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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7
3. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
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4. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
Benja Thieme
Reiz und Elend
der cremefarbenen Couch
Therapiegeschichte einer Essstörung
Vandenhoeck & Ruprecht
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5. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
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6. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
Inhalt
Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Hirtberg schweigt. Nicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Begegnung mit dem Zensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Das ist jetzt erst mal so . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Empathie und Entlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Ein Teil des roten Fadens: Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Misshandlung und Verhöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Möglichkeit zum Veto? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Scampi-Pfanne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Stabilität in der Verlorenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Ganz nackt – einfach so . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Sie müssen nicht sofort handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Herzausreißer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Experiment www . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Verwaiste Sehnsüchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Ambivalenzprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Versuch zu reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Vielfalt und Reichtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
Reiz und Elend der cremefarbenen Couch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Noch mehr Weib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
Verheddert in der Themenlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
Doch nur ein Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
Realitäten wie Sand am Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
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7. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Es ist nicht gut, dass ich da bin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Das letzte Jahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
Umzug, Stagnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
Mehr und mehr auf mich allein gestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Es geht um soziale Beziehungen, Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
Ambivalenz als Tor zur Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
Assoziationen und Einfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Die Katze beißt sich in den Schwanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
Dazwischen, Zwischenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Können wir jetzt mit der Analyse beginnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Der Weg zurück in die Realität oder: Verzahnung der Welten . . . . . . . . . . . . 354
Traumkäfig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Irrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
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8. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
Prolog
S ich einer psychoanalytischen Behandlung zu unterziehen, ist das eine; diese Behand-
lung und deren Auswirkungen zu dokumentieren, das andere. Die Entscheidung,
den analytischen Prozess schreibend zu begleiten, fiel unmittelbar nach der ersten
Begegnung mit Max Hirtberg, meinem Analytiker. Das war im Spätsommer 2005. Die
Datei trug den Namen Das-ist-jetzt-erst-mal-so.doc und stand in der Tradition einer
Reihe älterer Dateien, die ich über die Jahre angelegt und denen ich die Aufgabe eines
Tagebuches zugewiesen hatte. Zunächst ging es um nicht mehr als das stichwortartige
Notieren von Gedanken, wurzelnd in dem Bedürfnis, jederzeit nachvollziehen zu
können, ob, und wenn ja, welche Wirkung unsere Gespräche haben würden.
Der skizzenhafte Charakter meiner Notizen änderte sich, als ich dazu überging,
Hirtbergs Schlüsselsätze wörtlich zu zitieren, weil sie sich wie Mantren in meinem
Kopf einnisteten. Bis heute sind diese Sätze für mich von übergeordneter Bedeutung.
Langsam, aber kontinuierlich geriet das Schreiben zu einem konstitutiven Element
der Therapie. Dies nicht zuletzt, weil es immer wieder Dinge gab, die, so sehr sie nach
außen drängten, mir unaussprechlich, in ihrer vermeintlichen Unaussprechlichkeit
jedoch zu wichtig schienen, um sie zu verschweigen. So ward das Unaussprechliche
präzise beschrieben und hernach Hirtberg zur Lektüre angedient oder auch ihm
vorgetragen.
Nach etwas mehr als einem Jahr – oder gut einhundert Stunden – drohten meine
Notizen ihren zwar liederlichen, aber doch konsequent protokollierenden Charakter
zu verlieren und zu verwässern, womit die Realisation der Idee bedroht war, Hirt-
berg zum Abschluss der Analyse ein möglichst authentisches Verlaufsdokument zu
übereignen. In dieser Phase dominierte Unlust, was meine Besuche bei Hirtberg, der
Eindruck von Stagnation, was die Behandlung betraf – mit der Konsequenz, dass
es ein Höchstmaß an Überwindung und Disziplin bedurfte, wenigstens zwei, drei
Sätze festzuhalten.
Im Sommer 2008 bewilligte die Krankenkasse die letzten sechzig Stunden, womit
mir die Endlichkeit der Therapie drastisch vor Augen geführt wurde. In diesem
letzten Jahr nahm das Schreiben eine neue Dimension an und wurde zu einer glei-
chermaßen faszinierenden Begegnung wie irritierenden Auseinandersetzung mit dem
bisher Geschehenen. Um Übersichtlichkeit bemüht, begann ich, meine Notizen zu
gliedern und systematisch mit Zwischenüberschriften zu versehen. Und dann habe
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9. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
ich gestrichen, gerungen, geschludert, geflucht und gesucht, gespeichert, gelöscht,
dokumentiert, rekonstruiert, korrigiert, ja, auch gelacht. Über Hirtberg, über mich.
Parallel dazu lief die Behandlung weiter, fand also jener Prozess seine Fortsetzung,
der dazu geführt hatte, dass mein Symptom, die anorektische Bulimie, beinahe zur
Gänze von einem Leben abgelöst worden war, in dem die zwanghafte Beschäftigung
mit Körpergewicht und Kalorien einer Verschiebung der Prioritäten zu Gunsten einer
zunehmenden Wachsamkeit gegenüber sozialen und beruflichen Fragen gewichen
war. Daran gewöhnt, kunstwissenschaftliche Fachtexte zu publizieren, erlaubte ich
mir nun die tollkühne Idee, an eine Veröffentlichung der ganzen Angelegenheit zu
denken. Das Schreiben oder besser gesagt: die Arbeit am Text wurde beinahe zum
Lebensmittelpunkt, geriet zu einer Parallelwelt, in die ich mich zurückziehen, in
der ich schwelgen konnte und in der ich mich bisweilen auch verlor. Systematisch,
ja geradezu besessen eignete ich mir »das alles« noch mal an, wie Hirtberg sich aus-
drückte, packte »einen Rucksack für später, wenn das hier« beendet sein würde. Ich
bereitete nach – und mich gleichzeitig vor, ich materialisierte, verband mich mit
Erkenntnissen, Inhalten, Wünschen und Träumen.
Nicht nur retrospektiv, sondern auch im Erleben war diese Zeit aus zwei Gründen
die intensivste der vier Jahre umspannenden Behandlung: Erstens rekapitulierte ich
das Vergangene, betrachtete es aus einem anderen Blickwinkel. Zweitens befand ich
mich nun in einem Stadium, in dem es weniger um die Beseitigung eines Symptoms,
sondern vielmehr darum ging, mit dem Damoklesschwert des absehbaren Abschlusses
der Analyse fertig zu werden, mit dem Ausstieg aus dieser Welt, die mir allein gehörte,
mit dem Abschied von meinem Bündnispartner. Das spiegelt sich in den letzten
Kapiteln, in denen die Grund- oder Ausgangsproblematik von der Beschäftigung mit
dem Ende überlagert wird, mit der Lösung von Max Hirtberg, den ich idealisierte
wie einstmals Polyklet Doryphoros: bewusste Entscheidung einerseits, Resultat der
Gegebenheiten andererseits, skizziert und geformt nach seinen Vorgaben im Rahmen
der Behandlung, dieser Schnittmenge unserer Welten, dem Mikrokosmos, in dem
wir uns begegnet sind.
Was ich meinem Bündnispartner zur dreihundertelften Stunde am 23. Dezember
2009 überreichen konnte, war kein objektiver, geschweige denn seinem Wesen nach
wissenschaftlicher Bericht, kein Fachtext. Weder einer, der sich mit der Psychoanalyse
als geeigneter oder ungeeigneter Therapieform bei Essstörungen, noch einer, der
sich mit Essstörungen und ihrer Therapierbarkeit befasst – nicht mal einer, der eine
ideale Analyse, falls es sie gibt, beschreibt. Es war das Manuskript zu diesem Buch,
das andere ermutigen soll, die Reise zum eigenen Ich anzutreten, eine subjektive, in
ihrer Subjektivität jedoch absolut authentische Reflexion eines, ja, ich möchte sagen:
belebenden Erkenntnisprozesses.
Max Hirtberg möge die Niederschrift dieser Geschichte meiner – unserer – Ana-
lyse vor allem als Dank begreifen, als Anerkennung und als »Liebeserklärung an die
Psychoanalyse«. Die zurückliegenden Jahre waren, was meine bewusste Persönlich-
keitsentwicklung betrifft, zweifellos die wichtigsten, auch die effizientesten meines
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10. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
Lebens. Die Essstörung, mit der ich gekommen bin, stellt sich heute in einer Form
dar, die meine Lebensqualität nur unwesentlich beeinträchtigt. Ein Behandlungserfolg,
für den ich mehr als dankbar bin.
Dem Leser und Max Hirtberg erspare ich an dieser Stelle jeden theoretischen
Dilettantismus die Frage betreffend, ob man überhaupt jemals als »geheilt« aus einer
Analyse geht. Ein weites Feld, dass Berufenere als ich beackern. Festzuhalten gilt, dass
ich auf dem Weg bin, den hier beschriebenen Lebensabschnitt als beendet zu akzep-
tieren. Ja, ich bin auf dem Weg: ausgestattet – Fluch und Segen gleichermaßen! – mit
einem völlig unerwarteten Plus an emotionaler Erlebensfähigkeit, Kreativität und
Fantasie. Ein weiterer Behandlungserfolg. Der größte Gewinn jedoch ist, zu wissen
und zu spüren, dass die Geschichte über das in der Analyse nicht Gewesene, über
das nicht Erlebte, Erkannte, Etikettierte, Gesagte, Gedeutete noch zu schreiben ist.
Herr Hirtberg, sagen Sie jetzt nicht: »Sie gehen autonome Schritte und schauen
sich um, ob Sie zurückkommen dürfen«. Auch das: eine kostbare, gleichwohl späte
Erkenntnis. Sie haben alles – sorry: wohl das Meiste – richtig gemacht. Oder wir. Wie
sonst sollte ich mir dieser Defizite, meiner eigenen und derjenigen des analytischen
Prozesses, bewusst sein? Der Existenz dieser Defizite bin ich mir bewusst, ihre Inhalte
ins Bewusstsein zu bringen, ist Aufgabe – ja, wessen?
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11. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
Hirtberg schweigt. Nicht.
Fünfzig Minuten lang lasse ich mich in unbekannte Sphären führen, spüre weichen
Sand unter meinen bloßen, an unnachgiebigen Asphalt gewöhnten Füßen, erahne
Weite jenseits aller Mauern, Lebendigkeit jenseits der Starre. Mein angeschlagenes
Bild vom Psychotherapeuten erweist sich als korrekturbedürftig:
Hirtberg erfasst in dieser knappen Stunde mehr als alle anderen mir bekannten
Vertreter seiner Zunft zusammen. Umgeben von einer beinahe magischen Aura, einer
Mixtur aus Selbstbewusstsein, Empathie und Leichtigkeit, ist er geradezu prädesti-
niert, Grenzen der Zeit zu überschreiten, Boden zu bereiten und mein enges Korsett
behutsam zu lösen. Mit seinem Charisma, seiner Wortgewandtheit und seinem Sinn
für Situationskomik springt er direkt in mein Herz.
Die Artistin erschrickt. Viel zu dicht war unsere Verstrickung, um dieses Expe-
riment früher zu wagen, stattdessen halbherzige Kompromisse. Vor einer Analyse
hatten wir beide Angst.
»Frag deine Freundin Anna nach einem guten Therapeuten«, hatte Vincent am
Telefon geraten, als ich im April endlich genügend Mut aufbrachte, ihn zu fragen,
was ich, der Artistin überdrüssig, tun könnte. Mir ging es hundsmiserabel, erlebte
ich doch seit Wochen nicht einen einzigen Tag, an dem ich mich wie ein normaler
Mensch ernährte.
»Zentral ist meiner Einschätzung nach eine emotional klärende Behandlung«,
sagte er, »vielleicht später sogar eine Psychoanalyse, mit möglichst vielen Stunden.
Lass dich auf die Sache ein, erwarte keine schnellen Fortschritte, sei beharrlich. Ganz
gleich, was du machst: Es wird lange dauern, mehrere Jahre, und es wird teilweise sehr
schmerzhaft werden und vielleicht Änderungen im Privatleben mit sich bringen.«
Pause. Änderungen? Was für Änderungen?
»Wie du weißt, arbeite ich mit der psychosomatischen Klinik in Bad Bramstedt
zusammen. Dort kannst du eine stationäre Akutbehandlung machen«, fügte er hinzu,
er würde sich auch dafür einsetzen, dass ich schnell einen Platz bekomme.
»Vincent, wie stellst du dir das vor? Ich kann nicht einfach für ein paar Wochen
aus meinem Job raus, … obwohl … nun … ehrlich gesagt: Ich bin seit Jahrzehnten
reif für eine stationäre Behandlung … Wie lange dauert denn so was?«
Statt konkret auf meine herumgestotterte Frage nach der Dauer zu antworten, riet
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12. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
er mir von der Alternative ab, mich sofort, also ohne vorherige stationäre Behandlung,
einer Analyse auszusetzen.
»Diese Idee, Benja, entschuldige, halte ich für ineffizient. Ein Analytiker, der keine
umfassenden Erfahrungen und Ambitionen auf dem Gebiet der Essstörungen hat,
nützt vermutlich kaum etwas. Am Ende weißt du beim Adlerianer, dass du schon
immer einen Minderwertigkeitskomplex und unsinnige Kompensationsbemühungen
hattest. Ob sich das auf die Symptomatik auswirkt ist unklar. Am besten, du machst
erst mal stationär Verhaltenstherapie, damit du aus dem Teufelskreis herauskommst.
Wenn das gelingt, können wir gucken, was danach indiziert ist.«
Nicht zuletzt dank meines Hanges zum magischen Denken glaube ich an alles, was
Hilfe verspricht. Notfalls an die katholische Kirche, an eine Wallfahrt nach Lourdes,
ein purgatives Bad im Ganges oder eine Audienz bei Benedictus XVI. Allem vertraue
ich mehr als mir selbst. Innerhalb weniger Tage fiel die Entscheidung zu Gunsten der
Klinik, wobei das größte Problem darin bestand, eine Erklärung zu finden, warum
ich sechs Wochen im Job ausfallen würde.
»Sag deinen Leuten im Job, Quandt und der Königin, du hättest eine Reihe medi-
zinischer Untersuchungen durchführen lassen mit dem Ergebnis, dass dein Hausarzt
dringend zu Abklärung und Behandlung verschiedener psychosomatischer Symptome
rät. Zu diesem Zweck überweise er dich in eine Klinik in Norddeutschland. Der
Aufenthalt dort würde voraussichtlich sechs Wochen betragen. Punkt, aus.«
Der Versuch, mir Vincents diesbezüglichen Pragmatismus zu eigen zu machen, schei-
terte immerhin nicht zur Gänze; und so verbrachte ich schließlich neun Wochen in
Bad Bramstedt. Mit dem Ergebnis, am Ende zwar nicht geheilt, doch endlich reif zu
sein für die Analyse, die mir als letzte Möglichkeit noch blieb.
Vincent hatte mich gewarnt: »Der Analytiker setzt sich erst mal hin und schweigt.
Wenn’s sein muss, fünfzig Minuten lang.«
Hirtberg schweigt.
Also erzähle ich. Von der Artistin, von Vincent, von Anna, von Silzer, die mir
sämtlich, mit Ausnahme der Artistin, nahe gelegt haben, im Anschluss an die stati-
onäre Therapie weiterzumachen.
»Und Sie?« Hirtberg bricht sein Schweigen.
»Wie, ich?«
»Was wollen Sie?«
»Ach so. Ich will die Analyse, sehe in ihr den einzigen Weg zu echter Freiheit jen-
seits aller artistischen Attacken, deren Wurzeln in der Fixierung auf das Essverhalten
liegen. Das wiederum verdeckt, was wirklich ist – wie beispielsweise das vage Gefühl,
dass in der Beziehung zwischen Timo und mir etwas nicht stimmt.«
Vincent redete am Telefon von Scheidung. So weit bin ich noch lange nicht.
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13. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
Hirtberg schweigt. Nicht.
Er hört mir zu. Das ist etwas ganz anderes. Er lächelt ab und zu, erfasst präzise die
Situation einer ihm vollkommen fremden Frau, beschreibt meine Situation am Ende
unserer ersten fünfzig Minuten glasklar. An der Tür zum Sprechzimmer das Zitat von
Carl Valentin: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.«
In meiner Wohnung hocke ich auf dem Sofa. Hirtberg hockt in meinem Kopf. Und
Jurij fehlt mir. Es gibt nichts, was ich mehr wünsche, als ein paar Tage wirklich
mit ihm zusammen zu sein. Irgendwo, Paris, Moskau, New York, meinetwegen
Gelsenkirchen-Buer, mit dem, wie Vincent in Verkennung des Ruhrgebietes meint,
Wismar Ähnlichkeit habe.
Dort, in dieser pittoresken Hafenstadt, saßen wir, Vincent und ich, noch vor
wenigen Wochen, am Vortag der Entlassung aus der Klinik, bei strahlendem Son-
nenschein endlos lange am Hafenpier.
Mit diesem Erinnerungsbild fällt mir ein Gemälde von Yannik Kryzakovskiy ein,
»Hafenpier im Winter«, 1979, was wiederum meine Gedanken zu Jurij führt.
Seit langer Zeit höre ich Musik. Laut. R.E.M. Sometimes, everybody hurts, sometimes
everything is wrong, hold on, hold on …
Meine Gedanken schweifen von Jurij zurück zu Vincent, zu Hirtberg und schließ-
lich zu Timo und Loschad.
Als wir uns Anfang der 1980er Jahre kennen lernten, studierte Vincent im achten
oder neunten Semester Psychologie und stand kurz vor dem Examen. Ein bedäch-
tiger, im Gespräch insistierender Typ mit einem kaum wahrnehmbaren Flattern der
Augenlider, das er bis heute nicht verloren hat.
Ich erinnere mich an endlose Spaziergänge, er kannte sich in der Gegend um
Münster gut aus, und wir stiefelten auf dem alten Treidelpfad den Kanal entlang bis
zu einem im Wald gelegenen Moor, wo sich tote Stämme zackig in den morbiden
Winterhimmel bohrten. Wir schlenderten die Werse entlang, die sich durch die
westfälische Landschaft schlängelt, gesäumt von gelb und weiß gesprenkelten Wiesen.
Wir fuhren hinaus ins Grüne, ins Blaue, redeten und tranken draußen nur Kännchen
und ich prokelte Löcher in rot-weiß karierte Kunstfasertischtücher. Auf dem ovalen
Tablett aus Edelstahl lag ein Deckchen aus gelblichem Plastik in Häkeloptik. Vincent
führte mich in Lokale mit Regionalkolorit und urige Kneipen mit Eichentischen,
Butzenscheiben und offenem Kamin, irgendwo weit draußen zwischen Kopfweiden
und Acker, auf dessen fettglänzenden Schollen um Allerheiligen der erste Reif schim-
merte und Krähen um die Überbleibsel des Herbstes zankten.
Stundenlang saßen wir in seiner Wohnung unter dem Dach im Hause seiner Eltern,
einem ziemlich spießigen Einfamilienhaus in guter Gegend mit Ligusterhecken, Mag-
nolienbäumen, Rhododendren und Garagenzufahrten aus Waschbeton. Er erzählte
von Milton Erickson, Helm Stierlin, Jürgen Habermas, Humberto Maturana, Jürgen
Kriz oder Paul Watzlawick. Selten besuchte Vincent mich in meinem Appartement,
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14. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
das im Süden der Stadt lag. Meistens lag ich rücklings platt auf seinem Teppich und
ließ psychologische Experimente zu, ließ mich faszinieren und in andere Welten tra-
gen von seinen Geschichten, die er mit seiner sanften, bisweilen etwas hellen Stimme
erzählte, um die Imagination zu steuern.
Nach der Studienzeit verloren wir uns. Es hatte ihn in den Osten Deutschlands
verschlagen, rund achthundert Kilometer von Assgart entfernt, meinem Empfinden
nach eine schier unüberwindliche geografische Distanz. Innerlich schloss ich mit
ihm, mit unserer Freundschaft ab. Nicht weil mir Vincent gleichgültig geworden
oder ich seiner überdrüssig geworden war: Es war die Resignation vor dem Raum.
An diesem abgelegenen Ort schien Vincent nicht greifbar, nicht einmal im Notfall.
Mit dieser – bei genauerer Betrachtung, der ich mich jedoch verweigerte – schmerz-
haften Erkenntnis arrangierte ich mich und verfolgte zielstrebig meinen Weg der
Unberührbarkeit. Ich schob Gedanken und Gefühle in die Rubrik Vergangenheit
und schnürte mein Korsett noch etwas enger.
Für welchen der Analytiker, die ich parallel in probatorischen Sitzungen besuche, ich
mich entscheiden werde, ist nur scheinbar offen. Nehmen würden mich alle drei. Ob
das als Kompliment aufzufassen ist, sei dahingestellt.
Achterbach ist überhaupt nicht auf meiner Wellenlänge. Seine Praxis befindet sich
im Dachgeschoß, ist folglich mit Schrägen ausgestattet, die dem Ganzen einen sehr
engen Rahmen geben. Dieser Eindruck wird durch eine gewisse Makramee-Ästhetik
gesteigert, die nicht nur das Ambiente, sondern in subtiler Art und Weise den ganzen
Mann umspannt.
Der zweite, Hassler, ein soignierter älterer Herr, wirkt sehr akademisch, sensibel,
fein und klassisch analytisch. Bei beiden Kandidaten tendiert die Gefahr, mich zu
verlieben, gegen null.
Hirtberg, der dritte, ist nur wenig älter als ich und so faszinierend, dass ich spä-
testens am Ende der ersten Begegnung fürchte, meine Gefühle nicht dauerhaft unter
Kontrolle zu haben. Er ist frech, direkt und unkonventionell.
Ich denke über kaum etwas anderes nach als über die Frage, in wessen Hände ich
mein Schicksal legen soll. Das Gefühl zieht mich zu Hirtberg, der Kopf treibt mich
zu dem feinsinnigen Akademiker. Zu Hassler. Soll ich mich auf mein Bauchgefühl
verlassen, wo ich doch mit dem Bauch so große Probleme habe? Gerade mit dem
Bauch – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. In ihm ist beides: Angst und Mut.
Leere und Fülle. Beides ist unangenehm. Ein ausgeglichener Zustand ist mir fremd.
Mit Hassler rede ich über Kreativität, über das Malen und Schreiben, erzähle von
Jurij und der Artistin. Er fragt nach Träumen, ja sicher, die gibt es! Ich sehe Bilder,
nicht Szenen, was ihm einleuchtet: Bilder ließen sich kontrollieren, Handlungen
und Szenen weniger. Ganz knapp thematisiert er Religiosität und Glauben. Es ginge
künftig um Sinnfragen, sagt er, und darum, das Chaos in mir zu lichten. Einver-
standen. Ich will weg von Egozentrik hin zu Übergeordnetem. Nach der dritten
probatorischen Sitzung bei dem schöngeistigen Akademiker geht dieser wohl davon
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15. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
aus, dass ich mich für ihn entscheiden werde. Er – im Gegensatz zu diesem dreisten
Hirtberg – fragt nicht nach den Kollegen, die ich aufsuche, obwohl ich auch ihm
gegenüber kein Geheimnis daraus mache.
Hirtberg hingegen erkundigt sich unverblümt nach den Namen, die ich ihm,
wenngleich widerstrebend, nenne, um es dann doch in Ordnung zu finden.
Hassler, der Feinsinnige, spricht schnell über organisatorische und wirtschaftli-
che Eckdaten: Frequenz drei Mal pro Woche, etwa drei Jahre lang, wobei es immer
schwierig sei, das Ende zu finden. Um kassentechnisch Luft zu schaffen, schlägt er
vor, dass ich eine Sitzung pro Woche privat bezahle – was ich mir zwar leisten kann,
aber auch nicht ohne Weiteres. Die Idee an sich finde ich zwar befremdlich, aber
nicht dumm: Ein solches Vorgehen würde ja angesichts der Kassenleistungen, die
naturgemäß begrenzt sind, zeitlichen Spielraum schaffen. Er klärt mich auf über die
Handhabung von Urlaubszeiten und Ausfallstunden, wobei er immerhin die Kulanz
einräumt, dass unverschuldet versäumte Stunden – etwa bei Beinbruch oder Herz-
infarkt – nicht von mir bezahlt werden müssten. An seiner Praxis komme ich jeden
Tag mindestens zwei Mal vorbei.
Hirtbergs Praxis liegt im Süden der Stadt. Der Weg ist etwas weit, Parkplatzpro-
bleme sind vorprogrammiert. Hirtberg schlägt einen Rahmen von zwischen ein- bis
dreimal pro Woche vor, je nach Bedarf. Honorare und Kassenleistungen thematisiert
er gar nicht.
»Ach, die Kassen …« Wegwerfende Handbewegung.
Interessiert indes zeigt er sich an den Inhalten der Gespräche mit dem Feinsinnigen.
Er ist nicht nur unverschämt und selbstsicher, sondern auch unverblümt neugierig.
Er interessiert sich für das Wesentliche.
Völlig durcheinander, weiß ich bald nicht mehr, was ich wem erzählt habe, geschweige
denn, zu wem ich will. Anna hilft mir bei der Entscheidung, indem sie schlicht fest-
stellt, Hirtberg hätte angebissen, wenn er mir schon weitere Termine gegeben hätte.
»Außerdem, Benja, nimm es mir nicht übel, aber du hast dich schon jetzt ein
wenig in deinen künftigen Analytiker verguckt.«
Anna, ihres Zeichens Kinder- und Jugendanalytikerin, ist sehr direkt.
»Nach gerade Mal vier Sitzungen? Du spinnst doch. Wie kommst du darauf?«
Meine Entrüstung fällt etwas dünn aus. »Noch leide ich nicht, liebe Anna. Und
solange ich nicht leide, bin ich nicht verliebt.«
Was ich für mich behalte: Genau vor dem Leiden, dieser unendlichen Sehnsucht,
habe ich panische Angst. Ich will das nicht. Kann man nicht irgendwie vorher die
Notbremse ziehen? Bevor das Ganze in einer emotionalen Katastrophe endet? Anders
gefragt: Was reizt mich an der emotionalen Katastrophe? Dass sie mich reizt, kann
ich selbst vor mir nicht verbergen.
»Wie ist es Ihnen denn nach der letzten Stunde ergangen?«, fragt der Freche.
»Nun, bereits in der zweiten Stunde fragten Sie, wie es mir nach der ersten Stunde
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ergangen ist. Meine Antwort war unvollständig, ich kam nicht auf den Punkt. Des-
halb habe ich jetzt diese Karteikarte dabei, auf der ich notiert habe, was unter allen
Umständen zur Sprache kommen muss.«
»Und das wäre?«
»Beispielsweise eine Frage, die ich mir eigentlich selbst beantworten könnte …
Nun, ich bin unsicher«, druckse ich herum, »also: Wie offen darf oder soll ich sein?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, lasse ich ihn wissen, dass ich mich bereits bei
unserer ersten Begegnung verstanden fühlte, mehr noch: in gewisser Weise durch-
schaut.
»Vor allem, als ich auf das Thema Alkohol zu sprechen kam?«
»Ja. Ehrlich gesagt fasziniert mich Ihre Art, Ihre Unverblümtheit, Ihre Ironie und
Ihr Humor – was mich, wie Sie wissen, nicht davon abgehalten hat, einige Ihrer
Kollegen zu konsultieren.«
Mutig entschließe ich mich zu schonungsloser Offenheit, gestehe, dass ich diese
Faszination als riskant und bedrohlich empfinde, um sodann, gleichsam relativierend
hinzuzusetzen, dass natürlich diese Faszination vermutlich nicht allein seiner Person
gilt …
»Keine Ahnung«, plappere ich weiter, »ob Sie, Hirtberg, etwas erwarten oder
nicht. Ich habe keine Ahnung, ob Sie, bliebe ich stumm, tatsächlich fünfzig Minuten
schweigen würden. Das ist unfair: Sie sind Profi – im Schweigen und Aushalten.
Können Sie mir nicht wenigstens sagen, ob Sie etwas erwarten, und wenn ja, was?«
Die ganze Situation macht mich extrem verlegen, und ich fürchte, dauerte sein
Schweigen auch nur eine Minute länger, dass ich kommentarlos den Raum verlassen
würde.
»Was bezwecken Sie damit? Sie müssen doch merken, dass mir das unangenehm
ist. Noch etwas: Sie fragten, ob die Symptomatik nach den Besuchen bei Ihnen oder
Hassler intensiver oder in zeitlichem Zusammenhang aufträte, was ich verneinte.
Warum? Weil mir die Courage fehlte, zuzugeben, dass dem so ist … Es wird immer
extrem schwierig sein, über diese Sache zu sprechen. Es ist wichtig, dass Sie verstehen:
Es ist der peinlichste, der delikateste Punkt in meinem Leben – dicht gefolgt von
Sex. Alkohol und Medikamente – Sie fragten nach der Quantität: Glauben Sie mir
nicht? Ich bin clean.«
Seine Mimik studierend frage ich mich, warum er auf dem Bild im Internet jün-
ger aussieht als in Wirklichkeit, mit dem vorläufigen Ergebnis, dass es daran liegen
wird, dass man das Foto angeschnitten hat, seine Augen und sein Lächeln damit
bildbestimmend sind.
»Ist irgendwas?«, fragt er und reißt mich aus dem Tagtraum.
Fühle mich ertappt. Darüber vergesse ich, ihn zu bitten, die Indikationen für die
Behandlung noch mal zusammenfassen. Da gibt es den Komplex um Schuld und
Scham, was war noch? Sexualität? Und mein Pferd, Loschad? Oder wie?
Tränen tropfen auf die Tastatur. Seit langer Zeit weine ich. Etwas bemüht noch, aber
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immerhin. Sehne mich zurück nach dem, was mit Timo war. Ich meine, ihn zu lieben,
begehre aber den Körper, den er früher hatte. Mir fehlt schon lange jede Lust auf Sex
mit ihm. Das einzugestehen schmerzt umso mehr, als gleichzeitig mein Inneres nach
Jurij kreischt, der anruft, um mich zu überreden, nach Brüssel zu kommen, wo er
im Musée des Beaux Arts einen Vortrag halten wird.
»Gott sei Dank, Wenja, chabe schon mehrmal angerufen, aber du warst nie zu
Chause«, brüllt er, kaum das ich mich melde, »chörrrr bitte zu, du musst kommen,
ich chabe dein Einladung, bitte komm …«
»Ach, ich weiß nicht …«
Warum sage ich nicht einfach: Jurij, du kannst mich mal?
Sehne mich, will aber hart sein, ihm heimzahlen, dass er in all den Jahren nie Zeit
und kein wirkliches Interesse an mir hatte. Vielleicht finden wir uns, eines Tages, wenn
er endlich kürzer tritt … Aber dann ist da Bernie, seine Frau, die ihn auch will, und
Timo, der mich will und den, so versuche ich mir einzureden, ich noch immer liebe.
Auf die Fahrt nach Brüssel verzichte ich und begleite stattdessen Timo zum
Geburtstag meiner Mutter, die den etwas altmodischen Namen Dietlinde trägt. Es
geht mir um ihn, Timo, nicht um meine Mutter. Nach Brüssel zieht es mich sowieso
nicht, und mich in Frack und Fummel werfen? Nein, ich will das alles nicht. Was
ich will, ist Jurij. Aber nicht um den Preis des bettelnden, kostümierten Hündchens.
Ergebnislos grübele ich, wie ich mir den Zensor, den Hirtberg ins Feld führt, konkret
vorzustellen habe. Ein Zensor, der von mir verlangt, mich so oder so oder anders
zu verhalten, der mich ständig straft, der viel zu viel und obendrein das Falsche von
mir verlangt?
Es gelingt mir nicht, den Zensor von mir abzukoppeln. Er ist ich.
Der Zensor und ich, wir sind wie siamesische Zwillinge miteinander verwachsen.
Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass wir es nicht von Geburt an,
sondern dass wir, der Zensor und ich, ursprünglich eigenständige Individuen waren.
Wessen Forderungen habe ich so internalisiert, dass ich dem Trugschluss aufsitze, es
seien meine eigenen? Sind diese Forderungen überhaupt jemals explizit formuliert
worden?
Zerrissen in der Mitte des Lebens, traurig, unglücklich. Die Artistin hat mich längst
eingeholt, was ich Vincent, mir selbst und auch Silzer, meinem Bad Bramstedter
Bezugstherapeuten, dem ich versprochen hatte, von mir hören zu lassen, nicht ver-
schweige.
Es sei der Verdienst der Verhaltenstherapie, schreibe ich ihm in einer Mail, dass
jetzt endlich ich bereit sei für die Analyse, in der ich lerne wahrzunehmen und zu
weinen, Musik zu hören und zu schreiben, statt mit Atosil Gefühle zu töten oder der
Artistin zu erlauben, Brot nachzuschieben, dass ich Loschad nach Liefem holen und
wieder reiten werde, obschon Timo vor der zeitlichen und emotionalen Belastung
warnt, die auf mich zukommen wird, weil ich ebenso wenig wie früher ertragen werde,
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dass Loschad, statt auf üppigen Weiden mit Stuten zu flirten, im Stall herumsteht
und auf mich wartet.
Was Timo betrifft, komme ich nicht umhin, mir sehr gemischte Gefühle einzuge-
stehen. Es tut weh und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, dass ich an ihm
hänge, er aber nicht mit mir redet, jedenfalls nicht richtig. Timo widersetzt sich
konsequent einer ernsthaften Auseinandersetzung. Ich erkläre mich bereit, mit ihm
wandern zu gehen – er wandert gern. Ich hasse wandern. Verlange, als Gegenleistung
sozusagen, dass er endlich kreativ wird, fordere ihn auf, sich vorzustellen, was passiert,
wenn wir uns nicht aufeinander zu bewegen: nämlich nichts.
»Lass uns im Gespräch bleiben«, sage ich. »Unsere Probleme löse ich nicht allein
mit meinem Analytiker. Mit dieser Annahme machst du es dir zu leicht.«
Timo bildet seit sechzehn Jahren ein Gegengewicht zu meinen Sehnsüchten und
innerem Aufbegehren, bewahrt mich vor Risiken, schützt mich vor dem, was sein
kann, aber nicht sein darf.
In ihm finde ich Ergänzung und Widerpart, Unterstützung und Herausforderung.
Wir geben uns Geborgenheit und Sicherheit und fühlen uns verantwortlich, einer
für den anderen.
Wir planen unser gemeinsames Alter – so mich denn die Artistin nicht vorzeitig
ins Gras zu beißen zwingt – und sorgen in gutbürgerlicher, konventionell-ehelicher
Manier vor: Timo hat ein Mehrfamilienhaus in Jena kernsarniert und gut vermietet.
Möglich, dass wir uns eines fernen Rententages in den Osten der Republik absetzen
werden. Ein hübsches Haus in attraktiver Wohnlage, erbaut zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts, Jugendstil, nachweislich und eindeutig.
Mit wachsender Begeisterung und Sinn für ökonomische und ökologische Fragen
kümmert sich Timo um Sparverträge, Geldanlagen, Zusatzrenten, Fördermittel. Wir
träumen von einer kleinen, feinen Chocolaterie oder einem intellektuell angehauchten
Café, in dem die Musik ausschließlich von Schallplatten käme und das gleichzeitig
als Galerie für möglichst abgedrehte Kunst fungieren soll. Ich jedenfalls träume. Für
Timo dann gleich mit.
Doch neben aller Freiheit und Gleichklang der Seelen brauche ich Lebendigkeit,
Flexibilität, Fantasie und Kreativität. Ich wünschte mir einen Timo, mit dem ich
schöpferisch sein würde, mit dem sich ein gemeinsames Buchprojekt realisieren, ein
Resthof restaurieren oder eine Galerie betreiben ließe. Selbst schwimmen, laufen,
kochen, stricken, was weiß ich, würde mir gefallen. Nur wandern eben nicht.
Das Wochenende habe ich für mich allein. Mit meinem kleinen Therapeuten –
Loschad – verfüge ich mich in den Liefemer Wald und erzähle ihm, wie übel die
Artistin mit mir spielt, wie sehr sie mich in ihrer Gewalt hat, dass sie nun auch noch
meinen Körper ins Visier nimmt, meinen Rachen zum Bluten bringt. Später, in der
Box, erzähle ich ihm von Hirtberg.
Loschad genießt das Rascheln trockenen Laubes und hört aufmerksam zu, ohne
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etwas zu entgegnen, mich zu unterbrechen, mir Ratschläge zu erteilen, Richtli-
nien vermitteln zu wollen. Lässt sich die Mähne kraulen und schnaubt, als ich ihn
zum Galopp auffordere, buckelt zweimal, sammelt sich dann und zieht an vor dem
Baumstamm, der, quer liegend, uns den Weg zu versperren scheint, setzt über und
ich fühle seinen Stolz, obwohl es für ihn keine große Leistung ist. Aber er ist stolz,
kann Stolz empfinden.
Im Gegensatz zu mir, die vor lauter Schuldgefühlen und innerer Unsicherheit die
positiven Aspekte in der Beziehung zu Timo nicht sieht: Er restauriert die Holzfenster
seiner Genossenschaftswohnung und ich gehe mit Loschad in den Wald. Ich male
mir in meinem neuen Kelleratelier die Artistin vom Hals.
Wo ist das Problem? Ist es Dietlindes Stimme, die sich suggestiv erkundigt, ob das
eine intakte Beziehung sei? Sind es die Stimmen der Medien, die der Psychologen
und ich weiß nicht von wem, die mich glauben machen wollen, eine Beziehung sei
nur intakt, wenn möglichst viel gemeinsam gelebt wird? Gebricht es mir an Mut und
Selbstbewusstsein, unsere Beziehung nicht als solche in Frage zu stellen, sondern sie
zu leben in eben den Zeitfenstern, die sich uns öffnen? Oder gebricht es uns an Liebe?
Mit Hirtberg lässt sich so wunderbar lachen! Sein staubtrockener Humor geht Hand
in Hand mit einem ausgeprägten Sinn für Ironie und Situationskomik – was bleibt
ihm in seinem Job auch anders übrig.
»Ich konsultiere Sie nicht, um mich zu amüsieren.«
»Vergnügen gehört nicht hierher? Wir sind ja auch nicht zum Spaß auf der Welt.
Erst die Arbeit, dann, wenn überhaupt, das Spiel.«
»Trotzdem, ich fürchte, die Sache hier nicht mit hinreichender Seriosität anzu-
gehen. Wie kann ich sicher sein, dass Sie mich und meine Sorgen und Probleme so
ernst nehmen, wie Sie mir sind?«
Mir ist es wichtig, ganz klar zu machen, dass es um eine Symptomatik geht, deren
Behebung als Resultat unserer Psychochirurgie im Mittelpunkt zu stehen hat.
»Ich möchte, Hirtberg, den Eindruck vermeiden, etwas auf die leichte Schulter zu
nehmen. Ich möchte Ernsthaftigkeit. Weder vordergründige noch tatsächliche Ver-
gnügtheit bedeutet, dass Vergnügungssucht Motivation zur Analyse ist. Ich komme
nicht mit dem Ansinnen, mich zu vergnügen!«
Vergnüge mich aber trotzdem.
Wir reden über Jurij, oder besser: Ich erzähle, dass ich ihn jahrelang entsetzlich ent-
behrte, wie ich schreien wollte und weinen, toben und mich in der Luft zerreißen.
Und wie ich, statt Letzteres zu tun, Schokolade in mich hinein stopfte, Kekse, Brot,
mich des altbewährten Verhaltensmusters bediente, Wut, Enttäuschung und Ungeduld
herunterschluckte. Während ich mich stopfend selbst betäubte, glaubte ich zu wissen,
warum ich es tat und versuchte zu spüren, wie der Schmerz unerfüllten Begehrens
der Betäubung wich.
Während Timo Pakete für den Hermes-Versand austrug, starrte ich auf den Fern-
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20. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
sehbildschirm und folge halbherzig den flimmernden Bildern aus einer besseren
Welt. Statt zu verstehen, ging ich ins Bad und entledigte mich meiner Betäubung.
Ich erzähle von einem typischen Abend, an dem ich verdrossen Mineralwasser
und eine Flasche Bier für Timo aus dem Keller holte und bei der Gelegenheit auf
meine ersten russischen Lehrbücher stieß: bebilderte Fibeln, anhand derer ich mir
autodidaktisch die Schrift und die einfachsten Redewendungen beigebracht habe.
Im Fernseher lief eine meiner Lieblingsserien, nach kaum zehn Minuten schaltete
ich den Apparat aus: Selbst trivialsten Handlungssträngen zu folgen, war ein Ding
der Unmöglichkeit. Andere Leute lösen Kreuzworträtsel oder lernen Adressverzeich-
nisse, rückwärts gelesen, auswendig, um sodann bei »Wetten, dass …?« zu brillieren.
Ich lernte Kalorientabellen auswendig und russische Vokabeln. Es ging alles viel zu
langsam, Ungeduld machte mir zu schaffen. Jahre später gab ich auf. Bis heute bin
ich der russischen Sprache nicht mächtig.
Während die Hoffnung ungebrochen war, schwand der Glaube, dass Jurij anrufen
würde, von Minute zu Minute. In diesem Gefühlscocktail aus Zorn, Enttäuschung
und Ungeduld konnte nur Arbeit helfen. Entschieden schmiss ich mich aufs Sofa,
korrigierte missmutig schlecht lesbare Druckfahnen und versuchte mich zu beruhi-
gen, indem ich mich auf die Bedeutung der Organisation besann, in deren Auftrag
immerhin ich dies tat: Sie würde mir noch viele Möglichkeiten, meine Lust auf
die Welt zu befriedigen, bieten und dem Willen, Verantwortung zu übernehmen,
Rechnung tragen.
Dass dem nie so sein würde, ahnte ich nicht.
Russland stand für eine unendliche Sehnsucht nach einem aufregenden, anderen
Leben, für Lebenslust, Unabhängigkeit, Freiheit, Erleben, stand für do what you want
wherever you want. Ich kostete jede Form von Abwechslung in vollen Zügen aus, war
ungeheuer neugierig, beobachtete das Petersburger Leben, als hätte man mir soeben
eine Augenbinde abgenommen.
Oft wünsche ich mir jemanden, der ähnlich guckt und denkt und fühlt, jemanden,
der weniger passiv, rezeptiv und konservativ ist als Timo. Jurij entspricht diesem Bild:
aktiv, mutig, kreativ, ständig unterwegs, voller Tatendrang.
Ich webte mein eigenes Netz von Vorstellungen aus kaleidoskopartigen Teilkennt-
nissen der russischen Kultur, der Lektüre von Zeitungsartikeln und Romanen. Dos-
tojewski, Nabokov, Bulgakov, Gorki. Nicht eine TV-Reportage ließ ich aus, Gerd
Ruge war deutlich präsenter, als mein Vater es je war. Meine Fantasie spazierte durch
eine mentale Tundra, die mir allein gehörte.
Die innere Anspannung sank in dem Maße, in dem ich begriff – ein Prozess
übrigens, der sich über Jahre hinzog –, wie die Geschichte zwischen diesem Russen
und mir lief: nämlich gar nicht. Ich wollte ihn nicht aus meinem Leben verbannen,
als reale Person jedoch wollte ich ihn auch nicht unbedingt.
Was ich wollte, war diese Geschichte. Ganz für mich allein. Deswegen ist es so
schwer, der Geschichte ein Ende zu setzen. Ich halte sie fest, die bittersüße Fantasie
und bewege mich frei darin herum, wann immer es mir langweilig ist. Es war mein
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Geheimnis, doch ich weiß, es war nur eines: Das Leben hält genug davon parat, ich
werde immer eines für mich finden.
Augen auf und Mund zu.
Wäre die Artistin nicht so viel früher als Jurij auf den Plan getreten, läge die Vermutung
nahe, ihre Existenz stünde in ursächlichem Zusammenhang mit Jurijs Erscheinen –
und dem damit verbundenen Gefühlschaos.
Andersherum wäre natürlich darüber zu spekulieren, ob sie sich, gleichsam frust-
riert angesichts einer Partnerschaft in vermeintlicher Totalharmonie, verzogen hätte,
wäre nicht Jurij aufs Parkett gekommen.
Dieser laienpsychologische Ansatz ist mir allerdings in seiner geballten Banalkau-
salität zu schlicht, abgesehen davon – und jetzt kommt’s – sträubt sich in mir alles,
dies zu glauben, weil es in Konsequenz bedeuten würde, einen von beiden in die
Wüste schicken zu müssen.
Übrig bliebe ich allein, die Artistin hätte auch nichts mehr zu tun.
Fakt ist: Neben Timo gab es jemanden, mit dem mich zunächst nichts als Berufliches
verband. Jurij und ich wurden zu einem guten Team, verschachern uns gegenseitig
Aufträge, realisieren Buch- und Ausstellungsprojekte und halten uns auf dem Laufen-
den über das, worüber die Szene munkelt, wobei Jurij derjenige mit dem ultimativen
Plus an mehr oder weniger aufregenden Informationen ist. Unsere persönliche Bezie-
hung bewegte sich quantitativ auf einem Level, das sich bequem verschweigen ließ.
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Begegnung mit dem Zensor
W ährend ich über den Zensor nachdenke, den abzuspalten – um zu erkennen,
wo mein Über-Ich agiert – mir partout nicht gelingen will, fällt mir auf, dass ich an
anderer Stelle bereits eine Abspaltung praktizierte: indem ich die Artistin erschuf. Der
Kampf gegen meine eigene Schöpfung hat eine neue Dimension gewonnen, besiegt
ist sie damit noch nicht. Die Artistin beobachtet mich aus dem Hinterhalt, grinst
hämisch und zwackt mir in den Hüftspeck.
Das schmerzhafteste Wort, das Hirtberg an diesem Tag gebraucht, ist Verwahrlosung.
Das Schlüsselwort ist Bestandsaufnahme. Erst mal gucken, was ist. Sein Eindruck:
Intimität gebe es zwischen Timo und mir nicht. Meiner ist anders, aber darüber
werden wir noch sprechen.
»Timo ist zu dick«, würge ich das Unsägliche hervor.
Nicht genug, dass ich mich für meine eigene vermeintliche Dickleibigkeit schäme,
ich schäme mich auch noch für die meines Partners.
»Angenommen, er wäre bis März wieder knackig und stellte dann entsprechende
Forderungen. Vielleicht wird es Ihnen gar nicht recht sein. Sie haben ein Arrange-
ment«, stellt Hirtberg sachlich fest. »Wenn Sie verrückt wären nach dem Mann und
er nach Ihnen: Sie fänden einen Weg, zusammen zu leben.«
»Wir wollen das aber nicht.«
Was wollen wir eigentlich? Ein Paar sein? Freunde? Ein erneuter Versuch, mit
Timo zu reden, ist fällig.
Mir ist alles zu viel. Tatsächlich: alles. Einerseits erschlagen von Problemen, die sich
in den verschiedenen Themenkreisen wie Partnerschaft, Sex, Job, Pferd, Kreativität
verbergen, will ich andererseits alle, am besten sofort, lösen, was Hirtberg durch seine
Gesprächsführung allerdings effektiv zu verhindern weiß: Jedes Detail gerät zum
Selbstläufer, zu einem in sich wiederum verzweigten Komplex.
Die großen Themen gehen unter. Erst mal.
»Da ist er, der innere Zensor«, triumphiert Hirtberg, »Ihre Probleme bleiben
ungelöst, Sie müssen auch hier etwas leisten, wir sind ja schließlich nicht zum Ver-
gnügen hier … eine sehr protestantische Weltsicht übrigens. Sie haben noch keinen
roten Faden.«
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Natürlich höre ich den Vorwurf: Sie haben ja immer noch keinen roten Faden!
»Meine Aussage ist wertfrei: Sie haben noch keinen roten Faden. Punkt. Nicht mehr
und nicht weniger. Ich helfe Ihnen jetzt mal: Es gibt zwei Ebenen, auf denen Sie sich
bewegen, mit denen Sie agieren. Die eine ist die des authentischen Ichs, die andere
die des Über-Ichs, die der Zensor als seine Plattform nutzt …«
»… und auf der rede ich in der zweiten Person Singular: Du hängst vor dem
Fernseher, anstatt zu malen, zu reiten, zu lesen oder sonst etwas Sinnvolles zu tun.«
»Was ist denn so sinnvoll am Malen, Lesen oder Reiten?«, fragt Hirtberg und
bringt mich damit massiv ins Schleudern.
»Weiß ich nicht … Es kommt etwas dabei heraus.«
»Was denn?«
»Nun, Lesen beispielsweise dient der Bildung – vorausgesetzt, die Lektüre ist von
entsprechendem Niveau –, Reiten der Konstitution des Pferdes, vielleicht auch meiner
eigenen … Beim Malen entsteht bekanntlich ein Bild. Das kann man im Gegensatz
zu Bildung und Körperkonstitution auch noch sehen und anfassen. Jedenfalls han-
delt es sich am Ende um eine messbare Leistung oder um ein bewertbares Produkt.
Fernzusehen indes macht dick, doof und träge, aber was erzähle ich Ihnen …«
»Das sagt der Zensor. Was sagen Sie denn dazu? Was sagt Ihr authentisches Ich?«
»Weiß ich auch nicht.«
Um nicht völlig sprachlos dazusitzen, versuche ich zu formulieren, was ich nur
schemenhaft und äußerst formlos wahrnehme: die enge Verknüpfung nämlich von
lustvollem Erleben – beispielsweise im kreativen Tun – und dem gleichzeitigen Gefühl
der Verpflichtung zum Schreiben, zum Lesen, zum Reiten und letztlich auch zum
Lieben.
»Der innere Zensor verlangt die systematische Abarbeitung eines vorgeschriebenen
Programms«, übersetzt Hirtberg mein Gestammel. »Die von Ihnen beschriebene Ver-
zahnung entspricht der Verkoppelung von Ich und Über-Ich. Ihre Über-Ich-Strenge
überlagert alles, auch das lustvolle Erleben.«
Beeindruckt von seiner klaren Sicht auf die Verhältnisse sitze ich stumm und
staunend da.
»Jetzt haben Sie den roten Faden«, sagt er und lächelt mit den Augen. »Das ist der
rote Faden, um den es immer wieder, in allen anderen Themenbereichen, gehen wird. In
unserer Begegnung projizieren Sie die Erwartungen und Anforderungen Ihres Über-Ichs
auf mich, womit Sie den Zensor externalisieren. Unter psychohygienischen Gesichts-
punkten ist das positiv: Die extrem enge Kongruenz von Ich und Über-Ich ist damit
zumindest temporär und partiell aufgehoben, wodurch es möglich wird, die Identifika-
tion des Ich mit dem Über-Ich zu hinterfragen. Projektion und Übertragung bedeutet
Entlastung des Ich, indem Sie die Forderungen des Über-Ichs als Forderungen Ihres
Gegenübers interpretieren, womit sie, die Forderungen, außerhalb Ihrer selbst sind.«
»Hmm, möglicherweise handelt es sich ja so gesehen bei dem magischen Denken
um eine erfundene und irrationale Größe außerhalb meiner selbst, um eine Art
Kontrollinstanz?«
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Wir kommen nicht mehr dazu, das Thema zu vertiefen.
»Ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen per Mail zukommen lasse, was ich über mein
magisches Denken geschrieben habe?«
»Ja. Das ist in Ordnung. Wenn es ein längerer Text ist, werde ich den Zeitaufwand
zur Lektüre als Stunde verrechnen«, fügt er hinzu und greift damit meinen Vorschlag
auf, das so zu handhaben.
Ein Fest im Stall, der Mais steht hoch und schützt, stolpernd in den Sonntag. Früh-
stück in der Sonne, dann: allein. So wohlig müde nach dem Reiten, so schwer,
so leicht – zugleich. Die Blutung, Erklärung und Markstein in der Grübelwüste.
Heiligenkalender, Gedenktage. Schwarz, kraus, rau. Krude Suche nach einer magi-
schen Legitimation für den Anfang eines selbstbestimmten Lebens: ab Neujahr …
Weihnachten, Ostern, Geburts- und Namenstag – Augen auf, es gibt doch mehr:
Allerheiligen, Pfingsten, Himmelfahrt, Fronleichnam, Geburts-, Namens-, Weltspar-,
Weltfrauen-, Weltgesundheitstag, Tag der Deutschen Einheit, Nationalfeier- und
persönliche Jahrestage, singuläre Ereignisse, die sich jähren oder ob ihres einzigar-
tigen Charakters unvergesslich sind, erster, zweiter, dritter, vierter Advent … Jeder
Feiertag verfügt über Erinnerungspotenzial und magische Kräfte, Reformationstag,
datumsgleich mit Halloween, Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag …
Zahlen, Diagramme, ja grafische Muster, die sich aus der tabellarischen Visuali-
sierung von Gedanken und Handlungen ergeben. Das Gelingen eines Tages hängt
davon ab, ob sich der Haken in der grafisch-tabellarischen Dokumentation des Ess-
verhaltens ästhetisch plausibel zu anderen Zeichen – etwa denen einer Sporteinheit –
verhält. Rote Punkte für das Blut, Haken für jeden Sieg in rhythmischem Wechsel
mit blauen Punkten für jede Niederlage. Nichts passt: weder ein Haken noch ein
Punkt und am allerwenigsten die Jeans. Je häufiger die Siege, umso zwanghafter das
verzweifelte Zerren am Netz von Absolution und Vergebung – ein Gedanke, der mir
im Schwimmbad, Bahn 68, kommt, Stöpsel im Ohr, nichts hören als den Herzschlag,
Chlor in den Augen, nichts sehen als das Blau und fühlen, auf der Haut, am Körper,
so leicht, nichts als das Wasser … Das bittersüße Spiel mit Ereignissen und Zahlen
– mentales Stützgerüst, es hält und schützt.
Obschon der Suche nach Daten und magischen Zusammenhängen extrem über-
drüssig, versuche ich zu eruieren, wie lange das genau mit der Artistin schon geht.
Weil mir der Beginn des Dilemmas nur schemenhaft in Erinnerung ist, krame ich
alte Tagebücher hervor. Doch so sehr ich mich auch mühe: Das Datum, an dem eine
Entdeckung zum Auftakt eines Jahrzehnte dauernden Martyriums geraten sollte, hat
sich aufgelöst in einer Erinnerung, die keine ist. Den Recherchen zu Folge gab es im
Sommer 1982 bereits massive Verhaltensauffälligkeiten, idealer Nährboden für eine
sich schleichend und heimtückisch entwickelnde bulimische Symptomatik.
»Waren Sie am Montag im Krankenhaus?«, erkundigt sich Hirtberg unvermittelt, so
dass ich zunächst überhaupt nicht verstehe, worauf er hinaus will.
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25. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
»Warum? Ich weiß nicht … Nein, war ich nicht.« Im Geiste prüfe ich sicherheits-
halber, ob ich wirklich nicht im Krankenhaus war. Es hätte ja sein, ich einen Filmriss
haben können …
Hirtberg hat meine Notizen tatsächlich gelesen, es darf natürlich keine Kollision
geben – darauf will er hinaus: Offiziell, also zur Abrechnung für die Krankenkasse,
hatten wir einen Termin. Auf der Couch liegt der Ausdruck, rote Schrift. Ich frage
mich, ob es von Bedeutung ist, dass er die Farbe nicht geändert hat, so wie er mich
zuvor fragte, ob es eine Bedeutung hätte, dass ich in Rot geschrieben habe.
»Sie verschaffen sich Stabilität und Sicherheit durch Ihr magisches Denken, weil
Sie sich selbst nicht vertrauen. Haben Sie heute Abend einen Essanfall?«
»Ich weiß nicht.«
»Waren Sie am Montag im Krankenhaus? Sie vertrauen sich selbst nicht.«
»Deshalb trage ich dieses magische, mentale Korsett, anderenfalls würde ich zer-
fließen, meine Grenzen würden sich auflösen. Das magische Denken hält mich,
schützt mich davor, mich komplett zu verlieren, dämpft allzu große Anspannung.«
»Achten Sie doch mal auf Ihre Atmung, wenn Sie wieder so angespannt sind, und
machen Sie sich das Atosil zunutze, das Silzer Ihnen verordnet hat.«
»Wie kommen Sie denn auf den Quatsch? Das passt überhaupt nicht zu Ihnen.«
»Was?«
Na, mir eine konkrete Handlungsanweisung zu geben, noch dazu eine, die ich
mehr als befremdlich finde. Sorry, Sie sind doch kein Verhaltenstherapeut. Na ja,
wie dem auch sei, nein, ich möchte das Zeug eigentlich nicht, weil es extrem müde
macht. Es geht nicht von jetzt auf gleich. Es ist, wie es ist. Hirtberg, mir ist das alles
zu viel, was Sie machen. Was hier geschieht, ist ein gigantischer emotional overkill.
Ich kann nicht so schnell …«
Ich fühle mich gehetzt. Hirtberg ist es nicht, der mich hetzt. Im Gegenteil. Ruhig
abwartend sieht er mich an.
»Und jetzt müssen Sie hier auch schon wieder was leisten … Wissen Sie, wann
Sie geheilt sind? Wenn Sie herkommen, sich hinsetzen und sagen: Ach, heute habe
ich gar nix Besonderes, jetzt bin ich erst mal da und das ist schön und dann sehen
wir, was es sonst noch gibt.«
Dem Universum bin ich näher als dieser Gelassenheit!
»Der innere Zensor sagt: Wenn du jetzt nicht …, dann bist du im Alter einsam,
wenn du jetzt nicht bei Timo sein willst, kannst du gleich zum Scheidungsanwalt!«
»Und dazwischen gibt es nichts?«
Ich beneide ihn um seine Fähigkeit, scheinbar komplexe Sachverhalte auf eine
geniale Art und Weise herunterzubrechen, auf das, was sie sind, nämlich oft genug
ganz simpel.
»Wie machen Sie das?«
»Ich oszilliere lediglich zwischen Identifikation und Distanz«, erklärt er. »Und: Es
geht nicht um Timo. Es geht darum, wie Sie mit Ihrem Gewissen umgehen. Vielleicht
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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7
26. Benja Thieme, Reiz und Elend der cremefarbenen Couch
betrachten Sie es erst mal, werden ruhig, identifizieren den inneren Zensor und gehen
dann adäquat mit ihm um.«
Eine interessante Strategie. Hoffentlich lerne ich im Laufe dieser Veranstaltung,
wie mit einem Zensor adäquat umzugehen ist.
»Wo ist der rote Faden geblieben?«, frage ich, als es plötzlich um meinen Umgang
mit Nahrungsmitteln geht.
»Vordergründig ist es Ihr Umgang mit Nahrungsmitteln, tatsächlich – hintergrün-
dig, wenn Sie so wollen – geht es um Fülle.«
»Allein das Wort – Nahrungsmittel – verursacht das quälende Gefühl des Vollseins.«
»Es geht nicht um physische, sondern um geistige und seelische Fülle, die sich in
Form von Gedanken, Ideen und Gefühlen ausdrückt, die im kreativen Prozess eine
Transformation erfährt und als Text oder Bild Gestalt gewinnt. Damit kann man
sich dann auseinandersetzen.«
Die sich assoziativ aufdrängende Parallele zum physiologischen Verdauungsprozess
von Nahrungsmitteln bringt mich nicht weiter. Trotzdem fühle ich mich in meiner
ganzen Abgedrehtheit auf eine sehr diffuse Art und Weise verstanden, ernst genom-
men. Hirtberg bringt mir Respekt entgegen.
Es ist etwas in Bewegung gekommen, wogt in mir und wabert wie Nebel um mich
herum. Ein Effekt von gerade mal zehn, zwölf Stunden?
»Wenn das so weitergeht, bin ich die Artistin schneller los, als mir lieb ist, und
verliere mit ihrem Verschwinden jede Legitimation, mit Ihnen zu reden.«
»Ist das nicht so ähnlich wie mit Ihrem Essverhalten? Kaum geht es ein paar Tage
gut, wissen Sie nicht mehr, worum Sie kämpfen sollen. Ihr Denken ist bestimmt vom
Ringen um Gesundheit, gleichzeitig fürchten Sie die Normalität. Sie wollen etwas,
das Sie aber doch nicht wollen.«
Noch mal: Wo ist der rote Faden geblieben?
Zu Hause setze ich mich an den Rechner und wühle mich durch Dateiverzeichnisse.
Gut organisiert und dank einer gewissen Zwanghaftigkeit finde ich mühelos das
Gesuchte. Manche Dateien sind so alt, dass ich sie erst konvertieren muss. Doch,
hier habe ich sie digital, fortgesetzte Versuche, den Hintergründen meiner Neurose
auf die Spur zu kommen. Natürlich wird das ganze Elend in der Kindheit wurzeln,
doch offenbar verfügte keiner meiner Therapeuten über geeignetes Werkzeug, um tief
genug zu graben. Was mir blieb, war Resignation auf der ganzen Linie.
Erst mal.
Noch wenige Monate bevor ich mich entschied, in die Klinik zu gehen, waren mir
die Ursachen schnuppe, die Suche zu anstrengend, die Ergebnisse zu wenig konkret.
Die Artistin fürchtete ihren Rausschmiss, riet mir von jeder wie auch immer gearteten
Therapie nachdrücklich ab und ich pflichtete ihr nur zu gern bei. Außer der Essstörung
hatte ich keine nennenswerten Probleme. Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung
konnte ich keinen Therapeuten gebrauchen, der in meinem Inneren herumbuddelt
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