3. I N H A L T 1
D I E B E N E DI K T B E U R E R G E S P R ÄC H E D E R AL L I AN Z
U M W E LT S T I F T U NG
am 06. Mai 2011 hatten zum Thema: „Die Stadt von morgen
wird durch den gebaut, der sie neu zu denken wagt.“
5 Pater Karl Geißinger, 43 Prof. Dr. Harald Welzer,
Rektor des Zentrums für Umwelt Direktor des Center for Interdisciplinary
und Kultur im Kloster Benediktbeuern, Memory Research am Kulturwissen-
Benediktbeuern schaftlichen Institut Essen
und Professor für Sozialpsychologie
9 Prof. Dr. h.c. Dieter Stolte, an der Universität St. Gallen,
Vorsitzender des Kuratoriums der Essen
Allianz Umweltstiftung,
München 51 Diskussion des Tagungsthemas
15 Dr. Lutz Spandau, 73 Impressum
Vorstand der Allianz Umweltstiftung,
München
23 Prof. Albert Speer,
Architekt, Albert Speer & Partner,
Frankfurt
31 Dr. Dieter Salomon,
Oberbürgermeister der Stadt Freiburg
im Breisgau,
Freiburg
4.
5. D I E A L L I A N Z U M W E L T S T I F T U N G 3
D I E AL L IA N Z U MW E LT ST I F TU NG : Die Benediktbeurer Gespräche.
Alljährlich treffen sich auf Einladung der
Aktiv für Mensch und Umwelt.
Allianz Umweltstiftung streitbare und neu-
gierige Geister im Kloster Benediktbeuern.
Die Benediktbeurer Gespräche sollen
den Blick weiten für die Fragestellungen
„Mitwirken an einem lebenswerten Dasein von morgen.
in der Zukunft.“ Diese Maxime für Schutz,
Pflege und Entwicklung von Natur und Leitmotiv der Benediktbeurer Gespräche ist,
Umwelt hat die Allianz Umweltstiftung in die gesellschaftliche Auseinandersetzung zu
ihrer Satzung verankert. Anlässlich ihres fördern, starre Konfrontationen aufzulösen
100-jährigen Jubiläums im Jahr 1990 über- und die umweltpolitischen Diskussionen zu
nahm die Allianz mit Gründung der Um welt- versachlichen.
stiftung in einem neuen Bereich gesell -
schaftliche Verantwortung. Mit ihrer Streitkultur haben sich die Be ne-
diktbeurer Gespräche zu einem Forum des
Bei allen Projekten bindet die Allianz kontinuierlichen Neu-, Anders- und Weiter-
Umweltstiftung den wirtschaftenden denkens entwickelt. Damit tragen sie dazu
Menschen ein. Dabei ist das wesentliche bei, den Boden für eine nachhaltige Zu kunft
Ziel aller Förderprojekte der Schutz des zu bereiten, denn die kann „in Zeiten, in
Naturhaus haltes unter Berücksichtigung denen es keine linearen Handlungsanweisun-
der wirtschaftlichen Entwicklung. gen mehr gibt, nur im kontinu ierlichen
gesellschaftlichen Lernprozess entstehen“,
Ökologisch und ökonomisch, sozial und so Dr. Lutz Spandau, Vorstand der Allianz
kulturell – jedes Projekt leistet auf seine Art Umweltstiftung.
einen Beitrag zur praktischen Umsetzung
eines aktuellen Zukunftsthemas. Denn immer „Die Stadt von morgen wird durch den gebaut,
geht es um die Idee des „Sustainable De - der sie neu zu denken wagt.“ war das Thema
vel opment“, die beispielhafte Realisierung der fünfzehnten Benediktbeurer Gespräche
nachhaltigen Wirtschaftens – also um die am 06. Mai 2011.
Förderung einer dauerhaft umweltgerechten
Entwicklung, die auch künftigen Generatio- Die Referate und aus ihnen resultierende
nen ein lebenswertes Dasein ermöglichen Schlussfolgerungen werden mit diesem
soll. Band der Schriftenreihe „Benediktbeurer
Gespräche der Allianz Umweltstiftung“
Ausgehend von der Überzeugung, dass publiziert.
grundlegende Umweltfragen nur im gesell-
schaftlichen Konsens zu lösen sind, hat die
Allianz Umweltstiftung ein unabhängiges
Diskussionsforum geschaffen.
6.
7. B E G r ü S S U N G P A T E r K A r L G E I S S I N G E r 5
„D I E S TADT V O N MO RG E N WI R D DU R C H D E N G E B AU T,
D E R S I E N E U Z U D E N K E N WAGT.“
Begrüßung durch Pater Karl Geißinger, Rektor des Zentrums
für Umwelt und Kultur im Kloster Benediktbeuern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
in meiner Eigenschaft als Leiter des Zent-
rums für Umwelt und Kultur danke ich Ihnen
allen, dass Sie heute hierher gekommen
sind, und heiße Sie ganz herzlich willkom-
men zu den traditionell von der Allianz
Umweltstiftung ausgerichteten Benediktbeurer
Gesprächen. Sie sind ein Zeichen unserer denn es gibt gewaltige Probleme zu lösen.
engen Verbundenheit und Partnerschaft, die Dabei geht es um Fragen der Infrastruktur,
sich im Laufe der letzten 15 Jahre bei vielen der Wasser- und Energieversorgung, des
gemeinsamen Aktivitäten bewährt hat. Verkehrs, der Sicherheit, des Katastrophen-
schutzes, der Versorgung der Menschen auch
„Die Stadt von morgen wird durch den in Krisensituationen, des Umweltschutzes
gebaut, der sie neu zu denken wagt“, lautet und vieles mehr. Ich meine, dass die Planer
das Motto der diesjährigen Tagung. Es weist solcher Megastädte gut daran täten, nicht
darauf hin, dass unsere moderne Welt nur nach technischen Lösungen zu suchen,
einem besonders raschen Wandel unterwor- sondern stets zugleich auch an die nicht
fen zu sein scheint. Zum ersten Mal in der rein materiellen Bedürfnisse der Menschen
Geschichte der Menschheit leben mehr zu denken, also an das, was eine Stadt im
Menschen in Städten als auf dem Land. Grunde erst lebens- und liebenswert macht.
Dieser Trend wird sich fortsetzen – vor allem
in China, Indien und den Ländern Afrikas. Das Leben von immer mehr Menschen
Ganz neue Metropolen und Megastädte wird heute bestimmt von den Folgen der
werden entstehen. So wird das Leben in der Globalisierung, der zunehmenden Mobili-
Stadt immer stärker das Leben der Menschen tät, des Konsums und der sich rasant
prägen. entwickelnden Kommunikationsmittel.
Letztere führen dazu, dass wir uns zuneh-
Es ist nicht nur wichtig, sondern auch mend in einer virtuellen Welt bewegen.
ungemein spannend, sich vorzustellen und Wir sind ständig von Menschen umgeben
darüber zu diskutieren, wie diese Städte und begegnen einander doch nicht
denn aussehen könnten, ja wie sie aussehen wirklich.
sollten. Hier sind neue Ideen, kreative
Entwürfe und mutige Impulse gefragt,
8. 6 B E G r ü S S U N G P A T E r K A r L G E I S S I N G E r
Die menschlichen Grundbedürfnisse – wird? Wie lässt sich ein gesunder Orga-
zum Beispiel nach einem Zuhause, nach nismus schaffen, der wachsen kann, ohne
Geborgenheit, nach Heimat, nach Beziehun- zu wuchern und sich selbst zu zerstören?
gen mit anderen Menschen, nach Gemein- Wie kann man neue Städte denken, wo
schaft, nach einem Lebensumfeld, das wir Menschen unterschiedlicher Kulturen und
selbst gestalten und mit bestimmen können – Religionen willkommen sind und Arme und
all diese Bedürfnisse sind bei der Planung Reiche miteinander leben können? Ist es
der neuen Städte zu berücksichtigen. möglich, Gemeinwesen zu entwickeln, die
zur Heimat werden können auch für
Werfen wir einen Blick auf das, was die entwurzelte Menschen, die offen sind für
Großstädte unserer Welt heute für viele Flüchtlinge, Vertriebene oder Gestrandete,
Menschen – für die, die in ihnen leben, und Orte, in denen Menschen nicht ausgegrenzt
für die, die sie als Touristen besuchen – werden und nicht in Gettos leben müssen,
attraktiv macht. Viele dieser Großstädte, Städte mit Herz also?
sogar wenn sie nur allzu oft auch furchtbare
Elendsviertel haben oder von trostlosen Müssen solche Städte Utopien bleiben? Ich
Trabantenstädten umgeben sind, vor allem bin sehr gespannt, welche Entwürfe, welche
aber, wenn es sich um gewachsene, nicht Impulse, welche Ideen und Fragen heute
einfach auf dem Reißbrett entworfene im Laufe dieser Benediktbeurer Gespräche
und aus dem Boden gestampfte Städte vorgestellt und diskutiert werden.
handelt, haben ein Zentrum, eine Mitte, ein
Herz. Was sie so anziehend macht, können Nochmals herzlichen Dank Ihnen, die Sie
prachtvolle Bauwerke sein – sei es ein hierher gekommen sind, und der Allianz
Schloss, eine Burg oder ein Dom – vielleicht Umweltstiftung für die Wahl dieses Themas.
auch besondere Grünanlagen wie Gärten
oder Parks: In jedem Falle sind es Orte, die Ich wünsche Ihnen allen fruchtbare Diskus-
Geschichte atmen, die einen besonderen sionen und einen spannenden Tag.
Charme, eine bezaubernde Ästhetik oder
eine Atmosphäre haben, die einen gefangen
nimmt. Solche Städte besitzen ihre eigene
Identität oder vermitteln die des Landes,
in dem sie liegen. Kurz, es sind Städte mit
einem Herz, die mehr bieten als bloß
Wohnungen, Arbeitsplätze und Einkaufs-
zentren.
Für die Planer der Megastädte der Zukunft
stellen daher gerade solche Fragen die
größte Herausforderung dar: Wo wird das
lebendige Herz der neuen Stadt sein? Wie
kann man diese so gestalten, dass sie zum
Biotop, zum Lebensraum für Menschen
9.
10.
11. B E G r ü S S U N G P r o F . D r . H . c . D I E T E r S T o L T E 9
„D I E S TADT V O N MO RG E N WI R D DU R C H D E N G E B AU T,
D E R S I E N E U Z U D E N K E N WAGT.“
Begrüßung durch Prof. Dr. h. c. Dieter Stolte, Vorsitzender des
Kuratoriums der Allianz Umweltstiftung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich zu den diesjährigen
Benediktbeurer Gesprächen der Allianz
Umweltstiftung. Sie erinnern sich vielleicht:
Im letzten Jahr haben wir an dieser Stelle den
20. Geburtstag der Allianz Umweltstiftung
gefeiert. Aber auch in diesem Jahr gibt es
ein Jubiläum: Die Benediktbeurer Gespräche Mit diesen Schwerpunkten ihrer Förder-
der Allianz Umweltstiftung finden nun tätigkeit sieht sich die Stiftung auf einem
bereits zum 15. Mal statt! guten Weg, auch in Zukunft wichtige Beiträge
zur Lösung gesellschaftlich relevanter Pro-
Anlässlich ihres 20. Geburtstages hat die bleme leisten zu können. Schließlich fühlt
Allianz Umweltstiftung eine Weiterentwick- sie sich nach wie vor gleichermaßen verant-
lung ihrer bisherigen Förderkonzeption wortlich für Natur und Umwelt in ihrer
diskutiert. Ein Expertengremium erörterte in Vielfalt wie für Mensch und Gesellschaft in
diesem Zusammenhang vor allem die Mög- unserer zunehmend globalisierten Welt.
lichkeit der Einbeziehung aktueller Probleme
und gesellschaftlich relevanter Fragen aus Ein zentrales Zukunftsthema ist die fort-
dem Umweltbereich. schreitende Verstädterung, die enorme
Zunahme sogenannter Megacities an Zahl
Ergebnis dieser Strategiegespräche war und Größe. Nicht zuletzt aus diesem Grund
sowohl die Aktualisierung bisheriger als auch wurde der Förderbereich „Leben in der
die Festlegung neuer Förderschwerpunkte der Stadt“ in das Programm der Stiftung aufge-
Allianz Umweltstiftung in den Bereichen nommen. Die Wahl des Themas der dies-
jährigen Benediktbeurer Gespräche – „Die
Umwelt- und Klimaschutz, Stadt von morgen wird durch den gebaut,
Leben in der Stadt, der sie neu zu denken wagt“ – ist Ausdruck
nachhaltige Regionalentwicklung, dieser neuen Konzeption.
Biodiversität und
Umweltkommunikation.
12. 10 B E G r ü S S U N G P r o F . D r . H . c . D I E T E r S T o L T E
Die Menschheit wächst und damit auch der Gebäude. Im Wüstensand vor den Toren
Hunger nach Bildungs- und Aufstiegschancen. Abu Dhabis entsteht unter Federführung
Immer mehr Menschen zieht es in die des Büros des britischen Stararchitekten
Städte. Megacities wirken wie gesellschaft- Norman Foster die ökologische Musterstadt
liche Magneten. Von ihnen erwarten die Masdar, die ganz ohne die Verwendung
Menschen Lösungen für ihre Probleme – oft fossiler Brennstoffe auskommen soll. „Die
nicht ahnend, dass sie die alten nur gegen Stadt“, schreibt Hanno Reuterberg in seinem
neue eintauschen. bemerkenswerten Artikel „Die andere
Revolution“ in der ZEIT vom 24.02.2011,
Seit 2007 leben auf unserem Globus mehr „will die Welt nicht allein durch Forschung
Menschen in Städten als in ländlichen und Technik retten, sie möchte den Men-
Gebieten. UN-Prognosen zufolge wird sich schen auch neue Gewohnheiten nahe-
die Verstädterung fortsetzen. Gleichzeitig bringen. […]
verschieben sich die demographischen
Gewichte: Während die Bevölkerung in fast Während in Deutschland Moderne und
allen Industriestaaten schrumpft, wächst sie Tradition gern gegeneinander ausgespielt
in Schwellen- und Entwicklungsländern. werden, finden sie hier mit erstaunlicher
Dieser Trend bedeutet weltweit eine große Selbstverständlichkeit zusammen. […]
Herausforderung für Politiker und Städte- Die Zukunft ist nicht futuristisch. Sie lernt
planer. Kofi Annan, der ehemalige UN-Gene- aus der Geschichte.“
ralsekretär, hat sogar von einem „Jahrtausend
der Städte“ gesprochen. Zunehmend ent- Anders in Südkorea. In der Nähe von
scheiden sich die Menschen gegen ein Leben Seoul wird mit einem Mammutprojekt die
auf dem Land und für ein Leben in der Stadt: „Stadt der Städte“ gebaut, ein modernes
Sie ziehen dorthin, wo sie sich Wohlstand Utopia auf dem Wattenmeer durch Auf-
und eine bessere Zukunft erhoffen. schüttung von Erdreich abgerungenem Land:
New Songdo City. Aber auch in China setzt
Unter welchen Voraussetzungen sind man noch auf städtebauliche Gigantomanie,
diese Hoffnungen berechtigt? Wie müssen wie die Millionenstadt Chongqing zeigt,
die neuen Städte aussehen, damit sie sich in der Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden
erfüllen? schießen und Zehntausende von Wander-
arbeitern ihr Glück suchen.
Die Ballungszentren – schon heute gibt
es mehr als 130 Städte mit über drei Es fällt allerdings schwer zu glauben,
Millionen Einwohnern – verbrauchen etwa dass die Zukunft der Menschheit von einem
80 Prozent der weltweit verfügbaren Ressour- Leben in Städten geprägt sein soll, die
cen. Städte wie New York, London, Oslo, komplett auf dem Reißbrett entstanden
Vancouver oder München arbeiten bereits sind.
an Plänen zum Bau kombinierter Wohn- und
Arbeitsviertel, zur Reduzierung des Verkehrs
und zur Errichtung energieoptimierter
13.
14. 12 B E G r ü S S U N G P r o F . D r . H . c . D I E T E r S T o L T E
Was eine Stadt im eigentlichen Sinne Wie der chinesische Politiker Deng Xiaoping
ausmacht, ist schließlich ihr ureigener, einmal gesagt hat, kommt es stets darauf
mindestens über Jahrzehnte, meist sogar an, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen.
über Jahrhunderte gewachsener Charakter Dies sollten auch wir tun bei der Beschäfti-
und ihre Geschichte, die nicht nur im gung mit den Fragen, die sich uns stellen,
Stadtbild, sondern auch in der Vielfalt ihrer wenn wir über das Thema unserer heutigen
Bewohner zum Ausdruck kommt. Veranstaltung diskutieren:
Vielen Großstädten droht heute eine Wie werden wir in den „Städten der
soziale Spaltung. Und das gilt nicht nur für Zukunft“ wohnen, leben und arbeiten?
die Megacities Afrikas, Asiens und Süd-
amerikas mit ihren unkontrolliert wuchern- Welche ökonomischen, ökologischen und
den Slums. Auch in Europa gilt es zu sozialen Gesichtspunkte werden bei der
verhindern, dass die Städte zunehmend in Entwicklung und Gestaltung der Städte
ein lebendiges Zentrum und eine trostlose eine Rolle spielen?
Peripherie zerfallen. Es ist eine wichtige
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich die Wie lässt sich die zunehmende Verstädte-
Infrastruktur einer Stadt entsprechend den rung steuern, damit die „Stadt der Zukunft“
Bedürfnissen ihrer Bewohner entwickelt. gestaltbar bleibt?
Dafür aber bedarf es neuer Mobilitäts-
konzepte, bei denen es nicht nur darum Welche Folgen hat der demographische
gehen darf, möglichst viel Mobilität zu Wandel für die Städte?
ermöglichen, sondern auch um die Frage
gehen muss, wieviel Mobilität mit welchen Wie kann man Städte vor Katastrophen
Verkehrsmitteln eine moderne Stadt über- schützen?
haupt braucht.
Auf diese und viele andere essentielle
Städte verursachen massive Umwelt- Fragen gilt es Antworten zu finden. Allerdings
probleme: Sie breiten sich immer weiter aus, wird wohl keine Antwort umfassend oder
verbrauchen enorme Mengen an Wasser und gar endgültig sein können. Aber wir können –
Nahrungsmitteln, verpesten die Luft und gleichsam Mosaiksteine aneinanderfügend –
produzieren Unmengen Müll. Städte produ- allmählich ein Bild von der Stadt der Zukunft
zieren einen sehr großen Teil der weltweiten entstehen lassen. Und wenn uns das heute
Gesamtemission von Treibhausgasen und noch nicht gelingt, dann vielleicht morgen …
sind damit wesentlich mitverantwortlich für oder übermorgen.
den Klimawandel.
Ich freue mich, in unserem Kreis hervor-
ragende Fachleute begrüßen zu können, die
uns die vielfältigen Aspekte unseres neuen,
hochaktuellen Themas erläutern werden:
15. 13
Herr Professor Albert Speer, international diese stetig weiterentwickeln. In diesem
renommierter Architekt und Stadtplaner Sinne möchte ich den Salesianern Don
mit Projekten u.a. in Dschidda, Shanghai Boscos für die langjährige Zusammenarbeit
und Moskau, danken und gleichzeitig zusichern, dass
wir sie auch in Zukunft tatkräftig unterstüt-
Herr Dr. Dieter Salomon, Oberbürger- zen werden.
meister von Freiburg im Breisgau,
Bündnis 90/Die Grünen, Meine Damen und Herren, ich wünsche
uns allen ergiebige und interessante
Prof. Dr. Harald Welzer vom Kulturwissen- Benediktbeurer Gespräche 2011 mit leben-
schaftlichen Institut Essen, digen Diskussionen.
Herr Gerhard Matzig, im Feuilleton Ich darf jetzt den Vorstand unserer
der Süddeutschen Zeitung zuständig für Umweltstiftung, Herrn Dr. Spandau, bitten,
Architektur und Stadtplanung, hat gestern in seiner bewährten Art die Leitung
aus gesundheitlichen Gründen leider der Benediktbeurer Gespräche 2011 zu
absagen müssen. Herr Dr. Spandau hat übernehmen.
jedoch buchstäblich in letzter Minute
eine interessante Lösung gefunden, die
er Ihnen später vorstellen wird.
Meine Damen und Herren, an einem Ort
wie diesem, wo manch einer wohl eher
erwarten würde, in sich gekehrten Mönchen
in dunklen Kutten zu begegnen, haben die
Salesianer Don Boscos mit dem Zentrum für
Umwelt und Kultur eine weltoffene Institution
geschaffen. Hier wird in der geistigen Aus-
einandersetzung mit Fragen der Regionalität,
Umweltbildung und Nachhaltigkeit sowie
Kunst und Kultur die Einsicht in die unauf-
lösliche Vernetzung des Menschen mit der
Schöpfung vermittelt – und dies nicht auf
belehrende Weise, sondern stets getreu dem
Motto des Klosters mit „Freude am Leben“.
Mit den 15. Benediktbeurer Gesprächen
zeigen die Allianz Umweltstiftung und das
Zentrum für Umwelt und Kultur, dass sie
kontinuierlich an ihren Zielen arbeiten und
16.
17. E I N F ü H r U N G D r . L U T Z S P A N D A U 15
„D I E S TADT V O N MO RG E N WI R D DU R C H D E N G E B AU T,
D E R S I E N E U Z U D E N K E N WAGT.“
Einführung von Dr. Lutz Spandau, Vorstand der Allianz
Umweltstiftung, München.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Wir sollten uns alle Gedanken über die
Zukunft machen, weil wir den Rest unseres
Lebens in ihr werden verbringen müssen“,
hat der amerikanische Erfinder und Philosoph
Charles F. Kettering einmal gesagt.
Wer gäbe ihm nicht recht? Wer besäße Lebens vielleicht 200 bis 300 Leute
nicht gerne eine Kristallkugel, die schon getroffen. Heute dagegen lebt und arbeitet
früh zeigt, was auf einen zukommt? zum Beispiel jeder Bewohner von New
Zum Beispiel wie unsere Städte in 15 oder York City in einem Umkreis von weniger
20 Jahren aussehen. Schließlich werden als einem Kilometer mit 20.000 Menschen
die meisten von uns einmal in ihnen leben zusammen. Wir haben uns zum Homo
müssen. urbanus entwickelt.
Das Jahr 2007 war ein Wendepunkt in Inzwischen gibt es auf der Welt 400 Städte
der Geschichte der Menschheit: Einem mit mehr als einer Million Einwohnern und
Bericht von UN-HABITAT, dem Programm 20 Städte mit über zehn Millionen. Die
der Vereinten Nationen für menschliche Zahl der Menschen, die in Städten leben, hat
Siedlungen zufolge, lebten vor vier Jahren sich seit 1950 vervierfacht. Im Jahr 2030
zum ersten Mal mehr Menschen in Städten werden voraussichtlich mehr als 60 Prozent
als auf dem Land. In Zukunft, so die Prog- der Erdbevölkerung in Städten leben. Bis
nose, wird der größte Teil der Weltbevölke- zum Jahr 2050 könnten es 75 Prozent sein.
rung in riesigen Stadtgebieten wohnen, Die Städte sind verantwortlich für 75 Prozent
die meisten davon zusammengepfercht und des weltweiten Energieverbrauchs und für
übereinandergestapelt in Megastädten, die 80 Prozent der CO 2-Emissionen.
zusammen mit ihren wild wuchernden
Vorstädten oft mehr als zehn Millionen Ein- Die am schnellsten wachsenden Städte
wohner zählen. Dies ist ein neues Phäno- liegen in Indien, China und im südlichen
men. Noch vor 200 Jahren hat der durch- Afrika.
schnittliche Erdenbürger im Laufe seines
18. 16 E I N F ü H r U N G D r . L U T Z S P A N D A U
Schätzungsweise einer von drei Stadt- sowie Freizeit- und Einkaufszentren auf
bewohnern, insgesamt also rund eine Mil- der grünen Wiese wucherten die Städte an
liarde Menschen, lebt in Slums aus schlecht ihren Rändern ins Umland. Die bereits 1933
gebauten Hütten oder Häusern mit unzu- verabschiedete „Charta von Athen“ des
reichender Trinkwasserversorgung und pre- einflussreichen schweizerisch-französischen
kärer Sicherheitslage. Architekten Le Corbusier, mit der dieser
die Schaffung lebenswerter Wohn- und
Gleichzeitig herrscht in vielen Städten – Arbeitsgebiete durch Trennung der verschie-
oder Stadtteilen – nie dagewesener Wohl- denen städtischen Funktionsbereiche pro-
stand mit scheinbar grenzenlosem Konsum pagierte, hatte diese Entwicklung begünstigt,
einer vom Individualismus geprägten die in den 70er Jahren des vergangenen
Gesellschaft. Niemand wird ernsthaft glau- Jahrhunderts mit dem Ideal der autogerech-
ben, dass sich der Trend zur Verstädterung ten Stadt ihren Höhepunkt erreichte. Wohnen
aufhalten oder gar umkehren ließe. Es im Grünen außerhalb der Stadt war so zum
kann daher nur darum gehen, die Urbani- Trend geworden.
sierung nachhaltig zu gestalten.
Die Folgen dieser sogenannten Suburbani-
Es versteht sich von selbst, dass die Städte sierung sind unübersehbar: hoher Flächen-
der reichen, technologisch hochentwickelten verbrauch, ständig steigendes Verkehrs-
Regionen der Welt dabei eine Vorreiterrolle aufkommen, zunehmende Umweltbelastung
übernehmen sollten. Wenn eine ökologisch und sterbende Innenstädte. Heute versucht
verträgliche, nachhaltige Urbanisierung über- man diesen Fehlentwicklungen mit den
haupt möglich ist, dann sind sie es, die neuen Leitbildern Ökologie und Nachhaltig-
zeigen könnten, wie es konkret funktionie- keit zu begegnen, wie sie sich in den 80er
ren kann. Die Städte Mitteleuropas mit ihren und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts heraus-
komplexen, manchmal auch chaotischen gebildet haben. Wieder sind die Städteplaner
Strukturen müssten als eine Art „Labor“ gefordert.
dienen, um durch beispielhafte Architektur
und eine weitsichtige Verkehrspolitik ein- Bislang ist von wirklichen Verbesserungen
schließlich neuer Mobilitätskonzepte auch nur wenig zu spüren. Noch immer sprechen
anderswo die Entwicklung der Städte positiv Experten von der aufgelösten Stadt und
zu beeinflussen. vermelden ein zunehmendes Wachstum der
Städte. Längst ist sogar von Stadt- und
Dabei scheint es mir wichtig, dass wir Metropolregionen die Rede.
uns vom traditionellen Bild der Stadt verab-
schieden. Die „richtige“ Stadt, wie wir Wird sich diese Entwicklung umkehren
sie uns noch immer vorstellen, ist ein bau- lassen? Oder werden wir die Definition des
lich verdichteter Raum innerhalb eindeutiger Begriffes Stadt neu überdenken müssen? Wie
Grenzen. Einen solchen klar abgegrenzten sieht in Zeiten weiter wuchernder Städte
Raum, der einmal als eindeutiges Kriterium und zunehmender Ressourcenknappheit die
für Urbanität gegolten hat, gibt es heute nur Stadt der Zukunft aus?
noch selten, denn mit Gewerbegebieten
19.
20. 18 E I N F ü H r U N G D r . L U T Z S P A N D A U
In einer sich ständig verändernden Welt In der Süddeutschen Zeitung vom 9. Dezem-
ist es notwendig, das „Modell Stadt“ ber 2010 schrieb Gerhard Matzig unter der
fortzuentwickeln. Dabei gilt es, die Balance Überschrift „Kathedralen für das Übermor-
zu finden zwischen Wirtschaftswachstum genland“ über Prof. Speer: „Albert Speer und
und Nachhaltigkeit, zwischen baulicher seine Partner sind so etwas wie das grüne
Expansion und Bewahrung des historischen Gewissen der Branche. Erst vor kurzem
Erbes, zwischen einem sprunghaften haben sie ein Manifest für nachhaltige Stadt-
Anstieg des Flächenverbrauchs und neuen planung in Buchform veröffentlicht.“ Weiter
Formen des Zusammenlebens, zwischen heißt es: „Der deutschen Ingenieurskunst,
gestiegenen Ansprüchen in Bezug auf die der man hierzulande eher misstraut, bietet
individuelle Mobilität und den Kapazitäts- man anderswo gerade dort Baugrund an, wo
grenzen der Verkehrswege, zwischen den es um anspruchvolle und zukunftsweisende
Generationen und zwischen den sich immer Architektur geht. Wenn sich die Konzepte
stärker spaltenden sozialen Gruppen. von Albert Speer und Partner z.B. in Katar als
tragfähig erweisen sollten, wird man dies
Die Zukunft der Stadt wird also vor allem vielleicht sogar in Stuttgart zur Kenntnis
davon abhängen, ob es gelingt, zu einem nehmen.“
tragfähigen Ausgleich zu kommen zwischen
diesen und vielen anderen unterschiedlichen Für Professor Speer rührt ein Hauptproblem
ökonomischen und ökologischen Interessen der europäischen Städte – besonders der
und Bedürfnissen immer komplexer werden- im zweiten Weltkrieg stark zerstörten – von
der Gesellschaften. den von Le Corbusier geprägten Planungs-
prinzipien der „funktionalen Stadt“. Sie
Ob und – wenn ja – wie dies gehen kann, hatten dazu geführt, dass in den 50er und
wollen wir mit unseren Experten disku- 60er Jahren an den Stadträndern und somit
tieren. weit entfernt von den Innenstädten, wo die
Menschen arbeiteten und einkauften,
Wir begrüßen Herrn Prof. Albert Speer, Hoch- und Reihenhaussiedlungen errichtet
ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Stadt- wurden. Das Entstehen solcher Schlafstädte
und Regionalplanung in Kaiserslautern und in den Außenbezirken war eng verbunden
Gastprofessor an der ETH Zürich. mit damaligen gesellschaftlichen Idealen, die
längst ihre Gültigkeit verloren haben, da
Das Büro Albert Speer & Partner in Frank- inzwischen auch auf dem Gebiet der Städte-
furt am Main beschäftigt mehr als 120 planung ein Paradigmenwechsel stattgefunden
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an hat. Wie sich nämlich zeigte, hat das Pendeln
Projekten in Ägypten, Aserbaidschan, China, zwischen Wohnstätte und Arbeitsplatz öko-
Katar, Russland, der Türkei und auch in nomisch wie ökologisch erhebliche negative
Deutschland arbeiten. Folgen. So kostet die individuelle Mobilität
jeden Haushalt im Durchschnitt mehr als
Prof. Speer hat zahlreiche internationale zwölf Prozent seines Nettoeinkommens – von
Auszeichnungen erhalten und Preise den Umweltschäden infolge des hohen
gewonnen. Spritverbrauchs und des damit verbundenen
CO 2-Ausstoßes ganz zu schweigen.
21. 19
Heute, so Prof. Speer, soll die Stadt der Stadtentwicklungspläne,
Zukunft dem Wunsch der Menschen gerecht
werden, am selben Ort zu wohnen und Leitpläne einschließlich Verkehrspläne,
zu arbeiten. Ihrem Bedürfnis, mit dem Nach- Lärmminderungspläne, Pläne zur
barn auf dem Markt einen Schwatz halten Entwicklung der Wirtschaft und des
zu können, anstatt auf mehrspurigen Straßen Wohnungsbaus, Jugendhilfepläne,
aneinander vorbeizurauschen, soll wieder Kulturentwicklungspläne und Klima-
stärker entsprochen werden. schutzprogramme,
Wir wollen die vier K’s – Kultur, Konsum, Flächennutzungspläne,
Kita und Kontakte – wieder mitten in der
Stadt. Bebauungspläne, Projekt- und Erschlie-
ßungspläne sowie
Lieber Herr Prof. Speer, ist die Stadt der
Zukunft ein Dorf? Wir freuen uns über Ihre städtebauliche Rahmenpläne,
Teilnahme an den Benediktbeurer Gesprä-
chen und begrüßen Sie herzlich. um nur einige wenige zu nennen.
Machen wir uns nun auf den Weg in die Herr Oberbürgermeister Dr. Salomon,
wundersame Öko-Stadt Freiburg im Breisgau: vermag eine Stadtverwaltung angesichts
Hier regieren die Grünen, Häuser drehen einer solchen Flut von Regulierungs-
sich schon seit Jahren zur Sonne und die vorgaben den Bedürfnissen ihrer Bürger
Menschen sind volkstümlich grün. In Freiburg überhaupt noch gerecht zu werden? Ist
erreichten die Grünen bei der Landtagswahl es angesichts dieser Lage nicht unausweich-
am 27. März dieses Jahres 43 Prozent. Regiert lich, dass die Bürger selbst aktiv Leitvor-
wird die Stadt seit 2002 von dem grünen stellungen für die Entwicklung ihrer Städte
Oberbürgermeister Dr. Dieter Salomon. diskutieren und entwerfen nach dem
Motto „Lebst du nur oder machst du schon
Vor seiner Wahl zum Oberbürgermeister mit?“ Ist es vor diesem Hintergrund nicht
war Dr. Salomon Abgeordneter im Landtag alles andere als ermutigend, dass „Wut-
von Baden-Württemberg und Vorsitzender bürger“ zum Wort des Jahres ernannt
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. wurde? Wie lässt sich eine Stadt unter
Dr. Salomon ist Pragmatiker. Manche sehen solchen Bedingungen in und mit unserer
in ihm gar einen grünen Technokraten. heutigen Gesellschaft noch entwickeln?
Vielleicht muss man Technokrat sein, Kurz: Haben unsere Städte überhaupt
um überhaupt noch den Überblick behalten noch eine Zukunft? Wir freuen uns,
zu können über die zahlreichen, bei der von Ihnen mehr über diese Probleme zu
Entwicklung unserer Städte zu berücksich- hören – und hoffentlich auch von den
tigenden behördlichen Vorgaben und ver- Möglichkeiten, sie zu lösen – und begrüßen
waltungstechnischen Instrumente als Sie herzlich hier in Benediktbeuern.
da sind:
22. 20 E I N F ü H r U N G D r . L U T Z S P A N D A U
Unsere Volksvertreter seien überfordert Er fordert ein Ende der aus seiner Sicht
und zu sehr mit ihrem Kampf ums politische unsäglichen Kombination aus Expertokratie
Überleben beschäftigt. Da die Kaste der und Politik. Expertokratie bedeutet für
Politiker für Idealisten und Visionäre keinen ihn, dass technokratische Planer festlegen,
Platz mehr habe, müsse der Anstoß von was notwendig ist, dies dann an die Politiker
außen kommen, von einer neuen außerparla- weitergeben, welche es nun ihrerseits auf
mentarischen Opposition – einer Art netz- gesetzgeberischem Wege durchdrücken und
unterstützten APO 2.0, meinte der Soziologe dann staunen, dass die Leute nicht wollen,
und Sozialpsychologe Prof. Dr. Harald was ihnen da vor die Nase gesetzt wird.
Welzer auf der Utopia-Konferenz im Sep-
tember 2010. Dies provoziert natürlich die Frage, wie
heute überhaupt noch Projekte realisierbar
Prof. Welzer lehrt Sozialpsychologie an sein sollen. Können Bürgerinnen und Bürger
der Universität Witten/Herdecke und leitet wirklich die Experten ersetzen? Lässt sich
am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen unter solchen Bedingungen die Stadt von
das Zentrum für interdisziplinäre Gedächtnis- morgen überhaupt entwickeln? Wie könnte
forschung. Prof. Welzer forscht, um Fragen die Planung und Entwicklung unserer Städte
zu beantworten – brisante und aktuelle durch ein Zusammenspiel von Experten,
Fragen. Letztendlich, sagt er, betreibe er ein Verwaltung und Bürgern gelingen?
Laboratorium der Gegenwart und der
Zukunft. Wir freuen uns, mit Ihnen darüber diskutieren
zu können und begrüßen Sie, Herr Prof.
Prof. Welzer sieht, dass die Bürger unserer Welzer, herzlich hier bei den Benediktbeurer
Republik in verschiedenen Bereichen Gesprächen.
dagegen zu protestieren beginnen, dass ihnen
Entscheidungen aufoktroyiert werden, die Wie Herr Prof. Stolte bereits erwähnte,
mitzutragen sie nicht bereit ist. Zu der bei hat Herr Matzig seine Teilnahme an unserer
Planungsprozessen üblichen Moderation, die Veranstaltung kurzfristig abgesagt: Einer
oft zum Ziel hat „den Bürger mitzunehmen“, Kehlkopfentzündung wegen kann er heute
bemerkte er in einem Interview über die leider nicht kommen. Ich habe also die
Auseinandersetzung um das Projekt „Stutt- Aufgabe, Ihnen – nach dem Vorbild Hannibals,
gart 21“ in der taz vom 23. Oktober 2010 der bei der Überquerung der Alpen gesagt
kritisch: „Ich zum Beispiel will von niemanden haben soll: „Entweder wir finden einen Weg
mitgenommen werden. Bürger wollen Dinge oder wir bauen einen“ – spätestens bis zum
beurteilen und Folgen von Entscheidungen Beginn der Diskussion eine Lösung zu
für ihre eigene Gegenwart und Zukunft präsentieren. Und ich verspreche Ihnen: Ich
abschätzen, das ist mehr als legitim. Die werde eine finden.
Schlussfolgerung daraus ist, dass man sie von
Anfang an partizipieren lassen muss.“ Sinngemäß vertritt Herr Matzig in verschie-
denen Beiträgen in der Süddeutschen Zeitung
folgende Thesen: „Wenn wir heute über
die Stadt von morgen diskutieren, geht es
23. 21
nicht nur um München, Garmisch und
Olympia, es geht nicht nur um den Stuttgarter
Bahnhof, den Wiederaufbau des Berliner
Stadtschlosses, die Hamburger Elbphilhar-
monie oder die Dresdener Waldschlösschen-
Brücke, und es geht auch nicht nur um
Hochhäuser und Windkraftanlagen.
Es geht um weit mehr: Es geht um Revolte,
Bürgerbegehren und die Renaissance des
Außerparlamentarischen – und damit um
einen allmählich fast gespenstisch anmutenden
modernen Widerspruchsgeist, der einer
neuen Verdrossenheit entspringt.
Was hat sich geändert? Warum stoßen
Innovationen und Visionen heute auf soviel
Ablehnung? Warum misstraut man dem
Machbaren, dem Wandel, dem Neuen?
Es ist kaum zu bezweifeln, dass Fragen
der Nachhaltigkeit inzwischen nahezu alle
anderen Themen verdrängen. Wenn wir
wegen dieser grundsätzlichen Bedenken aber
jeglicher Euphorie für andere Dinge verlustig
gehen, werden wir kaum in der Lage sein,
Lösungen für die Probleme der Zukunft zu
finden – nicht einmal für die, die wir selbst
im Glauben an die Zukunft verursacht
haben.“
Ich denke, wir dürfen uns auf ebenso
spannende wie kontroverse Diskussions-
beiträge freuen. Lassen Sie uns keine
Zeit verlieren, lassen Sie uns einsteigen in
die Benediktbeurer Gespräche der Allianz
Umweltstiftung zum Thema „Die Stadt
von morgen wird durch den gebaut, der
sie neu zu denken wagt“.
24.
25. V o r T r A G P r o F . A L B E r T S P E E r 23
„D I E S TADT V O N MO RG E N WI R D DU R C H D E N G E B AU T,
D E R S I E N E U Z U D E N K E N WAGT.“
Vortrag von Prof. Albert Speer, Architekt, Albert Speer & Partner,
Frankfurt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
zunächst möchte ich mich herzlich für die
heutige Einladung bedanken. Ich bedanke
mich bei Pater Geißinger, der in seiner
Begrüßungsansprache bereits ganz Wesent-
liches zum Thema gesagt hat, bei meinem
Freund und Weggenossen Dieter Stolte und
bei Herrn Dr. Spandau, der das Thema nologien abgelesen werden kann, ist
weit geöffnet hat, so dass es für mich nicht ein wesentliches Thema. Eben zu diesen
leicht werden wird, diese Bandbreite von Umbrüchen gehört auch das Thema des
Aspekten in den mir zur Verfügung stehen- heutigen Tages: neu denken. Genauso gehört
den 20 Minuten aufzugreifen. Es kann mir aber auch die Geschichte, die Vergangenheit
nicht umfassend gelingen, weil „die Stadt“ dazu, also das, was die Menschen früher
als Thema einfach zu groß und zu vielschich- gedacht haben. Eine der großen Herausforde-
tig ist. Wie Sie bereits wissen, sind mein rungen der heutigen Epoche ist, dass man
Büro und ich in vielen Ländern dieser Erde diese beiden Teile, Vergangenheit und sich
tätig und wir konnten dabei viele unter- rasant wandelnde Gegenwart, zusammen
schiedliche Erfahrungen sammeln. Wegen „denken“ muss.
der begrenzten Vortragszeit kann ich leider
nur einzelne Stücke dieses über Jahrzehnte Beginnen möchte ich mit einem Zitat aus
angehäuften Schatzes erörtern und nicht einem Aufsatz des bekannten deutschen
über die vielfältigen Entwicklungen reden, Hirnforschers Prof. Dr. Wolf Singer mit dem
die aktuell in der ganzen Welt stattfinden. Titel „Die Architektur des Gehirns als Modell
Ich werde mich daher auf einige wenige, für komplexe Stadtstrukturen?“ Ich habe
wesentliche Bereiche konzentrieren. mich des Öfteren mit Prof. Singer, der in
Frankfurt forscht, über dieses Thema unter-
Bei dem bisher Gesagten wurde eines halten. Er sagt, dass beide Systeme, das
bereits ganz klar: Die Menschheit befindet Gehirn und die Stadt, aus einer Vielzahl eng
sich in einer Phase rasanten Umbruchs. miteinander verknüpfter Komponenten
Die Geschwindigkeit selber, mit der sich bestehen, die in hoch dynamischer Weise
die Welt heute verändert und die beispiels- miteinander interagieren.
weise an der rasanten Entwicklung der
Kommunikations- und Informationstech-
26. 24 V o r T r A G P r o F . A L B E r T S P E E r
Beide Systeme seien das Ergebnis eines Ich habe einmal den Begriff der „intel-
Entwicklungsprozesses, der im Wesentlichen ligenten Stadt“ geprägt. Damit meine ich,
auf Prinzipien der Selbstorganisation beruht. dass wir in unseren Siedlungen mit allen
Weder Stadt noch Gehirn entstünden nach zur Verfügung stehenden Ressourcen intelli-
einem bis in die Einzelheiten ausgearbeiteten gent und den sich verändernden Situationen
Plan. Beide Systeme wachsen und ihr Wachs- angepasst, also flexibel umgehen. Dabei
tum werde im Wesentlichen von lokalen müssen wir sowohl Chancen und Möglich-
Interaktionen koordiniert. Es scheine, als ob keiten als auch die Probleme, die in den
sich komplexe Systeme – wenn ihre konstitu- nächsten Jahrzehnten auf uns zukommen,
ierenden Elemente eine kritische Zahl wegen der langen Reaktionszeiten bei der
überschreiten – nach immer gleichen Prinzi- Veränderung gebauter Strukturen früh-
pien selbst organisierten und damit Stabilität zeitig erkennen. Ich denke, dass wir dies
erlangten. bislang bei weitem nicht intelligent genug
tun. Dies gilt für die Städte überall auf
Dieses Doppelbild liefert auf die Stadt der Welt.
bezogen eine wunderschöne und treffende
Zusammenfassung unserer Problematik: Ich bin der Überzeugung, dass wir alle
Die Stadt ist ein lebendiger, sich ständig ver- beim Umgang mit den Themen „Klimawandel“
ändernder Organismus, der nicht bis in alle und „nachhaltiges Wirtschaften“ nicht konse-
Einzelheiten planbar ist. Die Rolle der quent genug sind, und das nicht, weil wir
Stadtplaner ist daher auch nur ein Faktor es nicht könnten, sondern weil unsere
unter vielen anderen. Ich habe schon immer Organisationsstrukturen es nicht hinreichend
behauptet, dass die Bedeutung von Planung fordern oder womöglich gar nicht zulassen.
und Architektur in unserer Gesellschaft Die Veränderung unserer Lebensbedingungen,
und in den Medien im Vergleich zu ihrem die Anpassung unserer Lebensweise an die
tatsächlichen Einfluss auf die Entwicklung Rahmenbedingungen der heutigen Welt durch
unserer Lebensumstände maßlos über- effizientere Nutzung von Energiereserven
schätzt wird. und Ressourcen beginnt mit der Städtepla-
nung und wirkt sich von dort ausgehend auf
Planung und Architektur haben – wenn alle anderen Bereiche aus. Hier könnte sehr
man sie in der Gesamtheit der Faktoren ein- viel mehr getan werden, als wir heute tun.
ordnet, die im Entwicklungsprozess der Dafür, dass dies nicht geschieht, gibt es viele
Stadt eine Rolle spielen – vielleicht einen Gründe.
Anteil von fünf Prozent. Planung ist
eben nur die Beratung zu Prozessen und Um mehr tun zu können, brauchen wir
Entscheidungen, die dann unter dem Einfluss ein neues Denken in Gesellschafts- und Wirt-
von Wirtschaft, Politik und anderen gesell- schaftspolitik. Die Entwicklungsdynamik in
schaftlichen Kräften umgesetzt werden. Wirtschaft und Wissenschaft dank weltweiter
Insofern sind Planer als Dienstleister aber Kooperation, ermöglicht durch den Einsatz
durchaus auch wichtig, und das nicht immer schnellerer, den ganzen Globus
nur für die bauliche Zukunft unserer Städte. umspannender Kommunikationsmittel, eröff-
Sie beeinflussen im Erfolgsfall auch die net ungeheure Chancen. Wenn ich mich
Lebensweise der Bewohner.
27. 25
beispielsweise mit unseren Kollegen in China keit und Flexibilität er mit Hilfe dieses
über eine wichtige Detailfrage im Zusam- Werkzeugs ein Problem lösen kann. Das hat
menhang mit einem Projekt in Shanghai aus- große Vorteile, aber eben auch einen unge-
tausche, ist dies in Sekundenschnelle getan. heueren Nachteil: Die hohe Geschwindigkeit
Die Technologien, die dies ermöglichen, sind und die Beliebigkeit der Planänderungen
also gewiss ein großer Segen – aber sie zwingen nicht mehr zum fundierten Nach-
haben auch einen entscheidenden Nachteil: denken. Alles wird austauschbar. Es funktio-
Sie lassen uns nicht mehr genügend Zeit, um niert sehr einfach, aber die Resultate
über die wesentlichen Dinge nachzudenken. erscheinen oft viel weniger durchdacht. Mehr
Eigentlich geht alles zu einfach. Wir werden Technik bedeutet bei allen Möglichkeiten
nicht schnell, sondern hastig. also nicht in jedem Fall „neues Denken“.
Ich selbst kann mit diesen Techniken Ganz ähnlich verhält es sich mit der
kaum umgehen. Ich habe nicht einmal ein erhofften Energie- und Ressourceneinsparung
Handy – und komme so hervorragend durch neue Technik: Die oft als Lösung der
zurecht. Allerdings nur deshalb, weil es Umweltprobleme angeführte Entkoppelung
hinter mir genug Menschen gibt, die von Verbrauch und Produktion durch
mit diesen Medien umgehen können. Mir technologischen Fortschritt findet tatsächlich
aber schafft die Abstinenz eine gewisse statt. Die Einsparungen werden allerdings
Freiheit. durch steigenden Konsum aufgefressen und
oft sogar überkompensiert. Und selbst wenn
Vor vielen Jahren, als es noch keine wir nur unsere liebgewonnenen Standards
Computer gab, hatte ich mir angewöhnt, halten, wird das Wohlstandsstreben von bald
an den Wochenenden durch das Büro zu neun Milliarden Erdbewohnern auch trotz
gehen und zu einzelnen Projekten für deren noch so großem technischen Fortschritt das
jeweilige Bearbeiter schriftliche Anmer- System an den Anschlag bringen. Wirklich
kungen zu hinterlassen. Diese wurden von nachhaltig kann deshalb nur ein Lebensstil
meinen Mitarbeitern „Liebesbriefe“ genannt. ohne Konsumzuwachs sein, bei dem das Wohl-
Wer am Montag auf seinem Schreibtisch ergehen des Einzelnen auf anderen als
keine Notiz vorfand war traurig, weil ich materiellen Werten fußt.
mich offenbar um sein Projekt nicht geküm-
mert hatte. Auf diese Weise entstand eine Zu den modernen Fehlentwicklungen
Zusammenarbeit, die auch optisch nachvoll- gehört auch, dass wir viel zu schnell – und
ziehbar war. das kennzeichnet zu einem Gutteil die Archi-
tekturgeschichte der Neuzeit – der Meinung
Heute gehe ich am Wochenende nicht waren, wir müssten uns um die Historie
mehr ins Büro, denn ich finde dort die Arbeits- und den Charakter einer Stadt überhaupt
stände nicht mehr physisch vor. Die Schreib- keine Gedanken mehr machen. Die Architek-
tische sind leer, die gesamte Arbeit versteckt tur präge einen neuen Menschen und der
sich im Computer. Wenn ich heute zu neue Mensch lebe in einer anderen, technik-
einem Mitarbeiter gehe und mit ihm am Bild- orientierten Welt ohne Geschichte.
schirm ein Thema diskutiere, bin ich immer
wieder erstaunt, mit welcher Geschwindig-
28. 26 V o r T r A G P r o F . A L B E r T S P E E r
Heute haben wir gelernt, dass in einer Kühlung mittels Durchlüftung der Straßen
Welt, in der die Anforderungen an die Archi- und Beschattung von Gebäuden wieder-
tektur immer ähnlicher werden – eine Küche zubeleben, um deren Aufheizen unter der
in China hat die gleiche Größenordnung Wüstensonne zu verhindern. Diese Prinzipien
und Ausstattung wie eine Küche in Europa haben wir vor 35 Jahren in unserer Diplo-
oder den USA – Charakter und Flair einer matenstadt von Riad in Saudi Arabien auch
Stadt für das urbane Leben künftig eine schon erfolgreich angewandt, obgleich schon
viel größere Rolle spielen werden als die damals und noch bis heute aufwändig klima-
Architektur. Ich versuche bei unseren Pro- tisierte Glaspaläste in die Wüste gebaut
jekten stets, die Besonderheit und Einmalig- wurden.
keit einer Stadt, die sich aus Kultur, Land-
schaft und Klima sowie den unterschiedlichen Ich möchte betonen, dass „neues Denken“
gesellschaftlichen, religiösen und wirtschaft- auch beinhalten muss, dass wir die Bevölke-
lichen Faktoren ergibt, in den Mittelpunkt rung an der Entwicklung unserer Städte
unserer Planungen zu stellen. beteiligen. Wir müssen die Dinge mit den
Menschen gemeinsam erarbeiten und sie
Wir sind in China nicht zuletzt deshalb nicht erst nachträglich über Entscheidungen
erfolgreich, weil wir als eines der ersten aus- informieren, die über ihre Köpfe hinweg
ländischen Architekturbüros die chinesische getroffenen wurden. Bei zwei unserer Pro-
Stadtgeschichte studiert haben. Dabei jekte in Köln und in München haben wir mit
entdeckten wir Prinzipien, die so modern ernst genommener Partizipation viel erreicht.
und nachhaltig sind, dass wir sie zur Grund- Das Projekt „Stuttgart 21“ hingegen ist aus
lage neuer Entwürfe machten. Auch die meiner Sicht das erschreckendste Misslingen
für ihre enorme Lernfähigkeit bekannten einer Planung in den letzten Jahren. Es
Chinesen berücksichtigen sie bei ihren darf einfach nicht sein, dass man trotz
eigenen Arbeiten heute wieder viel stärker Einhaltung aller vorgeschriebener formeller
als dies noch vor wenigen Jahren der Fall Beteiligungsverfahren erst nach 15 Jahren
war. Ich bin fest davon überzeugt, dass Planung anfängt, ernsthaft mit der Bevölke-
wir unsere Denkfaulheit und unser blindes rung über Sinn und Nutzen eines solchen
Vertrauen in die modernen Technologien Vorhabens ins Gespräch zu kommen.
überwinden und zum Nachdenken zurück-
kehren sollten. Ich habe einmal den – zugegeben – wohl
etwas utopischen und rein rechtlich leider
In unser neues Nachdenken müssen kaum praktikablen Vorschlag gemacht,
auch die aus dem Studium der Geschichte dass man in Deutschland bei großen städte-
gewonnenen Erfahrungen einfließen. baulich relevanten Maßnahmen die Suche
Von Prof. Stolte wurde bereits die Modell- nach einem Konsens über ein Projekt
stadt Masdar in Abu Dhabi erwähnt. Dort gesetzlich auf höchstens fünf Jahre begren-
wird nicht nur versucht, eine hypermoderne, zen sollte. Reicht dieser Zeitraum nicht aus,
mustergültige neue Stadt ohne CO 2-Emis- ist das Projekt abzubrechen. Alles andere
sionen zu bauen. Es wird auch versucht, ist den Menschen nicht zumutbar.
uralte arabische Methoden der natürlichen
29.
30.
31. V o r T r A G P r o F . A L B E r T S P E E r 29
In diesem Zusammenhang hört man – Stadt München und den Münchner Vereinen
auch von Politikern – immer wieder, dass FC Bayern und TSV 1860 ein auf ein Drei-
die Bürger daran schuld seien, dass Pro- vierteljahr angesetztes Verfahren entwickelt
jekte lange verschleppt werden. Ich bin da und dabei 28 Standorte untersucht. Am
vollkommen anderer Meinung: Schuld Ende blieben zunächst zwei Standorte übrig
sind unsere komplexen, die Bevölkerung und wir erreichten einen fast einstimmigen
nur minimal einbeziehenden Beteiligungs- Beschluss des Stadtrates für Freimann, wo
verfahren. Man müsste sie ganz anders das Stadion dann auch gebaut wurde. Wir
aufziehen. Bürgerentscheide aber – das haben der Stadt München geraten, nicht zu
vorweg – sind dabei alleine auch nicht aus- warten, bis kritische Bürgerinitiativen –
reichend, obwohl uns das einige gesell- die es bei jedem Großvorhaben gibt – einen
schaftliche Kräfte glauben machen wollen. Bürgerentscheid fordern, sondern selber eine
Stadtentwicklung ist in der Regel zu kom- Abstimmung durchzuführen. Dazu gehörte
plex, um auf eine Ja/Nein-Entscheidung selbstverständlich auch eine Art Wahlkampf,
reduziert zu werden. an dessen Organisation wir beteiligt waren.
Zum allgemeinen Erstaunen waren dabei
Bei unserem Masterplan für Köln haben über 65 Prozent aller abgegebenen Stimmen
wir das Prinzip der Partizipation beispiel- für den Standort – bei einer Rekord-Wahl-
haft und sehr ernsthaft angewendet. Bei der beteiligung von fast 40 Prozent. Damit war
Planung für die gesamte Innenstadt wurden die Diskussion beendet.
sämtliche relevanten gesellschaftlichen
Gruppen über ein Jahr in den Arbeitsprozess Wie dieses Beispiel zeigt, muss der Bau
eingebunden. Am Ende hatten wir einen eines Stadions – und dabei geht es ja nicht
stabilen Konsens für unsere Vision zur allein um die Arena, sondern auch um neue
„Kölner Innenstadt“ für die nächsten 20 bis Autobahn- und U-Bahn-Anschlüsse, die
30 Jahre erreicht, die nun allmählich umge- Verlegung von Industriearealen und vieles
setzt wird. Die Länge unserer Genehmigungs- andere mehr – nach allen demokratischen
verfahren liegt also nicht an der Beteili- Regeln der administrativen Kunst gesteuert
gung der Bürger, sondern an der mangelnden werden, um alle Verfahrens-Hürden zu
Effizienz unserer Verwaltungen und politi- nehmen. Und das ist uns bei der Allianz
schen Strukturen begründet. Wenn die Arena innerhalb von nur zwei Jahren gelun-
Verfahren von Anfang an besser organisiert gen – unter Einhaltung sämtlicher juristischer
und strukturiert werden, funktioniert und gesellschaftlicher Regeln. Nach gerade
es auch. einmal vier Jahren Bauzeit war das Stadion
fertig. Warum ist das gelungen? Weil Deutsch-
Ein weiteres positives Beispiel ist die land im Jahr darauf die Fußball-Weltmeister-
Allianz Arena in München. Der Bau eines schaft ausgerichtet hat. Dies beweist,
neuen Fußballstadions für München war dass es sehr wohl möglich ist, ein derart
zunächst heiß umstritten. Der Oberbürger- großes Projekt unter Einbeziehung aller
meister und die Stadtverwaltung waren relevanten Gruppen in so kurzer Zeit zu rea-
überzeugt, außer dem Olympiastadion gäbe lisieren. An den notwendigen Fähigkeiten
es überhaupt keinen geeigneten Standort. dafür fehlt es nicht. Wir setzen sie nur meist
Wir haben dann für die Suche nach alter- nicht ein.
nativen Möglichkeiten gemeinsam mit der
32.
33. V o r T r A G D r . D I E T E r S A L o M o N 31
„D I E S TADT V O N MO RG E N WI R D DU R C H D E N G E B AU T,
D E R S I E N E U Z U D E N K E N WAGT.“
Vortrag von Dr. Dieter Salomon, Oberbürgermeister der Stadt
Freiburg im Breisgau.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich freue mich, dass ich Ihnen heute eini-
ges über die Stadt Freiburg erzählen und dies
dann in den Kontext des Tagungsthemas
stellen kann. Vor einigen Wochen habe ich
Herrn Dr. Spandau gefragt, worüber ich
denn in Benediktbeuern referieren solle.
Dr. Spandau meinte daraufhin, ich solle ein- Unsere Demokratie ist im Vergleich mit
fach erzählen, wie ich mir das Freiburg der dem chinesischen System sicherlich sehr
Zukunft vorstelle. langsam. Wenn wir unseren bisherigen
Umgang mit der Atomkraft jetzt im gesell-
Und jetzt spricht Dr. Spandau hier von schaftlichen Konsens korrigieren, ist
Megacities in Asien und Afrika, von globalen unser System sogar ein – ich sage das mit
Entwicklungen im Städtebau. Was hat das aller Vorsicht – fehlerfreundliches System.
alles mit dem kleinen Freiburg zu tun? Zumindest wird demokratisch entschie-
Prof. Speer habe ich im letzten Herbst in den, in welche Richtung es gehen soll.
Shanghai getroffen, wo wir mit chinesischen
Städteplanern über deren Vorstellung von Zurück zu Freiburg. Die Stadt hat
den Städten der Zukunft diskutieren durften. 220.000 Einwohner. Shanghai hingegen
Der Unterschied zwischen China und hat so viele Einwohner wie ganz Nord-
Freiburg – oder Deutschland – ist groß. rhein-Westfalen. Es drängt sich die Frage
auf, was die beiden Städte eigentlich
Dort gibt es vielleicht auch Wutbürger, miteinander gemein haben. Kann man sie
aber diese dürfen sich nicht artikulieren. überhaupt miteinander vergleichen?
Dort gibt es keine Zivilgesellschaft.
Bürgerbeteiligung sieht dort – überspitzt Dennoch gibt es etwas, das alle Städte
formuliert – folgendermaßen aus: Morgens der Welt gemeinsam haben: den hohen
klopft jemand an die Tür und teilt mit, CO 2 -Ausstoß. Zusammen produzieren
dass man bis zum Abend ausziehen muss, sie 80 Prozent aller CO 2 -Emissionen.
weil ein neues Stadtviertel errichtet Will man für dieses Problem eine Lösung
wird. finden, dann muss sie aus den Städten
kommen.
34. 32 V o r T r A G D r . D I E T E r S A L o M o N
Ich hatte die Gelegenheit, beim Klima- Nicht nur unsere Staatsform, die Demo-
Gipfel in Kopenhagen dabeizusein, denn kratie – ich erinnere an die griechische Polis
im Rahmen der Veranstaltung gab es der Antike – hat sich in Städten entwickelt.
auch ein Treffen von Bürgermeistern. Auf Später, im Mittelalter, waren vor allem die
einer Podiumsveranstaltung habe ich Arnold weitgehend unabhängigen Städte fortschritt-
Schwarzenegger erlebt, den ehemaligen lich und wohlhabend. Sie kennen den
Gouverneur von Kalifornien. Er sagte – Spruch: Stadtluft macht frei – und zwar
noch bevor der Gipfel gescheitert war –, innerhalb der Stadtmauern und nicht außer-
er könne sich nicht vorstellen, dass sich halb. Oder denken Sie an die oberitalieni-
194 Nationen auf einen gemeinsamen Plan schen Städte der Renaissance und an die
würden einigen können. Darauf könne der Hanse im Norden, die von Landesherren
man lange warten. Aber auch wenn es nicht unabhängig Handel trieben. Schon früher
ginge, müsse man es zumindest versuchen. waren Probleme, die in Städten entstanden,
Dazu müsse man allerdings von unten immer nur durch Anstrengungen der Städte
beginnen, in den Städten, in den Regionen. selbst lösbar.
Darauf gab es heftigen Beifall – kein Wunder,
schließlich saßen viele Bürgermeister im Städte sind sehr unterschiedlich. Auch
Publikum. wenn bei Ihren Einführungsworten, lieber
Herr Dr. Spandau, ein leicht ironischer
Ich bin in verschiedenen Gremien tätig, Unterton nicht zu überhören war: Freiburg
darunter auch in weltweiten Städtenetzen ist nicht das kleine gallische Dorf. Dass
für Nachhaltigkeit. Unter anderem bin bei der letzten Landtagswahl 43 Prozent
ich im Vorstand von ICLEI (International Grün gewählt haben, heißt ja nicht, dass die
Council for Local Environmental Initiatives), Stadt deshalb anders ist als andere. Wir sind
dem Internationalen Rat für kommunale eine kleine Großstadt. Wir stehen an der
Umweltinitiativen. Wir alle haben schon in 34. Stelle der Liste der größten Städte
der Schule die Regel gelernt: Du darfst nicht Deutschlands. Als ich 2002 gewählt wurde,
abschreiben. Wer es dennoch tut, wird standen wir an der 40. Stelle. Wir sind also
bestraft. Bei der Stadtentwicklung gilt sie gewachsen, während andere geschrumpft
nicht. Hier darf man sich hemmungslos bei sind. In Westeuropa stehen wir grundsätz-
dem bedienen, was andere besser machen lich vor dem Problem, dass die meisten
als man selbst. Man muss nur darauf achten, Städte schrumpfen. Im Rest der Welt hin-
dass das, was andere vorgedacht und viel- gegen wachsen sie.
leicht sogar schon umgesetzt haben, auch
auf die eigenen Probleme übertragbar ist. Das Die Bevölkerung Europas schrumpft.
ist der Wettbewerb um die besten Lösungen. Die europäischen Städte werden also nicht
maßlos wachsen. Die Städte werden wohl
Deshalb müssen die Lösungen aus den auch in der Zukunft ähnlich aussehen
Städten heraus kommen – auch wenn sie wie heute. Aber sie müssen sich verändern.
im einzelnen sehr unterschiedlich sein Wir müssen innerhalb des Bestehenden
können. Städte waren immer schon Keim- umbauen. Um dies bewerkstelligen zu
zellen für Fortschritt und Umgestaltung. können, brauchen wir Visionen.
35.
36.
37. V o r T r A G D r . D I E T E r S A L o M o N 35
Was aber ist eine Vision? Helmut Schmidt Verwaltungsbereiche Energie, Verkehr,
hat einmal gesagt: Wer Visionen hat, soll Bauen und Soziales zusammenführt.
zum Arzt gehen. Das würde ich so nicht Wie in vielen anderen Städten ist auch in
unterschreiben. Gewiss, viele Ideen haben Freiburg eine Tendenz zur Reurbanisierung
mit der Wirklichkeit nichts zu tun und zu beobachten. Immer mehr Menschen,
lassen sich auch nicht verwirklichen. Aber die in den 60er und 70er Jahren in die
es gibt nicht nur negative, sondern auch Vororte – in die sogenannten Speckgürtel –
positive Visionen. gezogen sind, kehren im fortgeschrittenen
Alter in die Innenstädte zurück, also
Alexander Mitscherlich, der große Frank- dorthin, wo es eine urbane Infrastruktur
furter Soziologe, hat in den 60er Jahren des mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Theatern,
vorigen Jahrhunderts ein Buch geschrieben Kinos, Ärzten, Krankenhäusern, Volkshoch-
über „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“. schulen usw. gibt.
Darin ging er davon aus, dass die Architektur
die Menschen prägt, und dass die Städte die Freiburg ist eine Stadt, die in den letzten
Menschen krank machen – eine Horrorvision. Jahren ständig gewachsen ist. Zuerst hat sich
Dem stelle ich eine positive Vision gegen- der Osten der Bundesrepublik stark entvöl-
über wie die von Prof. Speer, die auch jeder kert, dann teilweise der Norden. Aber auch
Oberbürgermeister haben sollte, der seine wir im Süden und Südwesten werden nur
Stadt voranbringen möchte. Sie geht aus von noch wenige Jahre wachsen. Der demogra-
der Erkenntnis, dass es der Mensch selbst phische Wandel wird für uns die nächste
ist, der die Städte gestaltet und prägt. Herausforderung sein. Wie werden Lösungen
Ausgangspunkt kann also nicht die Architek- finden müssen für die Probleme, die sich
tur sein. Sie darf nicht zum Selbstzweck daraus ergeben, dass die Menschen immer
werden, sondern muss dem Ziel dienen, den älter und der Anteil der Alten an der Bevöl-
Menschen ein Stadtleben – Wohnen, Arbeiten, kerung immer größer wird. Zugleich werden
Einkaufen und Freizeitgestaltung – zu ermög- wir einen Umbau unserer Städte bewerk-
lichen, das sie eben nicht krank macht. stelligen müssen.
Eine – wenn nicht die – Hauptforderung Freiburg ist – auch wenn es 2010 von
für die Entwicklung aller Städte heißt: Sie der Deutschen Umwelthilfe zur „Bundes-
müssen nachhaltig werden. Während der hauptstadt des Klimaschutzes“ gewählt
letzten drei Tage fand in Stuttgart die Haupt- wurde – kein Öko-Disneyland. Vielleicht
versammlung des Deutschen Städtetages sind wir durch unsere ökologische Ausrich-
statt, in deren Rahmen ich ein Forum mit tung in einer etwas besseren Lage als
dem Titel „Die Zukunft der Stadt ist nach- andere Städte, aber auch wir befinden uns
haltig“ leiten durfte. in einem Umgestaltungsprozess, der noch
viele Jahre in Anspruch nehmen wird.
Dabei ging es um das Thema integrierte Wir haben den großen Vorteil – und das
Stadtentwicklung, also darum, dass es allein mag mit den 43 Prozent für die Grünen
schon aus Gründen des Klimaschutzes einer zusammenhängen –, dass unserer Bürger
Politik bedarf, welche die unterschiedlichen bereit sind, diesen Wandel mitzugehen.
38. 36 V o r T r A G D r . D I E T E r S A L o M o N
In einer demokratischen Gesellschaft ist ohne ständig in die Fläche zu wachsen.
Bürgerbeteiligung schließlich Voraussetzung Darüber wurde mit großer Bürgerbeteiligung
für gesellschaftlichen Wandel. Unser Image diskutiert. Als ich ins Amt kam, wurde eine
als „Green City“ und die jährlich 25.000 Arbeitsgruppe gebildet, die diese Diskussion
Besucher aus aller Welt, welche die beiden so lange moderiert hat, bis von 200 hoch-
neuen, integriert gebauten Stadtteile besich- umstrittenen Flächen nur noch drei oder vier
tigen, bestätigen uns jedenfalls in unserer strittig waren. Alle anderen wurden ein-
Politik. stimmig akzeptiert. Seither gibt es über diesen
Flächennutzungsplan keinen Streit mehr,
In den 60er Jahren herrschte in Freiburg denn alle Beteiligten haben von Anfang an
Wohnungsnot. In der Folge wurden neue mitgesprochen.
Stadtviertel aus Hochhäusern auf die grüne
Wiese gebaut – ohne jegliche Infrastruktur, Ein solches Vorgehen ist also möglich,
Verkehrsanbindung oder öffentlichen aber es ist sehr aufwendig. Andererseits ist
Nahverkehr. Es gab keine Kindergärten, es ein gangbarer Weg, um aus Wutbürgern
keine Schulen, keine Kirchen, keine Ein- Mutbürger zu machen.
kaufsmöglichkeiten. Da durften wir uns
nicht wundern, dass wir zehn Jahre später Man muss den Bürgern die Möglichkeit
die größten sozialen Probleme hatten. geben, Dinge in die eigene Hand zu nehmen,
wobei die Verwaltung diesen Prozess
30 bis 40 Jahre danach haben wir ver- natürlich steuern muss. Christian Ude, der
sucht, es besser zu machen, indem wir von alte und neue Präsident des Deutschen
Anfang an die Infrastruktur mit aufgebaut Städtetages, hat gesagt: Man muss die Bürger
haben. ernst nehmen und ihnen Gelegenheit geben,
sich zu äußern und sich einzubringen.
Was das Thema Bürgerbeteiligung und Aber man darf auch in unserer repräsenta-
Stadtteilentwicklungsplan angeht, so wer- tiven Demokratie das Kind nicht mit dem
den wir uns, Herr Prof. Speer, demnächst Bade ausschütten und den demokratisch
den Masterplan von Köln ansehen. Dazu gewählten ehrenamtlichen Gemeinderäten,
wird unser Baubürgermeister mit dem die sich jahrelang intensiv mit bestimmten
Bauausschuss nach Köln fahren. Verwal- Problembereichen beschäftigt haben, die
tungsfachleute aus verschiedenen Ämtern Verantwortung nehmen.
werden in Workshops gemeinsam mit
der Bürgerschaft diskutieren, wie sich der Man muss ihnen sagen: Ihr müsst am
betreffende Stadtteil in den nächsten Ende den Bürgern gegenüber verantworten,
10 bis 15 Jahren entwickeln soll. Bürger- was Ihr beschließt. Dafür seid Ihr gewählt
beteiligung bedeutet, die Menschen und dafür müsst Ihr geradestehen.
mitzunehmen. Die zentrale Frage unseres
Flächennutzungsplans als Drehbuch für Vor 20 Jahren, auf der ersten Umwelt-
die nächsten ein bis zwei Jahrzehnte ist, konferenz in Rio, wurden die Themen
wie wir unsere Stadt entwickeln können, Klimaschutz und Nachhaltigkeit entdeckt.
Der Begriff Nachhaltigkeit – englisch:
39. 37
sustainability – stammt ursprünglich aus weltwirtschaft, sah sich irgendwann
der Forstwirtschaft. Er besagt, dass man im zu dem Einwurf veranlasst: „Ich muss hier
Prinzip nicht mehr verbrauchen darf als festhalten: Freiburg ist nicht Deutschland.“
nachwächst. Jede Generation sollte so Worauf ich erwidert habe: „Sie haben völlig
handeln, dass ihre Kinder und Enkel über recht, Frau Müller. Aber ich würde auch
ihre Lebensbedingungen selbst entscheiden nie behaupten, dass am Freiburger Wesen die
können. Ein solches Verhalten hat nicht Welt genesen soll.“
nur eine große ökologische, sondern auch
eine ökonomische, finanzpolitische und Es kommt nicht auf Freiburg an. Son-
soziale Komponente. Auch Städte funktionie- dern es kommt darauf an, dass wir uns
ren nur, wenn der soziale Zusammenhalt alle gemeinsam über die Zukunft der
gewährleistet ist. Wenn eine Stadt sozial Städte unterhalten müssen, denn wir haben
auseinander bricht oder in sogenannte Probleme zu lösen, die allen gemeinsam
„gated communities“ – eine Art Gettos der sind. So unterschiedlich die Städte und so
Reichen – zerfällt, wie es in vielen Städten verschieden die Wege zu ihrer Lösung daher
Südamerikas der Fall ist, dann funktioniert auch sein mögen: Am Ende werden die
sie nicht. Lösungen wohl doch ganz ähnlich aussehen
müssen.
Das soziale Miteinander in westeuro-
päischen Städten kann ich mir nur mit den
„drei T“ vorstellen, den drei Schlüsselbe-
griffen Technologie, Talent and Toleranz, die
dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaft-
ler und Stadtsoziologen Richard Florida
zufolge die Zukunftschancen eines jeden
städtischen Gemeinwesens kennzeichnen.
„Technologie“ steht dabei für die für zukunfts-
trächtige Berufe zur Verfügung stehende
Technik, „Talent“ für eine möglichst große
Zahl kreativer Menschen, und „Toleranz“ für
ein hohes Maß an ethnischer, kultureller und
sozialer Vielfalt und einer offenen und freien
Atmosphäre.
Vorige Woche war ich zu einer Sitzung
der von Klaus Töpfer geleiteten Ethik-
kommission eingeladen. Bei dieser Gelegen-
heit habe ich von Freiburg und Südbaden
erzählt und von den Menschen, die dort
manchmal etwas anders denken als anders-
wo. Hildegard Müller, die Vorsitzende des
Bundesverbandes der Energie- und Um-
40. 38
D I E B E N E DI KTB E U R E R G E S P R ÄC H E
D E R AL L IA N Z U MWE LTS TI F T U NG 2011
41. 39
„ D I E S TA DT V O N M O R G E N W I R D
D U R C H D E N G E B AU T , D E R S I E N E U
Z U D E N KE N WAG T. “
42. 40
D I E B E N E DI KTB E U R E R G E S P R ÄC H E
D E R AL L IA N Z U MWE LTS TI F T U NG 2011
43. 41
„ D I E S TA DT V O N M O R G E N W I R D
D U R C H D E N G E B AU T , D E R S I E N E U
Z U D E N KE N WAG T. “
44.
45. V o r T r A G P r o F . D r . H A r A L D W E L Z E r 43
„D I E S TADT V O N MO RG E N WI R D DU R C H D E N G E B AU T,
D E R S I E N E U Z U D E N K E N WAGT.“
Vortrag von Prof. Dr. Harald Welzer, Direktor des Center for
Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen
Institut Essen und Professor für Sozialpsychologie an der
Universität St. Gallen.
Meine verehrten Damen und Herren,
ich kann unmittelbar anknüpfen an das,
was Herr Dr. Salomon und Herr Prof. Speer
gesagt haben. Herr Prof. Speer sprach von
der Problematik der Schnelligkeit. Dazu eine Ich hatte das Welzersche Theorem ent-
kleine Anekdote, an der mir diese besonders deckt: Das Gute schrumpft proportional zur
deutlich geworden ist: Ausdehnung der Arbeitszeit. Eine Katastrophe:
Jeder dieser Leute arbeitet jetzt nicht mehr
Bei einem Flug von München nach Düs- acht Stunden am Falschen, sondern 16 Stun-
seldorf stieg ich spätabends ins Flugzeug, zu den oder noch mehr. Nicht mehr fünf Tage
einer Zeit, zu der man normalerweise ein die Woche, sondern sieben. Diese Kostüm-
Buch liest oder Fernsehnachrichten schaut. frauen und Laptopmänner, die Sparpotentiale
Die Kabine war wie üblich voll mit Laptop- aufspüren, Optimierungsstrategien entwickeln,
männern, und die klappten, sobald die Kommunikation verbessern, haben dafür
Anschnallzeichen erloschen waren, eben ihre die doppelte Zeit zur Verfügung! Und die,
Bildschirme hoch und fingen an, Excel- die für die Bearbeitung der dabei entstehen-
Tabellen auszufüllen, E-Mails zu beantworten, den Kollateralkatastrophen zuständig sind,
Angebote zu schreiben, Berechnungen vor- auch! Da die Menge derjenigen, die mit aller
zunehmen, Vermerke zu verfassen, Formulare Anstrengung immer alles in die falsche
zu entwerfen, also alles das zu tun, was Richtung optimieren, ohnehin um ein viel-
sie auch dann machen, wenn sie woanders faches größer ist als die derjenigen, die gern
sind als im Flugzeug: im Büro, in Warte- zwischendurch mal innehalten, um nach-
lounges, in Cafes, in Meetings und so weiter. zudenken, wird der Überhang an Zeit, die
Dieselbe Sorte Leute hat früher ohne Laptops, für Unsinn aufgewendet wird, immer größer,
Smart Phones, Meetings usw. bis 17 oder während der Sinn immer kleiner wird:
18 Uhr in ihren hässlichen Büros gesessen und man denkt ja nicht mehr, wenn man länger
dann Feierabend gemacht. Damals, so wurde denkt. Dies hängt zusammen mit dem Pro-
mir mit einem Mal klar, hatten sie einfach blem des Nicht-Innehaltenkönnens.
viel weniger Zeit, die falschen Dinge zu tun.
46. 44 V o r T r A G P r o F . D r . H A r A L D W E L Z E r
In unserer Kultur der Dauerkommunika- Weder bei den Informationen, die wir
tion und des Dauerarbeitens gibt es keine über die Medien bekommen, noch bei unserer
Momente der Reflexion. Es merkt doch jeder eigenen Beschäftigung mit Zukunftsproblemen
an sich selbst, wie sich die eigene Arbeits- gibt es noch einen Moment der Reflexion.
weise verändert. Ich ertappe mich manchmal Wir werden ständig mit Informationen über-
dabei, dass ich telefoniere und parallel dazu flutet, ohne dass wir uns die Gelegenheit
E-Mails lese. Ein fürchterliches soziales gäben, sie zu verarbeiten.
Verhalten, absolut unkonzentriert, aber es
ist das, was diese Technologien und Schnitt- Damit kommen wir zum Kern der Pro-
stellen zwischen Mensch und Maschine bei blematik, die sich – zumindest aus meiner
uns bewirken. Hier beginnt einiges aus Sicht – aus der Entwicklung der Städte und
dem Ruder zu laufen. – sogar noch weiter gefasst – der modernen
Gesellschaften insgesamt ergibt. Beides
Wenn man über Lösungen von Problemen ist ja eng miteinander verknüpft. Fukushima
nachdenkt, vor denen die Städte stehen, ist zeigt uns – abgesehen von den erwähnten
ein Moment des Innehaltens absolut not- die Medien betreffenden Aspekten – noch
wendig, um erkennen zu können, dass man etwas, was mich sehr nachdenklich gemacht
für viele Probleme noch überhaupt keine hat. Diese Katastrophe hat sich in der dritt-
Lösung hat. Wir reagieren gleichsam wie die größten Wirtschaftsmacht der Erde ereignet,
Pawlowschen Hunde: Wir sehen ein Problem in einem Land, das kaum über eigene
und meinen, sofort eine Lösung finden zu Bodenschätze verfügt. Das zeigt uns, dass
müssen – ohne zuvor auch nur vernünftig wir ein System entwickelt haben, in dem es
nachgedacht und das Problem verstanden möglich ist, zur drittgrößten Wirtschafts-
zu haben. macht aufzusteigen, ohne die dafür notwen-
digen natürlichen Ressourcen zu besitzen.
Noch ein bedrückender Aspekt des Pro- In Fukushima wurde der Traum der Moderne
blems der Schnelligkeit: Fukushima ist die zerstört, der Traum, dass sich die Menschen
größte technische Katastrophe, die es je vollständig von der Natur und ihren Ressour-
gegeben hat. Wir wissen nicht, welche cen unabhängig machen können.
Prozesse dort momentan ablaufen und wie
es weitergehen wird. In einem modernen Man hat gesehen, dass die Emanzipation
Hochtechnologieland passiert eine derartige von den natürlichen Gegebenheiten nicht
Katastrophe – und die mediale wie die gelingt. Auch Menschen sind biologische
persönliche Aufmerksamkeit hält gerade Wesen und befinden sich als solche in
mal eine Woche an! Bereits nach einer ständigen Austauschprozessen mit der sie
Woche rangierten die Nachrichten darüber umgebenden Natur. Unser gesamtes Wirt-
an dritter oder vierter Stelle. Nach nur einer schafts-, Gesellschafts- und Lebensmodell
Woche erlahmt unser Interesse an diesem trägt dem immer weniger Rechnung und
Thema! Journalisten sagen dazu, sie können stößt daher zunehmend an Grenzen.
die Spannung nicht aufrechterhalten. Das gilt nicht nur für das Thema Energie,
sondern auch für alle anderen Ressourcen