, um attraktiv zu sein (z.B. Wikipedia.de oder Instagram.com). Es
zeigt sich dabei, dass es der Aufwand und die dafür notwendige Expertise bei den „Mitmacher/in
nen“ recht unterschiedlich ist, manches geht sogar „beiläufig“.
Wie in Abbildung 1 dargestellt, lassen sich die dargestellten Informationen beispielsweise darin
unterscheiden, welche Expertise bei der Entwicklung bzw. Generierung dieses Quellmaterials
aufgebracht werden muss. So ist in der Regel beim Bearbeiten von Metadaten Fachwissen zum
Gegenstand notwendig, währenddessen Suchen oder einfaches InternetBrowsen nicht notwen
digerweise Fachwissen benötigt – das kann quasi jede/r. Gleichzeitig zeigt sich bei dieser Anord
nung, dass das Aufmerksamkeitsniveau graduell abnimmt: Während das Schreiben von Weblog
Beiträgen die Aufmerksamkeit der Ersteller/innen benötigen, werden etliche Klicks eher beiläu
fig vorgenommen.
WebAngebote, die Interesse an Beiträgen von Nutzer/innen haben oder auf sogar auf sie ange
wiesen sind, sind in der Regel Content oder CommunityAngebote, d.h. Angebote, bei denen es
darum geht Inhalte zu erstellen (Wikis, Fotosammlungen, Bewertungssysteme) oder sich aktiv
auszutauschen (Chats, soziale Netzwerke). Nahezu alle WebAngebote verfolgen solche Interes
sen, auch wenn sie graduell unterschiedlich von solchen Beiträgen abhängig sind.
Aus Sicht der Anbieter stellt sich die Frage, bei was die Nutzer/innen eigentlich mitmachen sollen
auch im Hinblick auf die konkreten Prozesse, die sie durch das Mitmachen unterstützen sollen.
Entlang eines traditionellen Produktentwicklungsprozesses dargestellt, zeigen sich unterschiedli
che Spielarten und Einsatzmöglichkeiten der Beteiligung von Webnutzer/innen(vgl. Abbildung
2).
9
10. Einleitung und Vorgehen
Abbildung 2: Mitwirkung von Nutzer/innen in der unternehmerischen Wertschöpfungskette
Quelle: adaptiert nach Schön, Güntner & Markus, 2011
1.4 Nutzer/innen: Vom einzelnen Experten bis zur Masse
„Macht mit im Web!“ heißt es im Titel – doch wer soll eigentlich mitmachen? Weil so vielfältige
Angebote auf Mitmacher/innen angewiesen sind, lässt sich diese Frage nicht pauschal für be
stimmte Personen oder Personengruppen festlegen. Mal sind es junge, mobile Mädchen mit tech
nischen Ambitionen, mal möglichst repräsentative Gruppen oder auch Fans einer bestimmten
Marke, die gefragt sind.
Ebenso werden unterschiedlich viele Nutzer/innen gesucht: Einige der Angebote suchen nur ein
zelne Experten, im Bereich der Markteinführung von Produkten werden diese beispielsweise als
„Lead User“ bezeichnet (nach Hippel, 1986). Andere Unternehmungen leben geradezu davon,
dass eine größere Zahl von Personen aktiv mitmachen. Viele Initiativen sind nicht auf einen sehr
aktiven, beständigen kleinen Kreis von Personen angewiesen, sondern richten sich darüber hin
aus an große Massen, die z.B. einer Initiative oder Marke zwar prinzipiell wohlgesonnen sind,
aber nicht notwendigerweise dauerhaft zur (Kunden) Gemeinschaft zählen müssen. Die entspre
chenden Initiativen bezeichnen sich dann als „Crowdsourcing“. Macht die „Masse“ mit, handelt es
sich um CrowdAktivitäten, z.B. Crowdfunding (jede/r finanziert mit einem kleinen Beitrag ein
größeres Vorhaben) oder Crowdsourcing (jede/r macht etwas kleines bei einem großen Projekt).
Im folgenden Abschnitt geht es nun um theoretische Erklärungen, wie Nutzer/innen durch An
reizsysteme zu Beiträgen angeregt werden sollen.
10
11. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
11
12. Theorien und Forschung zu Formen und Funktion von Anreizen auf Webplattformen
2 THEORIEN UND FORSCHUNG ZU FORMEN UND FUNKTION VON
ANREIZEN AUF WEBPLATTFORMEN
Sandra Schön
2.1 Einführung
Traditionellem wissenschaftlichen Vorgehen entspricht es, sich zunächst theoretisch zu erklären,
warum und wie etwas passiert – oder eben nicht passiert. In der Folge wird aus dieser Erklärung
Hypothesen abgeleitet, die dann wiederum einer Überprüfung benötigt. Schon zu Beginn möch
ten wir darauf hinweisen: Eine empirische Überprüfung der existierenden Theorien rund um An
reize und dadurch hervorgerufene oder unterstützte Aktivitäten im gewählten Setting, nämlich
Webplattformen, ist in aller Regel bisher noch nicht erfolgt. Gleichzeitig ist die Zahl und Varian
ten von wissenschaftlichen Erklärungen für die Funktion und Wirkung von Anreizen sehr groß,
wenn man nicht eine enge Sichtweise einer einzelnen Fachdisziplin vertritt, sondern sich glei
chermaßen für psychologische, sozialwissenschaftliche und auch ökonomische Modelle interes
siert.
Da es bisher keine Literatur gibt, die mit ähnlich breitem Fokus an der Gestaltung von Anreizen in
Content und CommunityPlattformen interessiert ist, ist die folgende Zusammenstellung als ein
erster Versuch zu sehen, der eventuell weiterer Ergänzungen bedarf.
2.2 Verständnis von Anreizen und Anreizsystemen im Web
„Anreize“, auf Englisch „Incentives“ sollen andere zu (bestimmten) Aktivitäten und Beiträgen mo
tivieren. Insbesondere von Unternehmen, die Kunden zum Kaufen ihrer Produkte animieren wol
len oder auch ihre Mitarbeiter zu besseren Arbeitsleistungen motivieren möchten, arbeiten ge
zielt mit Anreizen bzw. Anreizsystemen. Das können beispielsweise Rabattangebote sein, die
einen Kauf mehrerer Produkte besonders attraktiv machen oder auch Belohnungen für Mitarbei
ter, wenn sie ihre Zielsetzungen erfüllen, z.B. Zulagen oder auch attraktive Weiterbildungen.
Welche Anreize gibt es nun im Web? Ähnlich wie in der realen Welt finden sich hier Anreize un
terschiedlicher Art. Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive klassifizieren Clark und Wilson An
reize folgendermaßen (Clark & Wilson, 1961, Wilson, 1989, s. Dollman, 1996)
| materielle: ausgewählte und greifbare Belohnungen z.B. Geld, also Gehalt
| solidarische: nicht greifbare Belohnungen, z.B. Kameradschaft, Freundschaft, Geselligkeit
| statusbezogene: nicht greifbare Belohnungen, z.B. Prestige, Anerkennung
| zweckbestimmte: nicht greifbare Belohnungen, z.B. höhere Zielsetzungen der Organisation,
z.B. Verbesserung der Welt.
All diese Anreizformen lassen sich auch im Web finden: Es gibt hier Belohnungen in Form von
Geld oder anderen materiellen Gütern (z.B. für Weblogger), Freundschaften können sich entwi
ckeln (z.B. in sozialen Netzwerken) oder Reputation (z.B. für Verkäufer beim OnlineHandel).
Schließlich ist für Autorinnen und Autoren in der Wikipedia oder SoftwareEntwickler/innen ei
ner OpenSourceSoftware auch die Schaffung eines freien Wissensguts eine nichtgreifbare Be
lohnung.
Anreizsysteme sind das Gebilde von unterschiedlichen Anreizen, das auf einer Webplattform ein
gesetzt wird, beabsichtigt und unbeabsichtigt sowie bewusst und unbewusst, die auf bestimmte,
spezifische Weisen technisch und/oder organisatorisch in ihrer Wirkung unterstützt werden. In
dieser Arbeit haben wir davon einige spezielle Typen ausgewählt, beispielsweise Reputationssys
teme und Währungssysteme.
Diese Systeme werden daher am Beispiel existierender Webplattformen vorgestellt. Bevor Reali
sierungen betrachtet werden, werden im Folgenden zunächst Erklärungen vorgestellt, wie der
Einsatz von Anreizen erklärt wird und welche weitere Theorien hierbei zum Einsatz kommen.
12
13. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
2.3 Vom Anreiz zur Handlung: Ein Strauß möglicher Erklärungen
Das man Anreize setzt, um Aktivitäten von Nutzer/innen auf Webplattformen auszulösen und in
eine bestimmte gewünschte Richtung zu beeinflussen, ist einsichtig. Doch wie funktioniert das
genau? Welche Erklärungen dienen hier? Insbesondere in der Psychologie, aber auch in anderen
Disziplinen, thematisieren hier Theorien den Zusammenhang von Anreizen und ihren Einfluss auf
die Aktivitäten der Nutzer/innen.
Das Primat der Betriebswirtschaft und der rationalen egoistischen Entscheidung
Wer nach Anreiztheorien (engl. „incentive theories“) recherchiert, wird nahezu ausschließlich Li
teratur finden, die aus den Betriebswirtschaften stammt. Erste Spuren einer Anreiztheorie finden
sich nach Dollman (1996) bei Barnand (1938), der als erster Organisationen als kooperative
Gruppen beschreibt, die Mechanismen haben, Anreize für ihre Mitglieder zu setzen. Fundament
dieses Zugangs ist die Annahme, jeder Mensch handle rational und zu seinem Vorteil. So stellt
Campbell (2010) in seinem Werk zu Incentives, das als Grundlagenwerk für BWLStudenten
empfohlen wird, fest: „each individual acts to maximize his or her individual payoff, regardless of
the implications for the welfare of the others“ (S. 2). Diese Grundannahme zieht sich dabei durch
alle Darstellungen zur betriebswirtschaftlichen Betrachtung von Anreizsystemen: Jede/r handelt
so, dass sein/ihr persönlicher Profit am größten ist, egal wie es anderen dabei geht.
Diese Perspektive finden viele einseitig oder auch „seltsam“ (Graeber, 2012, S. 96); widerspricht
sie doch vielen Erfahrungen die man selbst bisher gemacht hat: Irrationalität, unüberlegtes Ver
halten, „Bauchentscheidungen“, Nächstenliebe, Mitleid, Großzügigkeit und viele weitere Fakto
ren, die in unserem Alltag eben auch wirksam sind, sollte es demnach nicht geben. Tatsächlich
sprechen eine ganze Reihe von Befunden gegen eine solche betriebswirtschaftlichrationale Per
spektive (Graeber 2012 verweist hier insbesondere auf Kahnemann 2003). Die Dominanz der
Perspektive kann u.a. damit erklärt werden, „dass jeder, der in Amerika in leitender Funktion tä
tig ist, eine Ausbildung in ökonomischer Theorie hat oder zumindest mit ihren Grundaussagen
vertraut ist. Das hat zur Folge, dass ihre Grundaussagen als überkommende Weisheiten gelten,
die einfach nicht hinterfragt werden“ (Graeber, 2012, S. 96). Tatsächlich gibt es eine Reihe weite
rer Ansätze und Verfahren, wie Anreize und ihre Auswirkungen auf das Verhalten und Handeln
theoretisch wirken und hier auch ergänzende oder alternative Erklärungen und auch empirische
Befunde liefern.
Doch nun dazu, wie bei diesem betriebswirtschaftlichen, rationalen Zugang zu Anreizsystemen
ihre Wirkung erklärt wird: Zentral sind dabei stets die Informationen, die den Handelnden zur
Verfügung stehen. Ein Beispiel ist eine Taxifahrt (siehe Campbell 2010, S. 10): Der Kunde möchte
möglichst schnell sein und wenig zahlen, der Taxifahrer möglichst viel Geld verdienen und daher
auch möglichst lange unterwegs sein. Wenn sich der Kunde aber nun in der Stadt nicht auskennt
(keine Information darüber habt) und der Taxifahrer das weiß, kommt es zum Problem des „ver
borgenes Handeln“ (engl. „hidden action problem“). Die Herausforderung der Gestaltung eines
Anreizsystems besteht in diesem Fall darin, dass der Taxifahrer so handelt, als ob der Taxikunde
alle relevanten Informationen haben würde (also den schnellsten Weg kennt). Dies ist eine der
Grundideen der aktuell vorherrschenden PrinzipalAgentTheorie auf den Grundlagen von Ross
(1973) und Stiglitz (1974).
Folgendes ist ein weiteres bekanntes Beispiel für diesen Zugang zu Anreizsystemen: Akerlof
(1970) untersuchte die Auswirkungen von verbogenen Informationen auf dem Gebrauchtwagen
markt. Er stellte fest, dass Käufer aufgrund mangelnder Informationen über die Qualität der Ge
brauchtwagen grundsätzlich davon ausgehen, dass es sich um schlechte(re) Ware handelt und es
sich beim Gebrauchtwagen wohl um „saure Gurken“ handelt. Im Englischen wird dafür der Aus
druck „lemons“, also Zitronen, verwendet und dieses Phänomen wird daher auch im Deutschen
als „Zitronenmarkt“ bezeichnet. Die Konsequenz dieser Annahme über die schlechte Qualität ist
eine geringere Bereitschaft der Käufer einen hohen Preis zu zahlen, wodurch Anbieter mit quali
tativ hochwertiger Ware und höheren Preisen vom Markt verdrängt werden und schließlich tat
sächlich nur noch saure Gurken übrig bleiben. Um höhere, der höheren Qualität angemessene
Preise zu zahlen, muss entsprechend informiert werden. Es handelt sich beim Zitronenmarkt
demnach um ein Informationsproblem. Aus diesem Grund wird beispielsweise versucht mit Hilfe
13
14. Theorien und Forschung zu Formen und Funktion von Anreizen auf Webplattformen
von Bewertungs oder Reputationssystemen im Web Kunden über die (gute) Qualität der Ware
bzw. des Anbieters zu informieren.
Die Rolle der Anreize in psychologischen Motivationstheorien: Was bewegt uns?
Die Idee der Anreize ist einfach: Sie sollen Aktivitäten motivieren. Anreize werden gesetzt, um
entsprechendes Verhalten auszulösen und zu verstärken. Damit Anreize überhaupt wirken kön
nen, müssen Menschen sie als attraktiv erleben. Eine Konzept, das hierbei häufig herangezogen
wird, ist die Idee der „Motive“ bzw. der „Motivation“. Beide Begriffe lassen sich vom lateinischen
„movere“ (zu deutsch „bewegen“) ableiten, und können mit „Beweggrund“ übertragen werden.
Die „Motive“ sind dabei, „angeborene psychophysische Dispositionen, die ihren Besitzer befähi
gen, bestimmte Gegenstände wahrzunehmen und durch die Wahrnehmung eine emotionale Erre
gung zu erleben, daraufhin in bestimmter Weise zu handeln oder wenigstens den Impuls zur
Handlung zu verspüren“ (Stangl, o.J.). Motivationen sind wiederum die Prozesse „die körperliche
und psychische Vorgänge auslösen, steuern oder aufrechterhalten“ (Zimbardo & Gerrig, 1996, S.
319). Motive können beispielsweise Macht, Unabhängigkeit, Neugier, Anerkennung oder Ordnung
sein (Reiss 2000, vgl. Stangl o.J.). Es gibt nach Stangl (o.J.) unterschiedliche Motivkategorisierun
gen und nur einzelne Versuche, diese Kategorisierungen auch empirisch zu stützen. Grundsätz
lich verfügt jeder Mensch über solche Motive, u.a. ist es aber Teil seiner Persönlichkeit, wie stark
und welche Motive für ihn leitend sind. Für die aktive Teilnahme an einer Gemeinschaft gibt es
beispielsweise ganz unterschiedliche Motive. So unterscheidet Kollock (1999) zwischen egoisti
schen und altruistischen Motiven, die dazu führen können, dass man sich an einer OnlineGe
meinschaft beteiligt. Zu den selbstbezogenen, egoistischen Motiven zählt Kollock die erwartete
Wechselseitigkeit („anticipated reciprocity“), d.h. dass Mitglieder erwarten etwas zurück zu er
halten. Zudem nennt Kollock „Aufschneiderei“ („bragging rights“) und das Gefühl, etwas bewir
ken zu können („sense of efficacy“): Es motiviert einige Nutzer/innen zu sehen, dass ihre Hand
lungen eine Gemeinschaft beeinflussen bzw. ändern. Zu den selbstlosen, altruistischen Motiven
zählt, dass jemandem geholfen wird, der Hilfe benötigt oder dass man auch die Verbundenheit
zur Gemeinschaft, daher die Gruppe, mit der man sich identifiziert, aktiv unterstützen möchte
(siehe Schaffert & WiedenBischof, 2009, 45). Solche Unterscheidungen von Motiven werden als
Inhaltstheorien bezeichnet.
Andere Motivationstheorien versuchen – auf unterschiedliche Weise – zu erklären, wie es zur
Motivation kommt, sind also Prozesstheorien. In der psychoanalytische Theorie nach Freud spie
len so Triebe, körperliche Bedürfnisse nach Selbsterhaltung und Lustgewinn, eine zentrale Rolle.
Andere Konzepte die bei Motivationserklärungen eine Rolle spielen ist der Wille (Volition) sowie
Gefühle (Emotion), manchmal auch die Kognition.
In einigen Theorien wird zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation unterschieden. Bei
der extrinsischen Motivation wird das Verhalten der OnlineAkteure beispielsweise durch finan
zielle Anreize, Anerkennung, Lob und Reputationsgewinn von außen beeinflusst. Die intrinsische
Motivation hingegen entsteht aus der inneren Befriedigung heraus, dass beispielsweise die Auf
gabe Freude bereitet oder man seine selbst gesetzten Ziele erreicht hat (Mattes, 2008). Auf den
ersten Blick kann es hilfreich erscheinen, Anreize für Aktivitäten möglichst hoch anzusetzen, also
beispielsweise einen hohen Geldbetrag auszuloben, um möglichst viele Aktivitäten hervorzuru
fen. Untersuchungen zeigen jedoch, dass dies ein Trugschluss ist: Extrinsische Faktoren erhöhen
die Leistungsbereitschaft oft nur unwesentlich und bremsen u.U. die intrinsische Motivation
(„CrowdingOutEffekt“ bzw. Korrumptionseffekt s. S. 74). Intrinsische, nichtmonetäre Anreize
wirken gleichzeitig häufig effektiver als Geldleistungen des Arbeitgebers (vgl. Weber 2006). Kei
neswegs müssen diese sich aber immer negativ auswirken (vgl. Eisenberger & Shanock 2003).
Aus Perspektive der psychologischen Motivationstheorie setzt man sich also mit den persönli
chen Motiven der Nutzer/innen auseinander, die nicht nur kognitiver oder rationaler Art sein
müssen, sondern sich auch auf emotionale Aspekte beziehen können („da fühle ich mich wohl“,
„da fühle ich mich angenommen“). Eine Herausforderung der Forschung ist, dass Zielsetzungen
und Motivation nur schwer erfasst werden können, beispielsweise beeinflussen bei Befragungen
Faktoren wie z.B. die sogenannte „soziale Erwünschtheit“ die Antworten oft deutlich und verfäl
schen die Ergebnisse.
14
15. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
Die Rolle der Anreize in Lerntheorien: Wie verändern wir Verhalten?
Anreizsysteme solle ein gewünschtes Verhalten auslösen, d.h. mit ihnen soll Verhalten verändert
werden. Die Lerntheorien der Psychologie beschäftigen sich mit den Möglichkeiten und Bedin
gungen der Verhaltensänderungen1
: Aus Sicht von Psychologen kann man Lernen als einen Pro
zess definieren, der zu relativ stabilen Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotenzial
führt und auf Erfahrung aufbaut (Zimbardo & Gerrig 1996, S. 206). Durch diese Definition werden
Veränderungen aufgrund von Reifevorgängen (wie Alterung) oder künstliche chemische Ände
rungen (wie Drogenmissbrauch) oder vorübergehende Veränderungen (wie Ermüdung) ausge
schlossen (vgl. Lefrancois 1994, S. 3 f.). Mit Erfahrungen werden Erkenntnisse bezeichnet, „die
der Mensch aus der unmittelbaren Sinneswahrnehmung von konkreten bzw. einzelnen Gegeben
heiten seiner Umwelt oder aus sich selbst gewinnt“ (Schaub & Zenke 2004, S. 184). In den psy
chologischen Lerntheorien geht es also nicht, wie man vielleicht assoziiert, um das Lernen in der
Schule, sondern ganz allgemein um Verhaltensänderungen, also auch solche, die beispielsweise
durch Werbung, Propaganda oder eine Therapie ausgelöst werden.
Augenscheinlich spielen Anreize dabei in der ältesten Gattung von lerntheoretischen Erklärun
gen, den Theorien des sog. Behaviorismus eine Rolle. In der klassischen behavioristischen Lern
theorie werden Verhaltensänderungen auf Veränderungen von ReizReaktionsVerknüpfungen
zurückgeführt. So beruht das Prinzip der klassischen Konditionierung nach Iwan Pawlow auf der
Beobachtung, dass ein ursprünglich neutraler Reiz (z.B. ein Glockenton) einen Reflex (z.B. Spei
chelfluss) auslösen kann. Weitere behaviouristische Ansätze sind das Prinzip des Lernens durch
Versuch und Irrtum (E. Thorndike) und die Operante Konditionierung (B. Skinner). In diesen
lerntheoretischen Ansätzen tauchen Anreize in Form von (erwarteten) Belohnungen oder Bestra
fungen („Verstärkern“) auf.
Innere Prozesse, nämlich Kognition und Emotion rücken seit den 1960er Jahren in den Mittel
punkt des Erkenntnisinteresses der Lernpsychologie. Die Theorie des Lernens am Modell nach A.
Bandura beruht beispielsweise darauf, dass viele Tiere und auch Menschen durch „Abschauen“
bei anderen lernen, wozu kognitive Prozesse nötig sind. Die Bedeutung von Kognition zeigt sich
auch in Banduras später entwickelten sozialkognitiven Theorie: Die Erwartung der eigenen
Selbstwirksamkeit (engl. „selfefficacy“) hat hier einen zentralen Einfluss auf das Verhalten. Es
geht hier nicht alleine um mögliche positive Ergebnisse der Handlung, sondern auch um die eige
nen Erwartungen, ob diese Ergebnisse erreicht werden können, die das Verhalten beeinflussen.
Anreize können aus dieser Perspektive nur wirken, wenn sich die Nutzer/innen (auch) von ihrer
Handlung erwarten, wirksam zu sein.
Es gibt eine Reihe von weiteren Lerntheorien, beispielsweise solche die von Konstruktivismus
beeinflusst sind, oder auch Erklärungen, die sich mit dem Lernen in bestimmten Situationen aus
einandersetzen. Aus vielen lassen sich wiederum Ableitungen für die Gestaltung von Anreizsyste
men im Web ableiten. So beispielsweise dem „Lernen am Modell“: Wenn man solches Wissen
über die Möglichkeit, das Verhalten von anderen zu ändern, gezielt einsetzt, sollte man beispiels
weise besonders sympathische Nutzer/innen, mit denen sich viele identifizieren können, als
„Role Models“ einsetzen und/oder präsentieren (z.B. als „Mitglied des Monats“).
Die Rolle der Anreize in der Handlungstheorie und in der Entscheidungstheorie: Wie unter
stützt man gezielt Handlungen und Entscheidungen?
Wer sich sonst wenig mit Fachbegriffen der Sozialwissenschaften herumschlägt, wird nun etwas
verblüfft sein, wenn nach der Frage nach Erklärungen des Verhaltens nun die Frage nach Hand
lungen und Entscheidungen gestellt wird – könnte es ja so klingen, ob das nahezu das gleiche ist.
In den Sozialwissenschaften wird jedoch i.d.R. zwischen Verhalten, also den bewussten und unbe
wussten Aktivitäten auf der einen Seite und dem dem Handeln, also bewusste, kognitiv gesteuer
te Aktivität, auf der anderen Seite unterschieden. Anreizsysteme können auch gezielt an diesen
kognitiven, bewussten Überlegungen ansetzen und versuchen, das Handeln und Entscheidungen
der Teilnehmer/innen zu beeinflussen.
1
Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass sich lernpsychologische Annahmen nur auf schulisches Lernen oder Wissensaneig
nung beziehen, vielmehr versuchen sie eben allgemein Verhaltensänderungen zu erklären.
15
16. Theorien und Forschung zu Formen und Funktion von Anreizen auf Webplattformen
Auch hier gibt es wiederum einen ganzen Strauß unterschiedlicher Erklärungen, wie es konkret
zu Handlungen und Entscheidungen kommt. Neben der Psychologie spielen hier auch die Diszi
plinen der Soziologie und der der Ökonomie eine Rolle: Beispielsweise beschreibt die soziologi
sche Handlungstheorie, wie und warum es zu bestimmten Handlungen kommt. Insbesondere die
Ökonomie geht – wie oben bereits beschrieben – davon aus, dass der Mensch stets rational han
delt und entwirft entsprechende Erklärungen (RationalChoiceTheorie) wie Entscheidungen für
ein bestimmtes Handeln fallen. In diesem Falle sind die Akteure also nicht passiv „reagierend“ auf
bestimmte Anreize, sondern suchen sich z.B. gezielt solche Plattformen aus, die ihren eigenen Be
dürfnissen und Motiven entsprechen.
Erziehung, Lehre, Werbung und Verhaltenstherapie: Wie unterstützt man aktiv gewünschtes
Verhalten und Handlungen mit Anreizen?
Unterschiedliche anwendungsorientierte Disziplinen beschäftigen sich damit, wie Verhalten und
Handeln gezielt verändert werden kann und berufen sich dabei auf existierende Theorien und
Handlungskonzepte. Beispielsweise verfolgen Pädagogen das Ziel, Kinder zu mündigen und ver
antwortungsbewussten Erwachsenen zu erziehen oder etwas bestimmtes, Wissen und Kompe
tenzen, in der Lehre zu vermitteln. Die Erziehungswissenschaften beschäftigt sich damit, wie das
besonders gut gelingt und entwirft und überprüft entsprechende Vorschläge (Didaktik). Werbung
und andere Formen der Manipulation, auch die Technik NLP, das sog. neurolinguistische Pro
grammieren, sind Verfahren, mit denen das Verhalten des Gegenübers unbewusst in eine dezi
dierte Richtung gelenkt werden soll (die vom Gegenüber auch nicht gewünscht sein muss), z.B.
ein bestimmtes Produkt zu kaufen. In der psychologischen Therapie wird wiederum versucht,
Verhaltensweisen, die als problematisch eingestuft werden, z.B. Drogensucht, Aggressivität oder
Flugangst, abzumildern, abzubauen oder umzuformen. Auch hier gibt es zahlreiche Verfahren, die
auch mit Anreizen, Belohnungen, Bestrafungen, positiven Erfahrungen u.ä. arbeiten, um zum ge
wünschten Resultat zu gelangen. Beispielweise arbeitet ein Ansatz mit „Tokens“: Man sammelt
Punkte oder Gegenstände, wenn man das gewünschte Verhalten zeigt, und kann sich damit später
eine Belohnung holen oder sich selbst belohnen. Auch diese Referenzen, z.B. in der Didaktik, der
Werbung oder auch der psychologischer Therapien, also existierende Modelle der Verhaltensän
derung, können bei der Gestaltung von Webplattformen genutzt werden.
2.4 Übertragung der Theorien auf Online-Aktivitäten und Webplattformen
Viele der dargestellten Theorien wurden zu einer Zeit entwickelt, in der die medial vermittelte
Kommunikation oder OnlineAktivitäten nicht vorstellbar waren oder beziehen sich nicht auf die
se Tätigkeiten. Es ist sich also immer die Frage zu stellen, ob die Erklärungen überhaupt auf das
Verhalten und Handlungen im Web übertragbar sind. Es gibt so die Annahme, dass sich Aktivitä
ten im Web deutlich von den PräsenzAktivitäten unterscheiden und durch die Gegebenheiten
(z.B. Anonymität, oft keine direkte Wahrnehmung von Mimik) vielfach Verhalten und Handeln im
Web unterscheiden: So geht beispielsweise das „Social Identy Deindividuation Model“, kurz SIDE
Modell, von Reicher, Spears und Postmes (1995) davon aus, dass sich durch die textbasierte com
putervermittelte Kommunikation die Zugehörigkeit der Person zu einer Gruppe in (halb)anony
men Kommunikationsformen die Kommunikation beeinflusst. Der Prozess, dass man sich dabei
einer Gruppe zugehörig fühlt und weniger als Individuum agiert, wird dabei als Deindividuation
bezeichnet. Als ein Beispiel dafür wird bei Boos und Jonas (2008) darauf hingewiesen, dass die
ser Theorie zufolge ein Kundendienstarbeiter eines Unternehmens eher die Regeln des Unterneh
mens befolgt, wenn er der Kundin namentlich bekannt ist; anonym würde er hingegen eher auf
die Kundeninteressen eingehen (S. 214). Auch gibt es Unterschiede bei der Anbahnung von Lie
besbeziehungen: Nach Boos und Jonas (2008) gibt es viele Belege dafür, dass bei der computer
vermittelten Kommunikation enge soziale Beziehungen und auch Liebesbeziehungen entstehen
können. Als ein Grund dafür nennen sie, dass die Selbstdarstellungen in der computervermittel
ten Kommunikation „aufgrund ihres Merkmals Überarbeitbarkeit gezielter gesteuert werden
kann als in der FacetoFaceKommunikation“ (S. 214). Dennoch verweisen sie abschließend auf
einen Beitrag von Walther (2000), demzufolge solche Beziehungsentwicklungen zwar die glei
chen Phasen durchlaufen, diese aber länger dauern.
Es sollte also durchaus auch Unterschiede zwischen den Offline und OnlineAktivitäten und da
mit auch mit den allgemeinen Wirkungen und Gestaltungen von Anreizsystemen und den Wir
16
17. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
kungen von Anreizsystemen im Web geben. Eine Übertragung der vorgestellten Theorien zu An
reizsystemen, die sich alle auf den OfflineKontext beziehen, auf die WebWelt ist also nicht ohne
weiteres möglich und muss daher mit Vorbehalt erfolgen und auch im Einzelfall geprüft werden.
2.5 Allgemeine Ableitungen der Theorien zu Anreizsystemen
Simple Erklärungen für Verhalten und Handlungen, die mit Belohnungen und Bestrafungen (z.B.
Behaviorismus) arbeiten oder davon ausgehen, dass sich Menschen immer rational verhalten
(RationalChoiceAnsätze) werden weitaus häufiger referenziert, wenn über „Anreizsysteme“ ge
schrieben und geforscht wird, als die aktuellen interaktiven sowie auch häufig komplexeren
Theorien. Es muss eben „ganz einfach“ sein, mit Anreizsystemen Verhalten und Handlungen zu
beeinflussen, wo doch auch deren Idee trivial erscheint. Umgekehrt lassen sich komplexe Theori
en, die Kognitionen, soziale Interaktionen u.a. Aspekte berücksichtigen auch nur schwer nutzen,
um z.B. Varianten von Anreizsystemen und deren Auswirkungen zu diskutieren. Die skizzenhafte
Beschreibung von unterschiedlichen wissenschaftlichen Erklärungen, die die Wirkungsweise von
Anreizen, beschreiben lässt auch weitgehend offen, wie nun Anreize genau wirken. Die Ausfüh
rungen sollten jedoch davon überzeugen, dass eine rein vernunftbezogene Wirkungsweise von
Anreizen, wie es häufig in der Betriebswirtschaft der Fall ist, wohl nicht der Realität entspricht.
Vielmehr ist von folgenden Punkten auszugehen:
| Eine rein betriebswirtschaftliche „vernunftorientierte“ Betrachtung der Wirkungsweise auf
Anreizsysteme ist verengt. Allerdings sollte man sich immer vor Augen halten, dass die Ak
teure selbstbestimmt ihre Umgebungen und Plattformen nach ihren Bedürfnissen und Moti
ven heraus auswählen und nicht nur passiv auf Anreize reagieren.
| Neben der Ratio (Vernunft) spielen auch Emotionen, Kognitionen sowie Situationen eine Rol
le dabei, wie Anreize auf das Verhalten und Handeln von Menschen wirken.
| Motive und Motivationen sind von Person zu Person unterschiedlich. Entsprechende Anreize
wirken sich unterschiedlich auf Verhalten und Handeln aus und auch auf die Personen, die
man mit einem Anreizsystem ansprechen kann.
| Lineare und kausale Zusammenhänge von Anreizsystemen auf der einen und Verhalten und
Aktivitäten auf der anderen Seite sind unwahrscheinlich. Vielmehr gestalten, insbesondere
OnlineGemeinschaften, oftmals aktiv Anreize und Anreizsysteme und beeinflussen sie damit
auch.
Schließlich ist noch festzuhalten, dass beim Blick auf die Anreizsysteme selbst, konkurrierende
andere Erklärungen für das Verhalten in Websystemen außer Acht geraten können oder zu wenig
Bedeutung erhalten, beispielsweise UsabilityAspekte.
2.6 Stand der Forschung zu Anreizsystemen im Web
Welche Fragestellung wir nun in der Forschung verfolgt? Wie wird gearbeitet? Welche Diszipli
nen interessieren sich? Bei den Recherchen bei Google Scholar und Fachdatenbanken zeigt sich
schnell, dass es hier nicht sinnvoll ist aufzuzeigen, wie oder ob sich die Zahl der Publikationen mit
den Begriffen „incentive system“ und „Web“ im Laufe der Jahre ändert. Dies liegt v.a. daran, dass
der Begriff „Web“ für viele Veröffentlichungen zu allgemein ist, da sie sich mit speziellen Online
Systemen beschäftigen, andere Begriffe sind noch unspezifischer („online“). Interessant ist jedoch
die Tatsache, wieviele Patente sich unter die Literaturangaben mischen: Vor den Recherchen zu
den Anreizsystemen ist mir so vorher nie aufgefallen, dass Google Scholar auch Patente durch
sucht und anzeigt. Im Folgenden wird ein Überblick über Forschungsarbeiten gegeben.
Viele Forschungstätigkeiten, wenn nicht sogar das Gros der Veröffentlichungen, drehen sich um
die Frage, warum Nutzer/innen eine bestimmte Tätigkeit im Web ausüben, warum sie beispiels
weise öffentliche Lesezeichen anlegen (z.B. Wash & Rader, 2007) oder warum sie bei der Wikipe
dia mitmachen (z.B. Forte & Bruckman, 2005). In aller Regel werden dazu Befragungen von eini
gen Nutzer/innen durchgeführt. Exemplarisch stellen wir in Abbildung 3 vor, welche Gründe die
Befragten bei Ames und Naaman (2007) für das Taggen von Bildern angeben. Auf Grundlage von
qualitativen Interviews werden den Befragten zudem Motive für das Tagging zugeordnet.
17
18. Theorien und Forschung zu Formen und Funktion von Anreizen auf Webplattformen
Abbildung 3: Exemplarische Darstellung von Forschungsergebnissen:
Gründe und Motive für das Taggen
Quelle: Abbildungen aus Ames und Naaman (2007), S. 976; S. 978
Häufig werden die Angaben aus den Interviews und Fragebogen mit den Angaben zum Nutzer
verhalten (Aktivitäten im System) ergänzt, beispielsweise wie lange jemand schon Erfahrung mit
einem System hat und wieviel er damit macht. Manchmal werden auch Tagebücher geschrieben
(Goh, Ang, Chua & Lee 2009). Lindquist et al. (2011) erheben mehrere Variablen und versuchen
mit Hilfe einer Faktorenanalyse zu ergründen, welche (unabhängigen) Motive dafür sorgen, dass
Personen bei Foursquare mitmachen.
Wer allgemein nach Anreizsystemen und Webplattformen recherchiert, wird nur wenig finden,
zu einzelnen Anwendungen und Services im Web gibt es jedoch oft gleich mehrere Studien, die
sich mit Motiven von Teilnehmer/innen beschäftigen. Beispielsweise haben dies vor Lindquist
u.a. (2011) u.a. für das Thema Foursquare auch bereits andere untersucht: Consolvo u.a. (2005)
beschäftigen sich so damit unter welchen Voraussetzungen man Ortsangaben mit anderen teilen
möchte; Tsai u.a. (2009) untersuchen die Rolle derjenigen, die die Ortsangaben anschauen und
kommentieren. Weitere Beispiele für (viele) Arbeiten, die sich jeweils mit den Motivationen von
Nutzerinnen auseinandersetzen bzw. sie erfassen sind: für Facebook Joinson (2008) oder für Rei
seOnlineGemeinschaften Wang (2004).
Das ist aber nur der erste Schritt, aus welchen Motiven Nutzerinnen in bestimmten Webplattfor
men aktiv sind oder Webangebote nutzen. Eine darauf aufbauende Frage ist, wie Anbieter aktiv
Motivation unterstützen können bzw. sich Anreizsysteme auswirken. Solche Arbeiten gibt es
deutlich weniger und sie sind, wenn überhaupt empirisch orientiert, häufig nur für kleinere Fall
zahlen erprobt. Beispielsweise untersuchen Ling u.a. quasiexperimentell inwieweit die Gruppen
heterogenität zu weniger sozialem Faulenzen (engl. „social loafing“) führt. Vorherrschend sind in
zu dieser Fragestellung Beiträge mit einem wirtschaftswissenschaftlichen Zugang. Aus Perspekti
ve der Betriebswirtschaft ist natürlich der OnlineHandel von besonderem Interesse. Es gibt so
eine Reihe von Untersuchen, die sich mit den, von Akerlof aufgezeigten, Auswirkungen von feh
lenden Informationen über den Verkäufer und den Verkaufsgegenstand auf den Preis beim Ge
brauchtgütermarkt beschäftigen. Dabei wird häufig die Plattform Ebay untersucht. Hier wird bei
spielsweise festgestellt, dass sich fehlende Verkäuferangaben negativ auf den erzielten Preis bei
Ebay Motors auswirken (Lewis, 2010).
Ob und welche theoretischen Modelle oder Erklärungen bei den Forschungsarbeiten herangezo
gen werden, ist auch eine Frage des disziplinären Zugangs. Betriebswirtschaftliche Zugänge ver
wenden, wie bereits oben ausführlicher dargestellt, i.d.R. RationalChoiceAnsätze. Davon abgese
hen gibt es keine Vorliebe oder Dominanz für einen bestimmten sozialwissenschaftlichen oder
psychologischen Zugang zum Thema. Ähnlich breit, wie wir eben mögliche theoretische Zugänge
beschrieben haben werden diese auch in der aktuellen Forschung aufgegriffen. Um noch eine
Theorie zu erwähnen, die in der Forschung verwendet wurde, aber bisher nicht beschrieben wur
de: Zhou u.a. (2010) erklären die Aktivitäten der Mitglieder einer mobilen Gemeinschaft durch
die Theorie des sozialen Kapitals.
18
19. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
19
20. Anreize und Anreizsysteme im Web
3 ANREIZE UND ANREIZSYSTEME IM WEB
Sandra Schön
Es gibt bisher keine Systematiken oder Beiträge die versuchen, unterschiedliche Anreizsysteme
im Web zu benennen, beziehungsweise Typen oder Kategorien zu bilden – zumindest haben die
Recherchen keine entsprechenden Ergebnisse geliefert. Es gibt zwar etliche Studien, die sich mit
ausgewählten Fragestellungen zu Anreizen und ihren Wirkungen im Web beschäftigen, aber kei
nen Versuch, einen Überblick zu schaffen. Die folgende Definition von „Anreizsystemen“ und die
ausgewählten Beispiele sind so als ein erster Versuch zu betrachten.
3.1 Anreize und Anreizsysteme im Web
Wie im „richtigen Leben“ gibt es in der OnlineWelt Anreize unterschiedlicher Art, die mehr oder
weniger gezielt eingesetzt werden. Die folgende Tabelle 1 gibt einen Überblick über entsprechen
de Beispiele für Anreize in Webplattformen nach dem betriebswirtschaftlichen Kategorisierungs
vorschlag von Clark und Wilson (Clark & Wilson, 1961, Wilson, 1989, s. Dollman, 1996).
Anreizart materiell solidarisch statusbezogen zweckbestimmt
Beschreibung nach
Clark & Wilson,
1961
ausgewählte und greif
bare Belohnungen z.B.
Geld, also Gehalt
nicht greifbare Beloh
nungen, z.B. Kame
radschaft, Freund
schaft, Geselligkeit
nicht greifbare Beloh
nungen, z.B. Prestige,
Anerkennung
nicht greifbare Beloh
nungen, z.B. höhere
Zielsetzungen der Or
ganisation, z.B. Ver
besserung der Welt
Beispiele im Web Preise, Gutscheine, (vir
tuelle) Währung
Soziale Kontakte,
Freundschaft
Reputation freies Wissen, politi
sche Aktionen
Tabelle 1: Anreizarten nach Clark und Wilson, (1961) und
korrespondierende Beispiele und Anreizsysteme im Web
Anreizsysteme sind das Gebilde von unterschiedlichen Anreizen, das auf einer Webplattform ein
gesetzt wird, beabsichtigt und unbeabsichtigt sowie bewusst und unbewusst, die auf bestimmte,
spezifische Weisen technisch und/oder organisatorisch in ihrer Wirkung unterstützt werden
(siehe Einleitung, S. 12). Bei der Entwicklung einer Typologie der Anreizsysteme im Web zeigt
sich also, dass sie neben inhaltlichen Aspekten auch organisatorischtechnisch Aspekte haben.
Diese sind folgende:
| Anreizsysteme rund um Gemeinschaft und Freundschaft, sie unterstützen die Vernetzung und
(freundschaftliche) Kommunikation der Nutzer/innen.
| Feedbacksysteme sollen persönliche (also nichtöffentliche) Rückmeldungen zum eigenen
Verhalten geben, die die Aktivität positiv unterstützen.
| Spiel und Unterhaltungssysteme sorgen dafür, dass die Teilnehmer/innen unterhalten wer
den und eine kurzweilige Zeit verbringen.
| Reputationssysteme sollen das Vertrauen in andere Personen (Organisationen) erhöhen – in
dem z.B. ihre Wertschätzung durch andere öffentlich dargestellt wird.
| (Alternative, eigene) Währungssysteme unterstützen den Austausch von Leistungen und Pro
dukten auf einer OnlinePlattform.
| Belohnungssysteme prämieren schließlich ausgewählte Aktivitäten auf einer Plattform.
Bevor die Typen von Anreizsystemen genauer betrachtet werden, wird noch Gründe für ihren
Einsatz vorgestellt.
20
21. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
3.2 Warum werden Anreize und Anreizsysteme eingesetzt?
Anreize und Anreizsysteme sollen bestimmte Aktivitäten anregen, aber aus ganz unterschiedli
chen Gründen. Im Folgenden werden einige dieser Zielsetzungen beschrieben.
Zunächst einmal ist ein Anreizsystem ein Versuch, Aktivitäten zu initiieren und zu fördern. Insbe
sondere beim Start eines neuen Systems oder Services ist es wichtig, gezielt Anreize zu setzen,
sich für etwas zu registrieren oder etwas zu nutzen. Vielmehr benötigt es sogar eine „kritische
Masse“ an Personen, bis überhaupt Aktivitäten oder Beiträge auftreten werden. Eine Spezialform
ist es, wenn Personen Anreize erhalten sollen, nun etwas online zu machen, das sie vorher nicht
im Web gemacht haben, z.B. nun OnlineBanking zu nutzen oder auch das OnlineSystem einer
Behörde (siehe z.B. Schulz, Hoffmann & Tallich, 2012). Anreizsysteme können auch (neu) gestal
tet werden, um gezielt eine bestimmte Zielgruppe zu erreichen (z.B. zahlungskräftige Manager).
Wenn ein System über genügend Aktive oder Registrierte verfügt, sind Anreizsysteme nicht auf
einmal überflüssig. Gerade die großen Zahlen von Personen, die Systeme oder Anwendungen nut
zen können dazu führen, dass es insgesamt zu wenig Aktivitäten kommt. Die SocialLoafingTheo
rie bezieht sich darauf, dass Menschen für gemeinsame, kollektive Aufgaben weniger Aufwand
betreiben als für individuelle Aufgaben (z.B. Karau & Wiliams 2001). Dieses Phänomen wurde
von Thorn & Conolly (1987) wiederum auf OnlineGemeinschaften übertragen. „Social Loafing“
lässt sich mit „sozialem Faulenzen“ oder auch „gesellschaftlicher Deaktivierung“ ins Deutsche
übertragen (Mohr 2001, 166). Beck (2007, 26 ff) zeigt auf, dass der Inhalt nicht proportional mit
der Zahl der Teilnehmer steigt, sondern dass die Aktivitäten der sehr großen von ihm untersuch
ten CommunityPlattformen unterdurchschnittlich sind (S. 71). Es zeigt sich, dass bei Diskussi
onsforen die Zahl der registrierten (!) Nutzer/innen bei ungefähr 3.000 liegt; darüber hinaus fällt
die Häufigkeit und Länge der Beiträge in seinem Sample (S. 72). Anreizsysteme werden hier als
eine Möglichkeit gesehen, das soziale Faulenzen zu verringern (Ling u.a. 2005).
Anreizsysteme können auch in als vertrauensstiftende Maßnahme eingesetzt werden, beispiels
weise Reputationssysteme im OnlineHandel. Auch können sie der Kundenbindung dienen. Auch
die Vermeidung von Betrug kann allgemein ein Anlass zu sein, Anreizsysteme aufzubauen oder
entsprechend zu gestalten (McHugh, Deek & Fadi, 2005). So wird versucht mit Anreizsystemen
„Free Riding“ einzuschränken. So gibt es in manchen Systemen prinzipiell die Möglichkeit für
„Trittbrettfahrer“. Im allgemeinen werden darunter Personen verstanden die ohne Gegenleistung
etwas erhalten, beispielsweise ohne Beteiligung an einer Gruppenarbeit wie alle Gruppenmitglie
der entlohnt werden. Anreizsysteme können gezielt so gestaltet werden, um dieses Phänomen zu
minimieren (z.B. Feldman & Chuang, 2005). Doch nun folgt ein Blick auf die unterschiedlichen
Systeme.
3.3 Anreizsystem „Gemeinschaft und Freundschaft“
Der wesentliche Anreiz hinter dem Anreizsystem „Gemeinschaft und Freundschaft“ sind nicht
greifbare Belohnungen wie Freundschaft, Kameradschaft und Geselligkeit (vgl. Clark & Wilson,
1961, Wilson, 1989, s. Dollman, 1996). Interessierte oder Besucher von Plattformen von mobilen
Diensten interessieren sich vielleicht für eine spezielle Community: Bleiben und einbringen wer
den sie sich aber vor allem wegen der sozialen Beziehungen (Kim, 2001). Dies gilt auch für die
später genauer untersuchten Bereiche, so wird für mobile Massenspiele festgestellt „they come
for the game but stay for the community (…) is very much true“ (Koivisto, 2007, S. 10).
Zu OnlineGemeinschaften wird seit nun 20 Jahren geforscht. OnlineGemeinschaften (engl. „onli
ne communities“) sind „Personen mit gemeinsamen Interessen, die Internet und andere Kom
munikationstechnologien nutzen, um sich regelmäßig auszutauschen und/oder gemeinsam In
halte zu entwickeln, dabei starke Bindungen entwickeln und sich als zusammengehörig fühlen“
(Schaffert & WiedenBischof, 2009, S. 12). Ein Anreizsystem, das auf Gemeinschaft abzielt, zielt
(auch) auf Freundschaften ab. Freundschaft ist nach Wikipedia die Bezeichnung für „(...) eine po
sitive Beziehung und Empfindung zwischen Menschen, die sich als Sympathie und Vertrauen zwi
schen ihnen zeigt. Die in einer freundschaftlichen Beziehung zueinander stehenden Menschen be
zeichnet man als eine Freundin bzw. einen Freund. In einer Freundschaft schätzen und mögen die
befreundeten Menschen einander. Freundschaft beruht auf Zuneigung, Vertrauen und gegenseiti
ger Wertschätzung.“ (Wikipedia, Freundschaft, 2012).
21
22. Anreize und Anreizsysteme im Web
Um Gemeinschaften und Freundschaften zu erlangen oder zu pflegen, benötigen entsprechende
Systeme:
| Möglichkeiten, bereits existierende Freunde zu finden,
| Möglichkeiten, Freundschaften zu knüpfen und
| Möglichkeiten, sich mit Freunden und einer Gemeinschaft auszutauschen
| und/oder die Freundschaft zu erleben.
Spätestens jetzt ist eine Referenz auf diejenigen „soziale Netzwerke“ notwendig, die maßgeblich
den Anreiz der Freundschaft setzen, hier ist an erster Stelle Facebook.com zu nennen. Soziale
Netzwerke bezeichnen traditionell in den Sozialwissenschaften die Personen und Beziehungs
strukturen im Umfeld einer Person, der Begriff wird heute aber in aller Regel auf Webplattformen
bezogen, die das Vernetzen von alten und neuen Bekannten sowie die Kommunikation unterstüt
zen. Allerdings zielen einige der sozialen Netzwerke weniger auf Freundschaften und freund
schaftliche Kontakte ab als dass sie berufliches Netzwerken unterstützen. Das bedeutet nicht,
dass die Teilnehmer/innen kein Interesse an Freundschaften haben oder nicht auch einen Anreiz
daran sehen, sich aufgrund der beruflichen freundschaftlichen Kontakte zu beteiligen. Es ist je
doch wichtig festzustellen, dass es sich bei LinkedIn.com oder Xing.com im Hinblick auf Anreize
auch um Aspekte des Anreizes „Reputation“ dreht.
WebAngebote, die dezidiert auf Gemeinschaft, auf Freundschaft und Partnerschaft setzen sind
beispielsweise:
| Selbsthilfegruppen, die sich gegenseitige Unterstützung anbieten, beispielsweise verwitwet.
de,
| Plattformen, bei denen sich ehemalige Schulklassen und Freunde wiederfinden können, bei
spielsweise Stayfriends.de,
| die unzähligen und auch oft obskuren Gemeinschaften, die dem eigenen Hobby und Stecken
pferd frönen wollen und dies v.a. mit Gleichgesinnten machen möchten sowie
| sonstige Plattformen, die dezidiert freundschaftliche und wohlwollende Kommunikation zu
bestimmten Themen unterstützen. Ein Beispiel ist hier die Plattform Yelp.com, auf ihr werden
Ausgehtipps gesammelt, wobei als Kommunikationsmittel gezielt freundschaftliche Botschaf
ten vorgesehen sind, die als „Komplimente“ bezeichnet werden.
Einen Überblick über Formen von Angeboten, die als Anreizsystem „Gemeinschaft“ nutzen gibt
Tabelle 2.
Soziales
Netzwerk
Wertschätzende
Kommunikation
Schulfreunde
finden
Selbsthilfe-
gruppe
Ziel- und Zweck des
Anreizsystems
Austausch und Nut
zung fördern (z.B. für
personalisierte Wer
bung)
Positives Klima, gute
Stimmung schaffen
und erhalten (um ein
attraktiver Werbe
partner zu sein)
Regelmäßige Nut
zung erzeugen (für
Werbebanner)
Gleichgesinnte unter
stützen und stärken
Wichtiger Anreiz Austausch mit (neu
en) Freunden und
Wertschätzung
Anerkennung und
positives Feedback
von anderen erhalten
Ehemalige Schulka
meraden wieder fin
den
Verständnis finden
und Unterstützung
Beispiele Facebook, Senior
kom.at
Kommunikation bei
Yelp.com
Stayfriends.de Verwitwet.de
Unterstützung
durch ...
„Likes“ und „Shares“
der Freunde für Akti
vitäten, Vorschläge
für „Freunde“
„Komplimente“, die
man für Beiträge an
derer vergibt
Fotos zum Wiederer
kennen, Geschichten
und aktuelle Updates
Kommunikation,
manchmal auch durch
Moderatoren
Tabelle 2: Formen von Angeboten, die als Anreiz Gemeinschaft und Freundschaft nutzen
„Gemeinschaft“ und die Bildung und Aufbau von Gemeinschaft oder auch Freundschaft ist also
nicht nur ein (diffuses) Gefühl für Verbundenheit, sondern kann gezielt und systematisch unter
22
23. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
stützt werden. Bei Systemen, die sich insbesondere Freundschaft und Gemeinschaft als Anreiz
verstehen, sind daher Prinzipien, wie sie allgemein für den Aufbau von OnlineGemeinschaften
gelten, besonders wichtig. Das können dann u.a. Rollensysteme, eine besonders positive, wert
schätzende Netiquette und Kommunikationsform, oder auch persönliche Darstellungs und Aus
tauschformen sein. Aus dieser Perspektive ist es beispielsweise gut nachvollziehbar, dass es bei
sozialen Anwendungen wie Facebook, Google+ oder auch Twitter keine Unterstützung für negati
ve Kommunikation gibt: Es gibt eben nur „Likes“, „Plus“ oder „Favorits“ die man vergeben kann,
aber keine ausdrücklichen negativen Botschaften.
Aus der Perspektive von Anbietern von CommunityServices kann eine wichtige Unterstützung
für Nutzer/innen auch darin liegen, die „richtigen“ Leute zusammenzubringen. Beispielsweise
werden im Netzwerk der Nutzerin mögliche Bekannte aufgrund gemeinsamer Kontakte vorge
schlagen. Das können aber auch Mitglieder mit ähnlichen Profilen sein oder Personen, die sich zu
einem bestimmten Zeitpunkt am gleichen Ort zusammengefunden haben, beispielsweise Besu
cher der gleichen Konferenz waren. Erste Untersuchungen zu den Möglichkeiten und der Qualität
solcher Vorschläge für Freunde und Gruppen bei mobilen Gemeinschaften liegen vor. So hat bei
spielsweise Groh (2007) untersucht, wie brauchbar die Vorschläge für mobile Gemeinschaften
sind, die aufgrund von Ortsangaben, der expliziten Selbstauskunft (persönliche Interessen) sowie
den Inhalten der Kommunikation gebildet wurden. Um jeweils die Brauchbarkeit der Vorschläge
zu überprüfen, sind die Verfahren zur Evaluierung von Empfehlungssystemen einzusetzen. Kon
kret bedeutet dies, dass man mit Hilfe existierender Netzwerke und Gemeinschaften Daten aus
werten kann, ob das eigene Empfehlungssystem auch „treffsicher“ die existierenden Kontakte
vorschlagen würde (vgl. Schaffert, Bürger, Hilzensauer, Schneider & WiedenBischof, 2010, S.
70ff).
3.4 Anreizsystem „Persönliches Feedback“
Feedbacksysteme geben Nutzer/innen persönliche, also nur ihnen zugängliche Rückmeldungen,
die die Aktivitäten im System positiv unterstützen: Feedbacksysteme bzw. persönliche Profile in
Gemeinschaften sollen Auskünfte und Rückmeldungen in Bezug auf die eigenen Aktivitäten und
Aktivitäten der Community geben und können auch deren Verhältnis beschreiben (s. Schaffert,
Güntner, Lassnig & WiedenBischof, 2010, S. 12f). Welche tatsächlichen Anreize bei der Anwen
dung oder Plattform eigentlich eingesetzt werden spielt dabei bei dieser Betrachtung keine so
große Rolle, es geht dabei im wesentlichen um eine Verstärkung der jeweiligen Anreize durch das
Feedbacksystem bzw. die genutzte Visualisierung.Ein Feedbacksystem kann also so etwas sein
wie ein persönliches Cockpit. Das Feedback für Nutzer/innen wird dabei nur im privaten Bereich
angezeigt und ist für die anderen OnlineAkteure des Netzwerks nicht ersichtlich. Inhaltlich kann
es sich dabei um recht unterschiedliche Aktivitäten handeln, beispielsweise kann ein Feedback
system anzeigen, wieviel Punkte man für seine Antworten an andere erhalten hat oder wann man
das letzte Mal im Wiki editiert hat.
Feedbacksysteme sollen vor allem motivierend wirken und zur aktiven Teilnahme anregen. Sie
geben dabei gleichermaßen Rückmeldung zum Engagement und zu Einschätzungen oder Kom
mentare von anderen Teilnehmern wieder, die nicht öffentlich zugänglich sind. Je nach Ausrich
tung des Systems – soll das Feedbacksystem beispielsweise Lernen unterstützen, körperliche Ak
tivitäten aufzeichnen, oder soll es eher ein Cockpit über finanzielle Transaktionen sein – ist die
konkrete Ausprägung unterschiedlich. Um aktivierend und unterstützend zu wirken, muss es zu
den persönlichen Motiven passende Rückmeldungen geben. Auch im „normalen“ Leben kennt
man die verstärkende Funktion von Feedbacksystemen. So ist bekannt, dass man besser und
schneller abnimmt oder auch Strom spart, wenn man regelmäßiges und eindeutiges Rückmel
dungen, z.B. die Anzeige auf der Waage oder dem Stromzähler erhält.
Feedbacksysteme im Web geben also Rückmeldung und Übersicht zu den eigenen bisherigen Ak
tivitäten, beispielsweise zu Anmeldung und Login, zu einem Vergleich mit anderen, zu den bishe
rigen erworbene Anreizen (z.B. Geldzahlungen, Sternchen, Dankeschön, Zahl der Freunde) oder
zu den zukünftig zu erwartenden Anreize (z.B. Erreichen eines bestimmten Expertenstatus). For
men des Feedback, die Wenger (1998) speziell für „Communities of practices“ beschreibt, er
scheinen dabei allgemein hilfreich für eine konzeptionelle Beschreibung, was Feedbacksysteme
ergänzend bieten können:
23
24. Anreize und Anreizsysteme im Web
| soziale Präsenz (z.B. wer ist online, wie geht es den anderen, wieviele Male loggte ich mich im
letzten Monat ein, wie häufig machen das andere, wie fühle ich mich, wie die anderen?),
| Rhythmus (z.B. wann war ich das letzte Mal online, stehen CommunityTermine an, gibt es
Berichte über CommunityEvents?),
| Interaktion (z.B. von wem liegen Fragen, Antworten, Kommentare vor; gibt es besonders
wichtige Diskussionen?),
| Eingebundenheit (z.B. wie sehr bringe ich mich, im Vergleich mit den anderen, in die Commu
nityAktivitäten ein? Wie aktiv bin ich? Wie verbunden fühle ich mich?),
| Verbindungen (z.B. zu welchen Inhalte, Themen, Personen liegen Verbindungen vor, gemein
same Interessen?),
| Persönliche Identität (z.B. gibt es Aktualisierungs oder Änderungsbedarf beim öffentlichen
Profil, welche Rolle habe ich derzeit in der Community?),
| Community Identität (z.B. wie beschreibt sich die Community, welche Ziele und Zwecke ver
folgt sie, gibt es hier Veränderungen?) oder
| Beziehungen (z.B. wen kenne ich und woher, welcher Art sind meine Beziehungen, kennen
sich meine Kontakte untereinander?)
Beispiele für die Visualisierung, zumindest in Ausschnitten, einiger Webangebote wurden zur Il
lustration in Abbildung 4 zusammengestellt.
Abbildung 4: Beispiele für Feedback (-Visualisierungen) bei unterschiedlichen Webangeboten
Quelle: Jeweils Homepage Anbieter, Stand 2013-01-10
Was genau im Feedbacksystem darstellt wird, ist dabei höchst unterschiedlich. In Tabelle 3 wird
eine Übersicht über unterschiedliche Darstellungsformen gegeben.
24
25. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
Feedbacksystem: Leistungsbezogen Vergleich Interaktion
Wichtiger Anreiz Eigene Leistung Eigene Leistung im Vergleich
mit anderen
Kommunikation / Interaktion
mit anderen?
Beispiele To-Do-Listen (Rememberthe
milk.com), Lerngarten bei Bu
suu.com
Anwendungen mit kompetiti
ven Charakter, insbesondere
Spiel und Sport
Meldung für neue Nachrich
ten bei Facebook, Twitter etc.
Darstellung
durch ...
Erledigtes oder Aufgeschobe
nes; Wachstum des Gartens
als Visualisierung des Lernfort
schritts beim Sprachenlernen
(Busuu.com)
Ranglisten, Bestenliste Einblendungen, E-Mail-Be
nachrichtigung
Tabelle 3: Formen von Feedbacksystemen und ihre Darstellung
Ob und wie genau die Darstellung von Feedback bzw. wie sich die unterschiedlichen Darstel
lungsformen und Rückmeldungen in privaten Profilen sich auf die Aktivitäten der Nutzer/innen
auswirken, ist erstaunlich wenig erforscht. Im Rahmen seiner Dissertation hat Glahn (2009) bei
spielsweise einen Prototypen eines Feedbacksystems, genannt Team.sPace entwickelt und evalu
iert. Glahn (2009) hat sich dabei in seiner Untersuchung die Frage gestellt, wie sich die Visualisie
rung der Aktivitäten in einem communitybasierten Informationsportal auf das Engagement der
Einzelnen auswirkt (vgl. Schaffert, Güntner, Lassnig & WiedenBischof, 2010).
3.5 Anreizsystem „Spiel- und Unterhaltung“
Spiel und ähnliche Unterhaltungssysteme sorgen dafür, dass die Teilnehmer/innen etwas geben
und im Gegenzug dafür unterhalten werden und eine kurzweilige Zeit verbringen. Viele
Spieler/innen verbringen Stunden und Tage gemeinsam mit anderen in einem OnlineSpiel. Sie
verbindet, dass sie gerne online spielen. Das Spiel und das Spielgeschehen ist dabei an sich der
wesentliche Anreiz. Bei den OnlineSpielern zeigen sich ganz unterschiedliche Motivationsfakto
ren, die zu einer Teilnahme bewegen. In einer Studie zeigt Yee (2007) unterschiedliche Motivato
ren auf. Demzufolge ist „Motivation durch Errungenschaften“ eine wichtige Antriebsfeder, wenn
auch für viele Spiele die beiden weiteren Bereiche „Motivation durch soziale Komponenten“ und
„Motivation durch Vertiefung“ wichtiger sein können. Mit letzterem werden das Aufgehen und
sich selbst Vergessen im Rollenspiel bezeichnet, oder auch der Spass an Entdeckungen und Er
kundungen im Spiel. Das Spielergebnis und der Erfolg, im Sinne von Fortschritt, Stärke, Macht,
Leistung, Rang und Status, ist somit ein zentraler Aspekt für OnlineSpieler, damit auch verbun
dene Feedback und Reputationssysteme. Bartle's Spielertypologie für MehrspielerUmgebungen
beschreibt hier gut, auch wenn sie empirische nicht unumstritten ist, wie unterschiedlich Spieler
und ihre Motive sein können (s. Bartle, 1996, Wei o.J.):„Achiever“ möchten so möglichst weit im
Spiel kommen, also hohe Punkte, Topbewertungen oder hohe Levels erreichen, „Explorer“ wollen
neues entdecken und hinterfragen Spielabläufe und Spielregeln, „Socialiser“ haben vorrangig
Spaß und Interesse an den andern Spielern und „Killer“ sind aggressive Spieler und wollen vor
rangig Gegner töten. Es zeigt sich also, dass das Interesse am Spielen im Web unterschiedlich aus
geprägt ist – und auch mit anderen Anreizsystemen gekoppelt werden kann. Typischerweise
macht es Sinn Spielern vom Typ „Archiever“ auch ein Ranking anzuzeigen, also ein Reputations
system zu nutzen.
Das Anreizsystem „Spiel und Unterhaltung“ wird dabei auf unterschiedliche Weise eingesetzt. So
gibt es Modelle, bei denen das Spiel selbst Verkaufsobjekt ist, also beispielsweise kostenpflichtig
sind, für kostenpflichtige Vollversionen werben oder sich durch InAppKäufe finanziert. „Games
with a Purpose“ haben einen (ernsthaften) Zweck: Während des Spieles entstehen dabei z.B.
wichtige Metadaten (z.B. bei ESPGame zu Bildern, vgl. Ahn und Dabbish, 2004, siehe die folgen
den Ausführungen). Dann gibt es schließlich Spiele im Web, die Personen an eine Plattform oder
auch an einen Anbieter binden sollen.
25
26. Anreize und Anreizsysteme im Web
Spiel Spiel als
Verkaufsobjekt
Games with a Purpose Spiele zur Kundenbindung
Zweck Das Spiel selbst (oder Erweite
rungen, Ergänzungen) wird
kommerziell vertrieben
Beim Spielen werden inter
essante Inhalte oder Informatio
nen geschaffen
Das Spielen bindet an eine
Webseite oder Plattform, z.B.
für Werbung interessant
Beispiele Kostenfreie Versionen im Web ESP-Game und Abwandlungen Integrierte Spiele (als App) bei
Facebook als PR-Maßnahme
Tabelle 4: Formen von Spielen als Anreiz
Besonders spannend sind Verfahren, bei den Spiele eingesetzt werden um damit spezifische Bei
träge zu erhalten, die auf andere Weise nur schwer zu erhalten sind. Mit spielerischen Ansätzen
werden so Freiwillige dazu gebracht, Bilder im Web zu verschlagworten. Um im größeren Um
fang Tags zu Bildern zu erhalten, entwickelten kreative Köpfe so das „ESPGame“ (www.espga
me.org, von Ahn & Dabbish, 2004). Die Spielidee liegt darin, dass Spieler zu Bildern Tags einge
ben, von denen sie annehmen, dass sie auch von anderen Nutzern verwendet werden und je nach
Übereinstimmung Punkte erhalten. Dabei hat sich gezeigt, dass schnell allgemeine Tags verwen
det werden, die nun ausgeschlossen werden, was das Spielen nun noch spannender und heraus
fordernder macht – und die Qualität der Tags erhöht. Die Autoren rechneten aus den ersten Ver
suchen mit dem ESPSpiel aus, dass 5.000 Spieler genügen würden, um alle Bilder, die von Google
indiziert sind (Stand 2004) in wenigen Wochen mit Schlagworten zu beschreiben.
Die Idee des Spiels „Phetch“ war es so, mehr Informationen zu Bildern zu bekommen (vgl. von
Ahn et al., 2006): Das OnlineSpiel ist für je drei bis fünf Spieler entwickelt. Einer der Spieler wird
zufällig als „Beschreiber“ ausgewählt, die anderen sind die „Sucher“. Der „Beschreiber“ erhält
vom Spiel ein Bild vorgelegt, das er mit einem kurzen Text beschreiben soll, beispielsweise mit
„ein weißes Gespenst steht auf der Brücke und schreit“. Die Sucher, die das Bild nicht gesehen ha
ben, müssen nun möglichst schnell das richtige Bild mit Hilfe einer Bildersuchmaschine finden,
indem sie dort nach passenden Suchbegriffen recherchieren und sich dann für ein Bild entschei
den. Wer als erstes das richtige Bild wählt, erhält Punkte und ist in der nächsten Runde der „Be
schreiber“. Wenn das richtige Bild gefunden wurde, erhält natürlich auch der „Beschreiber“
Punkte. Bei folgendem Foto würden die Beschreibungen bei Phetch folgendermaßen lauten:
„halbMannhalbFrau mit schwarzem Haar“ sowie „eine abstrakte Zeichnung mit einem Mann
mit einer Violine und einer Frau mit einer Flöte“ (s. von Ahn et al., 2006, s. Abbildung 5).
Abbildung 5: Beispielabbildungen zur Beschreibung des Spieles „Phetch“
Quelle: von Ahn et al., 2006, Abbildung 1
Mit Hilfe dieses Spiels können also gute, hilfreiche Beschreibungen für Bilder entwickelt und vali
diert werden; durch den Spielcharakter kann dies mitunter recht schnell gehen, so dass in kurzer
Zeit eine große Zahl von Bildern beschrieben wird. Im Vergleich mit einer SpielVariante (dem
ESPGame), bei der nur Schlagworte eingegeben werden sollen zeigt sich, dass PhetchBeschrei
bungen in 98,5 Prozent der Fälle richtig identifiziert wurden, hingegen traf dies nur bei 73,5 Pro
zent der Bilder mit ESPTags zu (von Ahn et al., 2006, 81). Die Idee des ESPSpiels wurde inzwi
schen auch von anderen aufgegriffen. So hat Google den „Google Image Labeler“ implementiert
und erhält durch dessen Spieler viele Metainformationen über Bilder. Auch wurde die Spielidee
auf andere Medien übertragen (z.B. auf Musikstücke: „Tag a Tune“, via www.espgame.org). Hier
werden Musikstücke vorgespielt, die getaggt werden sollen. Andere wiederum entwickelten dar
26
27. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
aus ein Spiel (und Patent), das auf einem horizontalen Display gespielt wird (Diakopoulos & Chiu,
2007). Im Kompetenzzentrum für Neue Medien, „Salzburg NewMediaLab – The Next Generation“
wurde von der Universität Innsbruck das Spiel „TubeLink“, bei mit einem Spiel Video getaggt
werden (vgl. Schön, Güntner u.a., 2012, S. 40f).
: Screenshot von TubeLink.
Quelle: TubeLink (Stand 10.12.2011); s. Schön, Güntner u.a., 2012, S. 40
Sogar für die Erstellung von Mitarbeiterprofilen wurde das ESPGame abgewandelt und einge
setzt (vgl. Zhang, Dong, Ackerman & Qu, 2008): Gewonnen hatte hier derjenige Mitarbeiter, des
sen Tags mit Kompetenzen der Kollegen am besten zu deren Selbstbeschreibungen passt. Durch
die Spielbeteiligung wurden vergleichsweise schnell und spielerisch Kompetenzbeschreibungen
der Mitarbeiter/innen zugänglich. Insbesondere für (nichttextuelle) Medienarchive ist im Allge
meinen davon auszugehen, dass für die Dokumentation und die Nutzer/innen ein echter Mehr
wert entstehen kann, wenn Tagging möglich ist. Um wirklich viele Tags zu erhalten, können die
genannten Spielideen helfen, diesen Prozess attraktiv zu machen und ins Laufen zu bringen; zu
dem können sie Teil einer PRAktion sein.
Eine andere spielerische Möglichkeit, spezielle Informationen zu erhalten sind Wetten. Auswer
tungen des Wettverhaltens werden dabei genutzt, um genauere Informationen über zukünftige
Entwicklungen zu erhalten. Die Methode heißt „Prediction Markets“ – und ist auch als „Betting
Markets“, „Information Markets“, „Event Futures“, „Decision Markets“, „Idea Futures“, „Iowa Elec
tronic Markets“ oder „Future Markets“ bekannt. Die Methode an sich hat eine lange Vorgeschichte
und fand bereits in den USA nach dem Ende des Bürgerkrieges in der Wahlprognose Anwendung,
wo sie erfolgreich zur Vorhersage des Ausgangs von Präsidentschaftswahlen eingesetzt wurde.
(Wolfers & Zitzewitz 2004b, S. 12; Armstrong & Green 2006, S. 3; Zhao et al., 2008). Während die
Nutzer/innen Spaß daran haben, ihre Wetten abzugeben, ggf. virtuelles Geld zu verlieren oder zu
gewinnen, verwenden die Wettforenanbieter die Informationen für eigene Zwecke. Wolfers und
Zitzewitz (2004a,b) nennen verschiedene Anwendungsmöglichkeiten von Prediction Markets.
Dazu zählen sie die politische Wahlforschung ebenso wie die Bewertung verschiedener Wirt
schaftsfaktoren, v.a. die Produktentwicklung. Eine der bekanntesten Beispiele im Bereich der
Wahlforschung und prognose ist dabei der Iowa Electronic Markets2
. Aber auch die University of
British Columbia betreibt einen Election Stock Market3
, wie auch das Karlsruher Institut für Tech
nologie4
. Im Hollywood Stock Exchange5
können Teilnehmer/innen virtuelles Kapital setzen, um
z.B. zukünftige Einspielergebnisse an amerikanischen Kinokassen zu bewerten. Weil es bei eini
gen der Anbieter aus Preise zu gewinnen gibt, hätten diese Variante eines Anreizsystems auch
ggf. bei den Belohnungssystemen genannt werden können.
3.6 Anreizsystem „Reputation“
Reputationssysteme sollen das Vertrauen in andere Personen (Organisationen) erhöhen und
können auch zu Hierarchien der Nutzer/innen führen. Der Anreiz besteht in der Regel darin, eine
besonders hohe Reputation zu erhalten, beispielsweise weil dadurch ein höherer Status, eine grö
ßere Glaubwürdigkeit und auch höhere Einnahmen verbunden sein können (z.B. bei OnlineAuk
2
http://tippie.uiowa.edu/iem/index.cfm (2013-06-07)
3
http://esm.ubc.ca (2013-06-07)
4
http://psm.em.uni-karlsruhe.de (2013-06-07)
5
http://www.hsx.com (2013-06-07)
27
28. Anreize und Anreizsysteme im Web
tionen oder Verkäufen). Wenn man früher erfahren wollte, welcher Händler gute Ware hat, wel
cher Handwerker saubere Arbeit leistet oder ob jemand einen Arbeiter sucht, war der Marktplatz
oder der Stammtisch ein guter Ort, um Erkundungen einzuholen. Man erfuhr dort schnell, auf
wen man sich verlassen kann und wem man besser kein Vertrauen schenkt. Das Internet und die
damit verbundene größere Anonymität der Agierenden und geringere Überschaubarkeit des An
gebots, erhöht den Bedarf nach Informationen über Ruf oder Ansehen von Personen, Organisatio
nen und Unternehmen. Dieser Bedarf wird zunehmend durch die Einführung von Reputations
systemen gestillt. Damit kann zum Beispiel abgesichert werden, ob einem Ratschlag Glauben ge
schenkt werden kann, ob ein potenzieller Arbeitnehmer passende Kompetenzen und Referenzen
aufweist oder wie zuverlässig ein OnlineHändler ist.
AbdulRahman und Hailes (2000) definieren Reputation als eine Erwartung über das Verhalten
eines Agenten, basierend auf Informationen über oder Beobachtung von dessen bisherigen Ver
halten. In dieser Definition wird deutlich, dass die aktuelle Reputation die Erwartungen über das
zukünftige Verhalten beeinflusst. Nach Grobholz (2008) kann Reputation auch als öffentliches
Ansehen von Menschen, Organisationen und Unternehmen verstanden werden, das sich aus Mei
nungen von Vielen zu einem Gesamtbild zusammensetzt (vgl. Grobholz, 2008). Reputationssyste
me haben dabei in dreierlei Hinsicht ihren Wert (s. Adler & de Alfaro, 2007, 262): Zunächst ein
mal haben sie einen präskriptiven Wert, d.h. das Verhalten der Nutzer/innen orientiert sich an
den Regeln mit denen man hohe Reputationen erreicht. Zweitens unterstützen Reputationssyste
me Nutzer/innen zu klassifizieren und einzuordnen, sie haben also einen deskriptiven Wert. Drit
tens hat die Reputation auch eine prädiktiven Wert, d.h. aus der Reputation werden Annahmen
über zukünftiges Verhalten abgeleitet.
Reputationssysteme spielen eine wichtige Rolle am häufig undurchsichtigen OnlineMarkt. Auch
wenn manche OnlineAkteure anonym handeln, unterstützen Reputationssysteme durch das
Sammeln und Verbreiten von Bewertungen und Einschätzungen den Entscheidungsprozess, wer
als passend, vertrauenswürdig oder interessant eingeschätzt wird. Unangenehme Überraschun
gen können besser vorgebeugt werden, da man bereits im Vorfeld prüfen kann, ob der potenziel
le Kontakt den Wünschen entspricht. Der „gute Ruf“ wird für OnlineAkteure immer wichtiger,
teilen doch immer mehr Menschen durch das Web ihre Erfahrungen mit der breiten Masse. Es
gibt viele Aussagen dazu, was konkret „der gute Ruf“ oder „Reputation“ ist. Pfeiffer (2008) bietet
beispielsweise eine Sammlung von mehr als 20 Definitionen zu Reputation und Corporate Repu
tation. Auch die Begriffe „Image“ und „Prestige“ werden manchmal synonym verwendet.
Webbasierte Reputationssysteme versuchen den Prozess der Reputationsentwicklung zu mode
rieren und zu automatisieren, indem die Nutzeraktivitäten verfolgt werden und die Reaktionen
der Mitglieder darauf ausgewertet werden (Glass, 2008). „Reputation“ entsteht in solchen Syste
men nicht (ausschließlich) durch Einschätzungen und Bewertungen von Dritten, sondern wird in
einzelnen Systemen alleine durch das Verhalten eines Nutzers und Reaktionen von anderen indi
rekt ermittelt.
Vielfältig wie die Einsatzgebiete von Reputationssystemen sind auch die damit verbundenen un
mittelbare Zwecke der Betreiber/innen (u.a. Dellarocas, 2009):
| Sie wollen Nutzer/innen generell aktivieren und zu Beiträgen zu einer Anwendung motivie
ren. Auch kann angestrebt sein, Nutzer/innen an einen Service zu binden.
| Sie wollen ein bestimmtes Verhalten der Nutzer/innen erreichen, beispielsweise community
unterstützende Aktivitäten fördern indem u.a. Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit bewertet
wird.
| Sie wollen den Nutzern bessere Orientierungsmöglichkeiten bieten, z. B. über Funktionen und
Kompetenzen der anderen Nutzer. Durch den Einsatz von Reputationssystemen kann bei
spielsweise in OnlineMärkten wie eBay oder bei Amazon das Verhalten von Marktteilneh
mern transparenter gemacht und dadurch Betrug besser vorgebeugt bzw. ausgeschlossen
werden.
| Reputationssysteme werden gerne auch mit weiteren Anreiz bzw. Bonussystemen gekop
pelt. Beispielsweise werden Nutzer/innen mit einer hohen Reputation oder einem hohen En
28
29. In: Macht mit im Web! – Social Media Reihe Band 6
gagement mit besonderen Privilegien belohnt. So können Berechtigungen in der Community
(wie Moderations oder Administrationsrechte) damit verknüpft werden oder soziale Anreize
wie reale Treffen geknüpft werden.
Einen guten Überblick über verschiedene Arten von Reputationssystemen gibt die Typologie des
Yahoo Developer Network (2008), die insgesamt fünf verschiedene Modelle identifiziert. Sie wer
den nach den Grad der möglichen Wettbewerbsintensität von „nicht/wenig Wettbewerb be
stimmt“ bis „stark Wettbewerb bestimmt“ unterschieden (s. Tabelle 5).
fürsorglich,
hilfsbereit
gemeinschaftlich freundlich,
höflich
wetteifernd,
konkurrierend
kampflustig
Ziel/Zweck der
Community
Mitglieder helfen
sich gegenseitig
durch Ratschläge,
Unterstützung
oder Trost
Ziele sollen ge
meinsam erreicht
werden
Mitglieder haben
eigene Motive,
die nicht im Kon
flikt mit den Zie
len anderer ste
hen müssen
Mitglieder verfol
gen gleiche Ziele
und treten dabei
gegeneinander an
Mitglieder verfol
gen entgegenge
setzte Ziele und
kämpfen darum,
sie zu erreichen
Zweck des Re
putationssys
tems
Identifizierung
von Community-
Mitgliedern mit
gutem Ansehen in
der Community
(Seniors)
Identifizierung
von Mitgliedern
mit geprüfter
Leistungsge
schichte als ver
trauenswürdige
Partner
Darstellung der
Partizipation an
der Community,
um anderen einen
allgemeinen Ein
druck, z.B. zu den
Interessen, zu er
möglichen
Darstellung der
Errungenschaften
einer Person, da
mit andere die
Leistung anerken
nen (und bestau
nen)
Darstellung der
Errungenschaften,
der Siege und
Niederlagen ge
gen andere (um
damit zu prahlen)
Reputations
darstellung
durch ...
Labels die Rollen
beschreiben und
neuen Mitglie
dern bei der Ori
entierung helfen
können wie „hilf
reich“ oder„Fo
rumsmoderator“
Labels, die den
Rang in der Com
munity beschrei
ben wie „Anfän
ger“ oder „Profi“
statistische Anga
ben oder auch
Kennzeichnung
besonderer Mit
glieder („Top
Ten“)
vergleichende
Darstellungen,
z.B. Ranglisten
und gesammelte
Auszeichnungen
Punktdarstellung,
Kennzeichnung
von Siegern und
Verlierern
Tabelle 5: Das Wettbewerbsspektrum und Auswirkungen auf Reputationssysteme in Online-Gemeinschaften
Quelle: Übersetzung/Darstellung nach Yahoo Developer Network, 2008
Reputationssysteme sind dabei mit großer Vorsicht zu entwickeln, einzuführen und aufrechtzu
erhalten. So kann die Einführung eines Reputationssystems kann sehr problematisch sein, wenn
es nicht zur Kultur und zu den Erwartungen einer Community passt. Es wäre auch ein Irrtum an
zunehmen, dass alle Marktteilnehmer gleichermaßen anstreben, eine hohe Reputation zu erhal
ten. Beispielsweise kann es im OnlineHandel gewünscht und rational sein sich als „Billiganbie
ter“ zu positionieren, der nicht zwangsläufig nur Bestnoten will, sondern davon profitiert, dass
sich Kunden über Schlechtleistungen auch weniger aufregen und seltener Artikel tauschen, also
wenig Folgekosten entstehen.
Auch motiviert ein Reputationssystem nicht unbedingt: Gerade Experten, die in Systemen als
„Anfänger“ einsteigen müssen, oder Nutzer, die im System beispielsweise durch eingeschränkte
Beteiligung keine sehr positive Reputation erreichen würden, können abgeschreckt werden. Der
Aufbau einer guten Reputation zieht sich in der Regel über einen längeren Zeitraum. Wurde be
reits eine hohe Reputation erzielt, muss diese auch gepflegt werden, denn ganz rasch kann sie
auch wieder zunichte gemacht werden (Schwalbach, 2001). Die Teilnahme an Reputationssyste
29
30. Anreize und Anreizsysteme im Web
men, bei denen die eigene Reputation erhoben und dargestellt wird, birgt auch Risiken. Man läuft
dabei ja durchaus Gefahr, dass dort ein schlechter Ruf entsteht oder deutlich wird oder dass man
durch geringe Teilnahme und Pflege bei einem communitybasierten System keine Bestnoten er
zielt. Dass OnlineAkteure freiwillig und ehrlich andere bewerten, ist dabei keineswegs selbstver
ständlich: Denn auch wenn der OnlineAkteur indirekt einen Nutzen aus seiner Beteiligung und
der Bewertung anderer zieht, verursacht eine aktive Teilnahme einen gewissen Arbeitsaufwand
und kann sogar auch Nachteile mit sich bringen: Wer seinem Lieblingskoch Bestnoten gibt, muss
befürchten, in seinem Restaurant danach dort keinen Platz mehr zu bekommen.
Reputationssysteme sollten auf keinen Fall unbedacht eingeführt werden, beispielsweise mit dem
Argument „es gehöre halt dazu“: Reputationssysteme haben große Auswirkungen auf das Nutzer
verhalten und können den Verlauf einer Community wesentlich beeinflussen. Dies ist insbeson
dere dann problematisch, wenn ein System nicht zu den Zielen und der Kultur einer Community
passt. Solche Fehlgriffe kommen jedoch immer mal wieder vor: In einem Interview mit Bryce
Glass nennt dieser als weniger gelungen das Beispiel Plurk6
(Bokardo, 2008): Plurk ist eine Mi
crobloggingPlattform, bei der die KarmaMetrik einen großen Wettbewerbscharakter hat, es
geht dabei v.a. um die Zahl der Beiträge und Follower, sodass der eigentliche Gedanke, Austausch
und Kommunikation, in den Hintergrund gerät.
Reputationssysteme werden als „Holy Grail“, als heiliger Gral, betrachtet; es wird als außeror
dentlich gefährlich gesehen, daran zu arbeiten oder ein neues System einzuführen. Gegen (tradi
tionelle) Reputationssysteme werden u.a. folgende Argumente vorgebracht (Parnell, 2007):
Wenn ein Reputationssystem eingeführt wird, wird damit „gespielt“ und versucht Schwachstellen
zu finden, es auszutricksen: Echte Kosten entstehen, die Akzeptanz eines Systems kann nachlas
sen. Auch ist es für Firmen gefährlich, Kunden zu bewerten, denn es kann dazu führen, Kunden
abzuschrecken, und nicht zu gewinnen. Reputation ist schließlich eine persönliche und subjektive
Bestimmung des Verhaltens oder der Vertrauenswürdigkeit einer Person, in einem spezifischen
Kontext; solche Messungen sind daher nicht verlässlich und hilfreich, wie es den Anschein hat:
Wenn eine Familie mit fünf Kindern einem Hotel Bestnoten gibt, muss es nicht für ein älteres
Ehepaar geeignet sein.
3.7 Anreizsystem „Währung“
Währungssysteme unterstützen den Austausch von Leistungen und Produkten auf einer Online
Plattform. Die Währung kann dabei aus offiziellen Währungen, also dem USDollar oder dem
Euro bestehen oder eben aus „virtuellen“ Währungen und spezifischen Gemeinschaftswährun
gen. Solche alternativen Währungssysteme gibt es eine ganze Reihe. Sie sind teils als Kritik zum
bestehenden Finanzsystem zu sehen und als Alternative eingeführt worden, so gibt es eine ganze
Reihe meist lokaler oder regionaler Währungen und „Tauschbörsen“ bei denen z.B. Waren oder
Dienstleistungen ausgetauscht werden können. Idee und Ziel solcher lokaler Währungssysteme7
ist häufig, dass sie für einen größeren regionalen Austausch und Belebung des Marktes sorgen
und dass sie Konsum ermöglichen, auch wenn man über wenig herkömmliche Finanzmittel ver
fügt, z.B. weil man arbeitslos ist. In einem solchen System kann man beispielsweise beim Rasen
mähen helfen, um das verdiente „Geld“, das z.B. als Talente, Arbeitszeit oder Sterntaler bezeich
net wird, wiederum für andere Dinge, z.B. Klavierunterricht einzutauschen. Solche Währungssys
teme sind also auch immer da, um für eine bessere Welt zu sorgen. Eine neue Gruppierung von
solchen Währungssystemen findet sich unter der Bezeichnung LETS („Local exchange trading
systems“. Das prominenteste österreichische Experiment mit einer alternativen regionalen Wäh
rung ist in Wörgl zu finden, mit ihrer Hilfe wurde recht erfolgreich die Depression in den Jahren
1932/33 überstanden (vgl. Wikipedia, Local Curreny8
). Viele dieser Währungssysteme nutzen
das Internet zur Dokumentation der Buchungen und sind auch im Web präsent9
. Reine webba
sierte Varianten dieser Tauschbörsen sind beispielsweise das Nachbarschaftshilfeangebot „giga
local“10
oder die weltweite Couchsurfing.comGemeinschaft.
6
http://www.plurk.com, Stand 02/2010
7
Einen guten Überblick gibt die folgende Datenbank http://www.complementarycurrency.org (2012-07-15)
8
http://en.wikipedia.org/wiki/Local_currency (2012-07-15)
9
Ein Beispiel von vielen: http://www.tauschen-ohne-geld.de/ (Neuköllner Tauschbörse, 2012-12-12)
10
http://gigalocal.de/ (2012-12-12)
30