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"Die Zeitsouveränität zurückgewinnen"
von Thomas Neuhold | 24. Juni 2010, 21:23

          "Ich behandle den Mailverkehr wie den Briefverkehr." Der Philosoph
          Rüdiger Safranski empfiehlt eine neue Taktung sozialer Zeitabläufe und
          geht mit gutem Beispiel voran.
          Für Rüdiger Safranski ist Zeit eine Machtfrage zwischen Politik und
          Ökonomie - Der Philosoph sieht die Notwendigkeit, die Maschinenzeit
          dem Biorhythmus anzunähern, und fordert eine Revolution der
          Zeitgestaltung

Salzburg - "Souverän ist, wer über seine eigene Zeitökonomie entscheidet."
Der deutsche Philosoph und Publizist Rüdiger Safranski plädiert, dass das
Thema Zeit auf die politische Agenda kommt. Die Dringlichkeit werde nicht
zuletzt an der Bankenkrise deutlich, so Safranski bei einem - im Rahmen der
von der Universität Salzburg veranstalteten "Salzburger Vorlesungen"
geführten - Gespräch mit Ö1-Redakteur Michael Kerbler und Standard-
Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid.
Man stehe vor einer politischen Machtfrage. Auf der einen Seite die
computergestützte Finanzwirtschaft mit Entscheidungen in
Sekundenbruchteilen; auf der anderen Seite demokratische Gesellschaften mit
dem Zeittakt langer Verhandlungen. Es sei eine politische Entscheidungsfrage:
Man müsse in die Zeitökonomie des Finanzmarktes eingreifen, damit
Finanzprozesse so organisiert werden, dass sie auf demokratische Prozesse
Rücksicht nehmen.
"Vergesellschaftung von Zeit"
Ausgangspunkt der Debatte in Salzburg war ein von Kerbler eingangs
formulierter Befund zum Thema Zeit: Immer mehr Termine und Arbeitsschritte
müssten in einer Zeiteinheit absolviert werden, immer mehr Tätigkeiten
würden gleichzeitig ausgeführt, der moderne Mensch lebe im Multitasking.
Gleichzeitig hätten im System der Beschleunigung immer mehr Menschen das
Gefühl, das Eigentliche im Leben zu versäumen. Und: Das von schwerfälligen
Entscheidungsabläufen geprägte politische System gerät gegenüber einer
global agierenden, beschleunigten Ökonomie immer mehr ins Hintertreffen.
Safranski versucht sich hier dem Phänomen grundsätzlich zu nähern: Solange
es Gesellschaften gebe, gebe es auch "die Vergesellschaftung von Zeit" , also
die Koordination von Zeitabläufen menschlicher Aktivitäten. Dieser
Vergesellschaftungsprozess sei durch die industrielle und technische
Entwicklung "so tief in die Psyche" des Einzelnen hineingetrieben, dass es
immer schwieriger werde, "ein Jenseits" dieser Vergesellschaftung zu
erreichen, ein "Außerhalb" dieses Zeitregimes wahrzunehmen. "Unser ganzes
Innenleben ist in einer Mutation begriffen."
Eine entscheidende Zäsur für Safranski ist das Erleben von Gleichzeitigkeit. Mit
den technischen Möglichkeiten für die Gleichzeitigkeit, für die
Echtzeitkommunikation sei eine menschheitsgeschichtlich einmalige Situation
entstanden. Vor 1900 wäre jedes "raumferne Ereignis" , das nicht im
unmittelbar erlebbaren Kreis geschehen ist, bereits vergangen gewesen. "Das
Erlebnis von Welt geschah in der Vergangenheitsform, wenn es ankommt." Es
habe die Möglichkeit nachzudenken gegeben. Mit der Gleichzeitigkeit sei die
Möglichkeit zur Reflexion verloren gegangen.
Familie und Arbeit
Wenn es nun wieder um die "Rückgewinnung von Zeitsouveränität" geht,
empfiehlt Safranski eine Rückbesinnung auf Historisches. Der Kampf um den
Achtstundentag oder für Feiertage sei so ein Kampf gegen die
"verdinglichenden und kapitalgestützten Prozessen der Zeitbewirtschaftung"
gewesen. Heute steht für den Philosophen die Koordinierung und Anpassung
des Biorhythmus an die Maschinenzeit auf der Tagesordnung. "In jedem von
uns lebt ja auch ein biologisches Zeitprogramm."
Ein Abstimmung von Bio- und Produktionsrhythmus wäre auch im Interesse
der Produktivität. Zu den neuen Kämpfen um die Zeitsouveränität zählt
Safranski auch die "Verknüpfung mit der gesellschaftlichen Situation" . Also:
"Wie kann man Familie und Arbeit organisieren?"
Und was kann der Einzelne beitragen, um das Zeitregime zu ändern?
Safranski: "Ich habe keinen Fernseher. Ich behandle den Mailverkehr wie den
Briefverkehr." (Thomas Neuhold, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25. Juni
2010)

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  • 1. "Die Zeitsouveränität zurückgewinnen" von Thomas Neuhold | 24. Juni 2010, 21:23 "Ich behandle den Mailverkehr wie den Briefverkehr." Der Philosoph Rüdiger Safranski empfiehlt eine neue Taktung sozialer Zeitabläufe und geht mit gutem Beispiel voran. Für Rüdiger Safranski ist Zeit eine Machtfrage zwischen Politik und Ökonomie - Der Philosoph sieht die Notwendigkeit, die Maschinenzeit dem Biorhythmus anzunähern, und fordert eine Revolution der Zeitgestaltung Salzburg - "Souverän ist, wer über seine eigene Zeitökonomie entscheidet." Der deutsche Philosoph und Publizist Rüdiger Safranski plädiert, dass das Thema Zeit auf die politische Agenda kommt. Die Dringlichkeit werde nicht zuletzt an der Bankenkrise deutlich, so Safranski bei einem - im Rahmen der von der Universität Salzburg veranstalteten "Salzburger Vorlesungen" geführten - Gespräch mit Ö1-Redakteur Michael Kerbler und Standard- Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid. Man stehe vor einer politischen Machtfrage. Auf der einen Seite die computergestützte Finanzwirtschaft mit Entscheidungen in Sekundenbruchteilen; auf der anderen Seite demokratische Gesellschaften mit dem Zeittakt langer Verhandlungen. Es sei eine politische Entscheidungsfrage: Man müsse in die Zeitökonomie des Finanzmarktes eingreifen, damit Finanzprozesse so organisiert werden, dass sie auf demokratische Prozesse Rücksicht nehmen. "Vergesellschaftung von Zeit" Ausgangspunkt der Debatte in Salzburg war ein von Kerbler eingangs formulierter Befund zum Thema Zeit: Immer mehr Termine und Arbeitsschritte müssten in einer Zeiteinheit absolviert werden, immer mehr Tätigkeiten würden gleichzeitig ausgeführt, der moderne Mensch lebe im Multitasking. Gleichzeitig hätten im System der Beschleunigung immer mehr Menschen das Gefühl, das Eigentliche im Leben zu versäumen. Und: Das von schwerfälligen Entscheidungsabläufen geprägte politische System gerät gegenüber einer global agierenden, beschleunigten Ökonomie immer mehr ins Hintertreffen. Safranski versucht sich hier dem Phänomen grundsätzlich zu nähern: Solange es Gesellschaften gebe, gebe es auch "die Vergesellschaftung von Zeit" , also die Koordination von Zeitabläufen menschlicher Aktivitäten. Dieser Vergesellschaftungsprozess sei durch die industrielle und technische Entwicklung "so tief in die Psyche" des Einzelnen hineingetrieben, dass es immer schwieriger werde, "ein Jenseits" dieser Vergesellschaftung zu erreichen, ein "Außerhalb" dieses Zeitregimes wahrzunehmen. "Unser ganzes Innenleben ist in einer Mutation begriffen." Eine entscheidende Zäsur für Safranski ist das Erleben von Gleichzeitigkeit. Mit den technischen Möglichkeiten für die Gleichzeitigkeit, für die Echtzeitkommunikation sei eine menschheitsgeschichtlich einmalige Situation
  • 2. entstanden. Vor 1900 wäre jedes "raumferne Ereignis" , das nicht im unmittelbar erlebbaren Kreis geschehen ist, bereits vergangen gewesen. "Das Erlebnis von Welt geschah in der Vergangenheitsform, wenn es ankommt." Es habe die Möglichkeit nachzudenken gegeben. Mit der Gleichzeitigkeit sei die Möglichkeit zur Reflexion verloren gegangen. Familie und Arbeit Wenn es nun wieder um die "Rückgewinnung von Zeitsouveränität" geht, empfiehlt Safranski eine Rückbesinnung auf Historisches. Der Kampf um den Achtstundentag oder für Feiertage sei so ein Kampf gegen die "verdinglichenden und kapitalgestützten Prozessen der Zeitbewirtschaftung" gewesen. Heute steht für den Philosophen die Koordinierung und Anpassung des Biorhythmus an die Maschinenzeit auf der Tagesordnung. "In jedem von uns lebt ja auch ein biologisches Zeitprogramm." Ein Abstimmung von Bio- und Produktionsrhythmus wäre auch im Interesse der Produktivität. Zu den neuen Kämpfen um die Zeitsouveränität zählt Safranski auch die "Verknüpfung mit der gesellschaftlichen Situation" . Also: "Wie kann man Familie und Arbeit organisieren?" Und was kann der Einzelne beitragen, um das Zeitregime zu ändern? Safranski: "Ich habe keinen Fernseher. Ich behandle den Mailverkehr wie den Briefverkehr." (Thomas Neuhold, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25. Juni 2010)