Ein beachtlicher Teil der Deutschen glaubt, die Bevölkerung werde von den Medien systematisch belogen und die Journalisten arbeiteten mit der Politik Hand in Hand, um die Bevölkerungsmeinung zu manipulieren. In diesem Vortrag wird der "Lügenpresse"-Vorwurf als Verschwörungstheorie begriffen, allerdings wertfrei und nicht abwertend. Es wird gefragt, was eine Verschwörungstheorie ist und wie man "Lügenpresse" als Verschwörungstheorie definieren kann. Mit Hilfe der Systemtheorie von Niklas Luhmann wird argumentiert, dass verschiedene Vorwürfe an die etablierten Medien (aus dem rechten ebenso wie aus dem linken Lager) darauf zurückzuführen sind, dass Journalismus Komplexität reduziert und selbst ein komplexes soziales Funktions- bzw. Leistungssystem darstellt. Mehr Transparenz über die Arbeitsweise von Journalisten herzustellen wird allerdings nicht als Lösung für das Problem angesehen, da das Komplexitätsthema nur eine nachrangige Ursache für die Emergenz von Verschwörungstheorien ist; vorgeschaltete Bedingung sind Gefühle von Entfremdung, Ohnmacht und Benachteiligung. Die Aufgabe ist also eher politisch als technokratisch zu lösen.
Hameln - Gemeinwesenarbeit und Integrationsmanagement.pptx
Die Lügenpresse als Verschwörungstheorie
1. Seite 1
Tagung der DGPuK-Fachgruppe Journalistik
Würzburg, 15.-17.2.2017
Montage:AndreasLamm/message3/2008
Emergente Konsequenzen journalistischer
Komplexitätsreduktion: Die Lügenpresse
als Verschwörungstheorie
Uwe Krüger & Jens Seiffert-Brockmann
2. Seite 2
1. Einleitung
2. Begriffe und These
3. Beispiele: Panama Papers, Charlie Hebdo, Lichterkette
4. Auswege
Gliederung
3. Seite 3
Umfrage der Uni Mainz (Quiring/Schultz) vom
Okt./Nov. 2016
Implications
• SNA primarily addresses the “outer” characteristics of
human interrelations
• Hardly considers the inner processes of humans, which is
the subject of psychology
• Inner processes of humans may have an important impact
on the outer characteristics of their relations
For describing networks of transcultural communication
approaches of adult cognitive development are important
http://www.zeit.de/2017/05/medien-vertrauen-umfrage-ifak/komplettansicht?print
4. Seite 4
Idee einer Verschwörung zwischen Journalisten
und Eliten
Implications
• Studie Prochazka/Schweiger 2016: populäre Medienkritik
in Nutzerkommentaren ist die einer Parteilichkeit
aufgrund zu großer Eliten-Nähe
• Sinnfällig im Buchtitel „Wie Politiker, Geheimdienste
und Hochfinanz Deutschlands Massenmedien lenken“
(Kopp 2014) – 120.000 verkaufte Ex. in 6 Monaten
• „Die Idee einer Medienverschwörung – die ideologisch
verschärfte Spielform einer ohnehin verbreiteten
Medienverdrossenheit – ist momentan schwer in Mode.
[…] Ein drohender Dialog- und Kommunikationsinfarkt
wird hier sichtbar, der einer offenen Gesellschaft
gefährlich werden kann.“ (Pörksen 2015: 72)
5. Seite 5
1. Einleitung
2. Begriffe und These
3. Beispiele: Panama Papers, Charlie Hebdo, Lichterkette
4. Auswege
Gliederung
6. Seite 6
Definition Verschwörungstheorie
• „Erzählungen von einem sichtbaren und einem unsichtbaren,
‚geheimen‘ Plot, wobei der unsichtbare Plot erst im sichtbaren
Plot beziehungsweise dessen ‚Defekten‘ lesbar wird.
Grundlegend ist dabei, dass Verschwörungstheorien auf eine
externe Textsorte als ‚visible plot‘ verweisen, deren Rahmen
(frame) sie angreifen und durch den Rahmen ‚Verschwörung‘ zu
ersetzen suchen“ (Seidler 2016: 40f.)
• V: „das geheime Zusammenwirken einer (in der Regel
überschaubaren) Gruppe von Personen, deren Absprachen und
Handeln darauf zielen, die Ereignisse zu ihrem eigenen Vorteil
(und damit zugleich zum Nachteil der Allgemeinheit) zu
beeinflussen“ – VT: „der Versuch, (wichtige) Ereignisse als
Folge derartiger geheimer Absprachen und Aktionen zu erklären“
(Hepfer 2015: 24)
8. Seite 8
Definition „Lügenpresse“ als
Medienverschwörung
• eine heterodoxe (weil nicht von der Mehrheit der Bevölkerung
und von Politik, Universitäten und Medien geteilte)
Verschwörungsideologie, die eine Verschwörung zwischen
Journalisten und Eliten aus Politik und/oder Wirtschaft mit mehr
oder weniger totaler Reichweite (zumindest innerhalb des
nationalen Rahmens) postuliert. Journalisten haben dabei die
Rolle des Sündenbocks und Feindbildes – ihnen kann (Mit-)
Schuld für negative Entwicklungen gegeben werden.
9. Seite 9
Verschwörungstheorien als anthropologische
Konstante
• Menschen suchen permanent nach Mustern und
Wirkungszusammenhängen in ihrer Umwelt
• Einen Zusammenhang zu vermuten, wo keiner ist (falsch-
positiv) war für das Überleben förderlicher als einen
Zusammenhang zu übersehen, der existiert (falsch-negativ)
• „Wir sind dazu vorbestimmt, in der Welt Ordnung, Muster und
Sinn zu erkennen und wir finden Zufall, Chaos und
Bedeutungslosigkeit unbefriedigend.“ (Gilovic 1991: 9) hinzu
kommen psychologische Bias-Phänomene wie Confirmation
Bias, Placebo-Effekt, Selective Perception, Selective Exposure,
Motivated Reasoning oder Clustering-Illusion
10. Seite 10
Verschwörungstheorien als Folge der
Aufklärung
• Nach Französischer Revolution erlaubten es V-Theorien den
reaktionären Kräften, die Ereignisse als Verschwörung von
Geheimbünden gegen Thron und Altar darzustellen
• Heilsgeschichtliches Strukturmuster wird säkularisiert:
Verschwörer nehmen den Platz Gottes als Weltenlenker ein,
und ein mechanistisches Weltbild kann im Angesicht von Chaos
und Kontingenz auch in dezentralisierten, funktional
differenzierten modernen Gesellschaften aufrechterhalten
werden
• Informationsgesellschaft mit digitalen Netzwerkmedien bietet
idealen Nährboden für die Emergenz von V-Theorien
11. Seite 11
Erklärungsansatz für „Lügenpresse“ mit
Luhmann
• Komplexitätssteigerung des sozialen Systems „Gesellschaft“
(als Umwelt für das Funktions- bzw. Leistungssystem
Journalismus) hat für den Journalismus eine doppelte Wirkung:
• 1.) Konfrontation mit komplexeren Gesellschaft führt zu
Steigerung der Eigenkomplexität des Journalismus
(Recherchenetzwerke, Newsrooms, Datenjournalismus, Social-
Media-Redakteure)
• 2.) Rezipienten als „Beobachter der Beobachter“ sind ihrerseits
mit dem Problem steigender Umwelt-Komplexität konfrontiert,
können aber nur bedingt mit Steigerung der Eigenkomplexität
reagieren (außer: Bildung, Nutzer-Crowd)
12. Seite 12
Hypothese
• Je stärker der Journalismus Komplexität reduziert und je
stärker seine Eigenkomplexität steigt, desto mehr
Angriffsfläche bietet er für V-Hypothesen und V-Ideologien
– v.a. für den Verdacht, es handele sich um interessengeleitete,
gelenkte Berichterstattung, also eigentlich um PR, denn:
• „Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit zielen beide auf die
Herstellung von Öffentlichkeit – und Nicht-Öffentlichkeit.
Die Entscheidung, etwas öffentlich zu machen, impliziert die
Möglichkeit, etwas nicht öffentlich zu lassen. Warum Themen
nicht-öffentlich bleiben, hat in der Öffentlichkeitsarbeit andere
Ursachen (Geheimhaltung) als im Journalismus
(Komplexitätsreduktion)“ (Löffelholz 2004: 479).
13. Seite 13
1. Einleitung
2. Begriffe und These
3. Beispiele: Panama Papers, Charlie Hebdo, Lichterkette
4. Auswege
Gliederung
14. Seite 14
Beispiel I: ICIJ-Enthüllung „Panama Papers“
(April 2016)
• Hypothese: Je stärker der Journalismus Komplexität reduziert
und je stärker seine Eigenkomplexität steigt, desto mehr
Angriffsfläche bietet er für V-Hypothesen und V-Ideologien (v.a.
für den Verdacht, es handele sich um interessengeleitete,
manipulierte, gelenkte Berichterstattung, also eigentlich um PR)
http://panamapapers.sueddeutsche.de/
15. Seite 15
Linke kritisierten, dass westliche Eliten
verschont würden
• Selektive Suche nach Namen
(UN-Sanktionen)
• Sponsoren des Center of
Public Integrity (Soros u.a.)
16. Seite 16
Süddeutsche Zeitung bringt Gegenargumente
• einige US-Zeitungen hätten im Rechercheverbund die Daten
systematisch nach US-Eliten aus Politik und Wirtschaft
abgesucht, aber ohne Erfolg – evtl. weil Reiche in den USA
aufgrund niedriger Steuersätze kaum Anreiz haben, ihr
Vermögen offshore zu verstecken (Richter 2016).
• ICIJ-Chef Gerard Ryle wird indirekt zitiert: „Soros habe sich nie
in seine Arbeit eingemischt […]. Soros wisse noch nicht
einmal genau, was seine Stiftung finanziere. Nach der
Enthüllung der LuxLeaks sei er in das Büro seiner Stiftung
marschiert und habe angeregt, das ICIJ zu finanzieren. ‚Tun wir
doch längst‘, antworteten seine Leute“ (Werner 2016).
Erklärungen verweisen auf interne Komplexität des
Recherchenetzwerks und seiner Sponsoren
17. Seite 17
Beispiel II: Trauermarsch der Staatschefs nach
Charlie Hebdo (Januar 2015)
http://www.handelsblatt.com/politik/international/terror-anschlag-auf-charlie-
hebdo-tagesschau-wettert-gegen-verschwoerung-von-paris/11227850.html
18. Seite 18
ARD aktuell bringt Argument
• Kai Gniffke (ARD aktuell): Marsch von Paris
war eine „große Geste von Millionen von
Menschen und zahlreichen Politikern“, an
der nichts auszusetzen gewesen sei.
Redaktion habe vor allem darstellen wollen,
dass viele Staatenlenker, die ansonsten
durchaus unterschiedliche Interessen
verfolgen, hier geeint marschieren.
• Viele Nutzer und sogar Journalisten fühlten sich getäuscht: keine
Distanz zur Macht, Tagesschau als Komplizin einer Inszenierung
und Erfüllungsgehilfin von Selbstdarstellungsinteressen
Komplexität von Inszenierungen in einer Mediengesellschaft
(Vorderbühne – Hinterbühne)
Foto:ARD
19. Seite 19
Beispiel III: Lichterkette für Flüchtlinge in
Berlin (Oktober 2015)
http://www.stefan-niggemeier.de
Lichterkette 2015
Lichterkette 2003
• „Junge Freiheit“:
offensichtlich
manipulativer Akt
der ARD
20. Seite 20
ARD aktuell erklärt den Fehler
Komplexität liegt in der hoch arbeitsteilig organisierten
Produktionskette des 22-sekündigen Nachrichtenfilms
21. Seite 21
1. Einleitung
2. Begriffe und These
3. Beispiele: Panama Papers, Charlie Hebdo, Lichterkette
4. Auswege
Gliederung
22. Seite 22
Transparenz ist nicht die Lösung – was dann?
• Journalismus ist verwundbar, weil er soziale Komplexität reduziert
und selbst ein komplexes soziales System darstellt
• Medial vermittelte Transparenz kann die „strukturell bedingte
Glaubwürdigkeitslücke“ (Seidler 2016: 45) nicht schließen, denn
jedes Zeichen verdeckt die Bedingungen seiner Entstehung
• Statt Erklärung von Komplexität: Persönliche Erfahrung
• Komplexität(sreduktion) im Journalismus ist eine nachgeordnete
Bedingung für die Entstehung von V-Theorien, vorrangige
Ursachen sind Gefühle von „alienation“, „powerlessness“,
„hostility“ und „being disadvantaged“ aufseiten der Nutzer (Leman
& Cinnirella 2013, Abalakina-Paap et al. 1999) politische
Repräsentationskrise ist die eigentliche Aufgabe
23. Seite 23
Literatur (1)
Abalakina-Paap, Marina, Stephan, Walter G., Craig, Traci, & Gregory, W. Larry (1999).
Beliefs in Conspiracies. Political Psychology, 20 (3), 637–647.
Anton, Andreas, Schetsche, Michael, & Walter, Michael K. (2014). Wirklichkeits-
konstruktion zwischen Orthodoxie und Heterodoxie – zur Wissenssoziologie von
Verschwörungstheorien. In dieselben (Hrsg.), Konspiration (S. 9-25). Wiesbaden: VS.
Gilovich, Thomas (1991). How we know what isn't so. The fallibility of human reason in
everyday life. New York, N.Y.: Free Press.
Hepfer, Karl (2015). Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft.
Bielefeld: transcript.
Leman, Patrick J. & Cinnirella, Marco (2013). Beliefs in conspiracy theories and the need
for cognitive closure. Frontiers in Psychology 4, 1-10.
Löffelholz, Martin (2004). Ein privilegiertes Verhältnis. Theorien zur Analyse der Inter-
Relationen von Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit. In ders. (Hrsg.), Theorien des
Journalismus. Ein diskursives Handbuch. 2. Aufl. (S. 471-485). Wiesbaden: VS.
Luhmann, Niklas (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lutter, Marc (2001). Sie kontrollieren alles! Verschwörungstheorien als Phänomen der
Postmoderne und ihre Verbreitung über das Internet. München: Ed. Fatal.
24. Seite 24
Literatur (2)
Pfahl-Traughber, Armin (2002). „Bausteine“ zu einer Theorie über „Verschwörungs-
theorien“: Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen und Ursachen. In Helmut Reinalter
(Hrsg.), Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung (S. 30-44). Innsbruck:
StudienVerlag.
Pörksen, Bernhard (2015). Der Hass der Bescheidwisser. Der Spiegel Nr. 2 vom 5.1., 72-
73, online: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-131147816.html
Prochazka, Fabian & Schweiger, Wolfgang (2016). Medienkritik online. Was
kommentierende Nutzer am Journalismus kritisieren. SCM – Studies in Communication
Media, 5(4), 454-469.
Richter, Nicolas (2016). Die Suche nach den Amerikanern im Heuhaufen. Süddeutsche
Zeitung vom 8.4., http://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/us-finanzen-die-suche-nach-
den-amerikanern-im-heuhaufen-1.2939323
Seidler, John David (2016). Die Verschwörung der Massenmedien. Bielefeld: transcript.
Werner, Kathrin (2016). Der globalisierte Journalismus. Süddeutsche Zeitung vom 12.4., S.
13, http://www.sueddeutsche.de/medien/panama-papers-das-ist-das-icij-1.2945245