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Deutschland 
Wenn es um Mord und Totschlag 
geht, dann regiert im deutschen 
Rechtsstaat manchmal der Zu-fall. 
Dann kann das Recht sehr ungerecht 
sein. 
Zwei Fälle, zwei Urteile: Der Rocker 
Ralf aus Nienburg schuldet den Kumpanen 
seines Motorradklubs 30 000 Euro. Ralf 
taucht unter, wochenlang suchen die eins-tigen 
Freunde nach ihm. Als sie ihn 
schließlich finden, fahren sie ihn an die 
A7. An einer Böschung sagt Anführer 
Bernd: „Auf die Knie, du Schwein!“ Ralf 
kniet. Dann erschießt ihn Bernd mit einer 
Pumpgun. 
Das Urteil gegen den Täter: Totschlag. 
Nach sechseinhalb Jahren ist Bernd wieder 
frei. Das Rockerleben kann weitergehen. 
Und dann gibt es den Fall von Otto, 75. 
Der Rentner aus Hamburg pflegt seit Jah-ren 
seine demente Frau Lydia, 88. Sie fleht 
ihren Mann an, sie nie ins Heim zu geben. 
Also rackert sich Otto ab: kochen, füttern, 
wenden, waschen, dazu die Gartenarbeit 
und das Einkaufen, jahrelang. Mit jedem 
Tag wird Lydia schwächer, täglich wächst 
die Last für Otto. Eines Morgens gehen 
Kaffeemaschine und Herd gleichzeitig 
kaputt, und im Schlafzimmer klagt Lydia 
über Schmerzen. Da geht Otto zu seiner 
Frau und drückt ihr ein Kissen aufs Ge-sicht, 
bis sie still ist. Dann verlässt er die 
Wohnung und wirft sich vor einen Bus. 
Aber er überlebt. Die Staatsanwaltschaft 
klagt ihn wegen heimtückischen Mordes 
an. Das Gesetz fordert für Otto lebenslan-ge 
Haft, frühestens nach 15 Jahren kann 
ein Mörder entlassen werden. 
Eine eiskalte Exekution soll ein simpler 
Totschlag sein, das Töten aus Verzweiflung 
und Mitleid ein Mord – ist das gerecht? 
„Sehr unbefriedigend“ nennt Heiko 
Maas solche Ergebnisse. Deshalb nimmt 
sich der Bundesjustizminister den Mord- 
Paragrafen vor, mehr als 70 Jahre nach 
dessen Entstehung. Er will die zentrale 
Norm des Strafrechts gerechter machen 
und ganz neue Maßstäbe dafür entwickeln, 
wie schwer welche Tat wiegt und wie hart 
welcher Täter zu bestrafen ist. Eine Ex-pertengruppe 
ist beauftragt, ihm ein Kon-zept 
zu erstellen. Die 16 Juristen, Krimi-nologen 
und Psychiater haben bei ihrer 
Empfehlung freie Hand. Bis hin zur kom-pletten 
Abschaffung des Mord-Paragrafen 
ist alles denkbar. 
Das Vorhaben, das nicht im Koalitions-vertrag 
steht, ist nicht nur juristisch hoch 
anspruchsvoll. Es ist die politisch wohl hei-kelste 
Reform, die ein Justizminister je an-gepackt 
hat. Denn wenn das Strafrecht 
und das Gerechtigkeitsgefühl der Bürger 
aufeinandertreffen, geht es selten harmo-nisch 
zu. Die Deutschen haben sich schon 
furchtbar über die Frage erregt, ob Frauen 
ein ungeborenes Kind ungestraft abtreiben 
dürfen oder ob ein Gesetz Muslime und 
Juden daran hindern soll, ihre Söhne nach 
religiösen Regeln zu beschneiden. 
Jetzt stellt Maas eine Vorschrift infrage, 
die den elementaren Grundsatz des 
menschlichen Zusammenlebens verkör-pert: 
Du sollst nicht morden. 
Die Debatte wird die meisten Deutschen 
unvorbereitet treffen. Juristenzirkel debat-tieren 
seit Jahrzehnten darüber, ob der Pa-ragraf 
211 in einem Rechtsstaat noch trag-bar 
ist. Für Laien ist nur klar: Mord muss 
bestraft werden, und zwar feste. Sie dis-kutieren 
nicht über Tatbestandsmerkmale, 
sondern über die Frage, ob die Justiz zu 
nachsichtig ist mit Kinder- oder Ehrenmör-dern. 
Für viele ist jeder ein Mörder, der 
andere umbringt. 
Was geschähe, wenn dieses Wort abge-schafft 
würde? 
Der Entführer des kleinen Jakob von 
Metzler – nur ein Totschläger? Die Mutter, 
die ihr Baby verdursten lässt – keine Mör-derin? 
Der muslimische Vater, der die 
Tochter erwürgt, weil sie Minirock trägt 
und Alkohol trinkt – nach acht Jahren wie-der 
auf freiem Fuß? 
„Das wird eine Diskussion wie bei der 
Beschneidung, aber hoch drei“, seufzt ei-ner 
von Maas’ Beamten. Das Ministerium 
hatte dem SPD-Mann von seinen „Mord- 
Plänen“ abgeraten. Eine Reform des 
schwersten Deliktes im Strafrecht, auf das 
die Höchststrafe von lebenslanger Haft 
steht, werden sich die Koalitionspartner 
CDU und CSU nur gegen zähen Wider-stand 
abringen lassen. Denn eine ent - 
schiedene Verbrechensbekämpfung samt 
zünftiger Strafen für die Täter zählt zu 
den letzten Resten ihres konservativen 
Profils. 
Bayerns Justizminister Winfried Baus-back 
warnte bereits, niemand dürfe Le-benslang 
„durch die Hintertür“ abschaffen. 
„Unsere Rechtsordnung muss den absolu-ten 
Geltungsanspruch des Tötungstabus 
klar ausdrücken.“ 
Aber Maas hat auch ein moralisches 
Argument für seine Reform, das schwer-wiegt: 
Der Mord-Paragraf ist das Werk der 
DER SPIEGEL 32 / 2014 17 
FOTOS: T. HOENIG / PLAINPICTURE (L.); WERNER SCHUERING (R.) 
Du sollst nicht morden 
Justiz Der Mord-Paragraf ist ein Relikt aus der Nazizeit. Justizminister Heiko Maas will 
das Gesetz jetzt von braunen Einflüssen reinigen und gerechter machen. 
Doch das Projekt ist heikel: Diese Reform könnte den Zorn der Bürger entfachen. 
Sozialdemokrat Maas: Was geschähe, wenn das Wort abgeschafft würde?
Nationalsozialisten. Der spätere Präsident 
des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, hat-te 
die Vorschrift maßgeblich zu verantwor-ten; 
er wollte das Mordrecht dem „gesun-den 
Empfinden des Volkes“ anpassen. Sein 
Gesetz schilderte den Deutschen möglichst 
anschaulich die „Mördergestalten“, die 
sich unter ihnen tummelten. 
Mörder ist nach Freislers Umschreibung, 
wer einen Menschen heimtückisch oder 
grausam tötet, aus Habgier, zur Befriedi-gung 
seines Geschlechtstriebs oder aus 
anderen „niedrigen Beweggründen“. Kaum 
war die Vorschrift am 8. September 1941 
im Reichsgesetzblatt erschienen, jubelte die 
Fachwelt. „Der bislang farblose Paragraf ist 
einer lebensvollen, anschaulichen Tatbe-standsumschreibung 
gewichen“, schwärmte 
ein Schüler Freislers. Für jeden Volksge-nossen 
sei nun klar: „Mörder wird man 
nicht, Mörder ist man.“ 
Die Lehre vom Tätertypen, vom gebo-renen 
Volksschädling, steht bis heute im 
Strafgesetzbuch. Abgesehen von der Ab-schaffung 
der Todesstrafe blieb Paragraf 
211 seit dem Krieg unverändert. 
Ginge es Heiko Maas nur darum, das 
Recht von braunen Resten zu säubern, hät-te 
er auch weniger brisante Themen an-packen 
können. Es gibt Dutzende deutsche 
Gesetze mit Nazivergangenheit. Das Heil-praktikergesetz 
gehört dazu oder die Vor-schriften 
über die zulässige Höhe von 
Kleingartenhecken. Aber die Fälle von 
Rocker Bernd und Rentner Otto zeigen, 
dass Freislers Erbe nicht nur ideologisch 
vergiftet ist. Der Blutrichter hat eine Vor-schrift 
abgeliefert, die im Praxistest regel-mäßig 
versagt. 
Zwei Tote, zwei Urteile: Der Rocker 
passte in keine Schablone des Mord-Para-grafen. 
Weder ging er heimtückisch vor 
noch grausam oder habgierig. Die Richter 
werteten die Tötung als Exzess. Ursprüng-lich 
sei nur geplant gewesen, den Mann 
zu verprügeln. 
Dagegen verübte der Rentner nahezu 
lehrbuchmäßig einen Überraschungsan-griff 
gegen ein arg- und wehrloses Opfer – 
ein klarer Fall von Heimtücke. Hätte Lydia 
eine Lebensversicherung abgeschlossen, 
dann stünde auch noch Mord aus Habgier 
im Raum. 
Zwei Tötungen, zwei Leidensgeschich-ten: 
Der Rocker verbrachte seine letzten 
Minuten an der Autobahn in Todesangst. 
Die Tat hatte „Exekutionscharakter“, 
schreibt das Landgericht Kassel in seinem 
Urteil. „Das Opfer musste seinem Tod qua-si 
ins Auge sehen.“ Der Rentner tötete aus 
Verzweiflung, und vielleicht war die Tat 
für seine geliebte Frau auch eine Erlösung. 
Doch das spielt nach dem Gesetz keine 
Rolle. Wer vorsätzlich tötet und dabei ein 
Merkmal des Paragrafen 211 erfüllt, ist ein 
Mörder. Punkt. Er muss lebenslang be-straft 
werden, seine Tat verjährt niemals. 
Die soziale Situation, die individuelle 
Schuld zählen nicht. „Die Justiz bestraft 
nicht die schlimmste Tötung oder den bru-talsten 
Täter am härtesten“, sagt Raban 
Funk, Vorstand des Vereins Deutscher 
Strafverteidiger. Als Mörder gelten aus-gerechnet 
die Schwachen, die sich an-schleichen 
müssen. 
Die Vorschrift ist ungerecht. Aber die 
Richter wollen es nicht sein. In ihren Ge-richtssälen 
biegen sie die Fälle und das 
Recht so lange, bis beides irgendwie passt. 
Die Schwurgerichte und der Bundesge-richtshof 
(BGH) haben Umwege gefunden, 
um nicht alle Täter pauschal mit Lebens-lang 
zu bestrafen, sondern jeden nach sei-ner 
persönlichen Verantwortung. Sie lassen 
sich von Gutachtern attestieren, dass der 
Täter im Affekt gehandelt hat, vielleicht 
eine Aufmerksamkeitsstörung hatte und 
nicht wusste, was er tat. 
Nicht jede Tötung, die dem Opfer be-sondere 
Schmerzen zufügt, ist automatisch 
ein grausamer Mord. Die Richter fordern, 
dass der Täter aus einer „gefühllosen, un-barmherzigen 
Gesinnung“ heraus handel-te. 
Und es gilt längst nicht jeder Überra-schungsangriff 
auf Ahnungslose als heim-tückischer 
Mord. Die Staatsanwälte müssen 
beweisen, dass der Täter dem Opfer zu-tiefst 
„feindselig“ gesinnt war. 
Die Kreativität der Gerichte schützt ge-prügelte 
Ehefrauen, die ihren Haustyran-nen 
töten, indem sie ihm ein vergiftetes 
Abendessen servieren. Sie schützte auch 
Rentner Otto. Das Gericht gab ihm drei 
Jahre Haft für Totschlag in einem minder 
schweren Fall. Das Urteil hat wenig mit 
dem Gesetz zu tun, aber viel mit Gerech-tigkeit. 
Aber für gerechte Urteile müssen 
Richter eben hart an die Grenzen ihrer 
Befugnisse gehen. Das kann für den An-geklagten 
gut gehen, muss es aber nicht. 
„Der Gesetzgeber hat die Justiz mit der 
Verantwortung für den Mord-Paragrafen 
ein Stück weit allein gelassen“, sagt Stefan 
Caspari, Mitglied der Strafrechtskommis-sion 
des Deutschen Richterbundes. 
Das gilt vor allem für das Merkmal der 
„niedrigen Beweggründe“, das der natio-nalsozialistischen 
Ideologie in besonderer 
Weise entspricht. Mit ihm konnte das Drit-te 
Reich Täter nach ihren Motiven filtern: 
Wer „Feinde der Volksgemeinschaft“ eli-minierte, 
sollte vom Vorwurf des Mordes 
verschont bleiben. 
Bis heute ist dieses Mordmerkmal einer 
der seltenen Fälle im Strafrecht, in denen 
die Gesinnung des Täters entscheidet, für 
welche Tat er verurteilt wird. Normaler-weise 
zählen dafür objektive Kriterien: 
Der Dieb ist ein Räuber, wenn er Gewalt 
anwendet. Die Körperverletzung ist ge-fährlich, 
wenn der Täter eine Waffe 
schwingt. Motive interessieren die Richter 
erst, wenn sie die Höhe der Strafe festle-gen. 
„Für vorsätzliche Tötungen gibt es 
auch selten gute Gründe“, spottet der Vor-sitzende 
Richter am Bundesgerichtshof 
Thomas Fischer. 
Die Gerichte müssen trotzdem täglich 
schlechte gegen besonders schlechte Grün-de 
abwägen. Auf Ausländerhass oder Ras-sismus 
kann man sich leicht einigen. Aber 
was ist mit krankhaftem Neid unter kon-kurrierenden 
Kollegen? Oder der Rache 
für die Tötung eines geliebten Menschen? 
Zu diesen Grenzfällen, auf die der Mord- 
Paragraf keine Antwort bietet, wuchert 
ein Dickicht von Urteilen, das auch Juris-ten 
kaum durchblicken. 
Eine Tötung aus Rache muss kein Mord 
sein, urteilte der BGH im Fall eines jungen 
Kurden. Der Mann hatte ein verfeindetes 
Clan-Oberhaupt vor dessen Haustür nie-dergeschossen, 
weil er sicher war, dass die-ser 
Mann seinen Vater getötet hatte. Die 
Rachegefühle eines trauernden Sohnes sei-en 
menschlich verständlich, urteilten die 
Richter. Nicht aber die Wut eines Neffen: 
Der Mittäter wurde wegen Mordes verur-teilt. 
Ist das gerecht? Die Justiz versucht, ein 
System zu schaffen. Doch in der Summe 
erscheinen ihre Urteile oft willkürlich. 
Wie die Entscheidungen zum Mord aus 
Eifersucht. Wer aus Liebe tötet, gilt als 
Mörder, sobald seine Gefühle „krass ei-gensüchtig“ 
erscheinen. Aber er kann mit 
Totschlag davonkommen, wenn die Ex-freundin 
ihn bei der Trennung gedemütigt 
hat. Oder wenn er fürchtet, wegen der 
Scheidung sein Aufenthaltsrecht zu ver-lieren. 
Alle diese niedrigen oder hehren Motive 
spielen sich im Kopf der Täter ab. Die Jus- 
18 DER SPIEGEL 32 / 2014 
Mord und Totschlag 
Tatbestandsmerkmale nach dem 
Strafgesetzbuch 
Mord § 211 
Vorsätzliche Tötung mit Mordmerkmalen: 
Niedrige Beweggründe 
Mordlust, Befriedigung des Geschlechts-triebs, 
Habgier oder sonstige niedrige 
Beweggründe 
Besonders gefährliche und 
verwerfliche Begehungsweise 
Heimtückisch, grausam, mit gemein-gefährlichen 
Mitteln 
Verwerflichkeit des Ziels 
Verdeckung oder Ermöglichung einer Straftat 
Strafmaß: lebenslange Freiheitsstrafe 
Totschlag §§ 212, 213 
Vorsätzliche Tötung ohne Mordmerkmale 
Strafmaß: mindestens fünf Jahre; 
im besonders schweren Fall lebenslange 
Freiheitsstrafe; im minder schweren Fall 
ein bis zehn Jahre
Deutschland 
tiz ist darauf angewiesen, dass Angeklagte 
aussagen. Oder darauf, dass psychiatrische 
Gutachter die Seele des Täters erklären. 
So kann ein unvorsichtiger Satz im Verhör 
oder ein kluges Schweigen zur rechten Zeit 
schicksalhaft wirken. 
Die Expertengruppe von Heiko Maas 
hat sich inzwischen zweimal getroffen. 
Um den Tisch des Konferenzsaals in der 
fünften Etage des Ministeriums sind die 
Besten ihrer Zunft versammelt, ausge - 
wiesene Kenner der Strafjustiz und der 
menschlichen Psyche. Die pensionierte 
BGH-Senatsvorsitzende Ruth Rissing-van 
Saan, die den Kannibalen von Rotenburg 
als Mörder hinter Gitter brachte, ist dabei. 
Neben ihr sitzt der forensische Psychiater 
Hans-Ludwig Kröber, der gerade an der 
FU Berlin in einem Langzeitprojekt ver-urteilte 
Mörder auf Gemeinsamkeiten un-tersucht. 
Die Experten haben Themen 
verteilt und halten Referate wie einst im 
Studium. Jedes Mordmerkmal wird durch-gekaut. 
Dabei kommen sie immer wieder auf 
eine Frage zurück: Kann man Tötungen 
überhaupt in schlimm und noch schlimmer 
trennen? Ist nicht jede solche Gewalttat 
einfach furchtbar? 
So denkt der Strafrechtsexperte Rüdiger 
Deckers, ein erfahrener Verteidiger. Er hat 
für den Deutschen Anwaltverein eines der 
radikalsten Reformkonzepte für den Mord- 
Paragrafen mitentwickelt. „Es ist eine Il-lusion 
zu glauben, dass sich Tötungen qua-litativ 
steigern lassen“, sagt Deckers. „Am 
Ende haben alle Fälle nur eines gemein-sam: 
Ein Mensch wurde umgebracht. 
Schlimmer geht es doch nicht.“ 
Deshalb gibt es in Deckers’ Reformkon-zept 
nur „Tötungen“, keinen Mord oder 
Totschlag. Die Taten unterscheiden sich 
lediglich in der Höhe der Strafzumessun-gen. 
Diese sollen die Richter frei bestim-men, 
auf einer Skala von fünf Jahren bis 
Lebenslang. 
Die Lösung klingt klar und einfach. Die 
meisten Deutschen haben den Unterschied 
zwischen Mord und Totschlag ohnehin nie 
nachvollzogen. In ihrer Vorstellung hat ein 
Mörder seine Tat eiskalt geplant, während 
der Totschläger ein spontaner Angreifer 
ist. Genau so stand es auch früher im 
Reichsstrafgesetzbuch – bis 1941. So kann 
es gut sein, dass die Experten Maas am 
Ende empfehlen, den gordischen Knoten 
zu durchtrennen: Nie mehr Mord. 
„Eine hochgefährliche Idee.“ Benedikt 
Pauka sitzt in seiner Kanzlei, einer Grün-derzeitvilla 
unweit des Kölner Doms. Im 
Konferenzraum mit Erker und Blick auf 
den Rhein empfängt er sonst Unternehmer, 
die Ärger mit der Steuerfahndung oder den 
Kartellbehörden haben. Aber jedes Jahr 
übernimmt der 43-Jährige auch mindestens 
einen Mordfall, obwohl die Mandate wenig 
einbringen, aber die Fälle seien „juristisch 
und menschlich faszinierend“. 
Den Mord-Paragraf abzuschaffen ist 
Verteidiger Pauka „unheimlich“, wie er 
sagt: „Wir sind auf dem bestem Wege, 
Richtern grenzenlose Macht zu geben.“ Er 
ist überzeugt: Viele seiner Klienten wären 
unter einem Paragrafen, der nur noch da-nach 
schaut, ob jemand gewaltsam ums 
Leben gekommen ist, nicht gerechter, son-dern 
härter bestraft worden. 
Paukas letzter Fall war der „Beton-Kil-ler“: 
Gerd Paulus, 52, arbeitslos, der seine 
Frau im Streit erwürgte. Den Kindern sag-te 
Paulus, die Mama sei weggelaufen. Tat-sächlich 
lag ihre Leiche im Keller, einbe-toniert 
hinter einem Weinregal. Sohn und 
Tochter glaubten dem Vater; jahrelang 
suchten sie ihre Mutter über die Polizei 
und im Fernsehen. Der Täter suchte ge-zwungenermaßen 
mit. Auf RTL weinte er 
um seine „verschwundene“ Frau. Nach 
fünf Jahren stand dann die Polizei vor sei-ner 
Tür, Paulus gestand sofort. 
Im März verurteilte ihn das Landgericht 
Bonn zu acht Jahren Haft – als Totschläger. 
Ein mildes Urteil. Die Richter hatten sich 
viel Arbeit gemacht: Sie befragten die Kin-der 
des Angeklagten, ließen sich von Me-dizinern 
die Verletzungen der Toten er-klären 
und von Psychiatern den Charakter 
des Witwers. Am Ende glaubten sie Pau-lus, 
dass er kein schlimmer Kerl sei. Dass 
seine Frau Sigrid ihn oft beschimpft und 
gedemütigt habe, auch vor den Kindern. 
Dass ihm eines Tages einfach die Siche-rung 
durchbrannte. Und dass er seine Tat 
nur vertuschte, weil die Kinder nicht auf 
einen Schlag beide Eltern verlieren sollten. 
Von da war es nur ein kleiner Schritt zu 
einem milden Urteil. 
Nach dem Konzept des Deutschen An-waltvereins 
hätten die Richter komplett 
anders denken müssen. Sie hätten Paulus 
erst für schuldig erklären und dann, nach 
eigenem Ermessen, die Strafe wählen müs-sen. 
„Dann könnte niemand verhindern, 
dass der Zeitgeist ein Urteil prägt oder die 
Stimmung der Medien und der Öffentlich-keit“, 
warnt Benedikt Pauka. 
Dem „Beton-Killer“ Paulus wünschten 
die Leute in Internetforen, er möge selbst 
eingemauert werden, am besten lebendig. 
Die Deutschen können gnadenlos sein, 
wenn es um Verbrechen und Strafe geht. 
Noch 1998 sagte in einer Umfrage jeder 
Zweite, dass Kindermörder die Todesstrafe 
verdienen. 
Umgekehrt können die Leute eine irra-tionale 
Sympathie für Mörder entfalten. 
Dem 15-jährigen Tobias aus Niedersach-sen, 
der seine Großeltern auf brutalste Art 
und Weise umgebracht hatte, schlug eine 
Welle der Sympathie entgegen, als sich he-rausstellte, 
dass er seine kleine Schwester 
DER SPIEGEL 32 / 2014 19 
FOTO: PICTURE-ALLIANCE / DPA 
Volksgerichtshofpräsident Freisler 1944: „Mörder wird man nicht, Mörder ist man“ 
Für Kriminologen hat die härteste Strafe im deutschen 
Recht noch immer einen hohen symbolischen Wert.
rächen wollte. Der Großvater hatte sie 
missbraucht. Die Solidarität der Bürger 
mit dem Mörder ging so weit, dass die 
Richter bei der Urteilsverkündung warn-ten, 
man möge Tobias nicht noch loben. 
„Das hätte ich auch getan“, hatte die Lo-kalzeitung 
Nachbarn zitiert. „Auf das 
Bauchgefühl der Bürger zu hören ist im 
Rechtsstaat selten eine gute Idee“, sagt To-bias’ 
Verteidiger Raban Funk. Der neue 
Mord-Paragraf müsse klare Wertungen 
enthalten. „Schließlich soll er in 50 Jahren 
auch noch gerechte Urteile ermöglichen.“ 
Vermutlich werden die Experten am 
Ende empfehlen, die Mordmerkmale nicht 
abzuschaffen, aber sie präziser zu fassen. 
Die niedrigen Beweggründe würden ganz 
gestrichen, so wie es auch der BGH-Richter 
Fischer fordert (siehe SPIEGEL-Ge-spräch). 
Das Gesetz muss ausdrücken, was 
eine Gesellschaft als besonders verwerflich 
empfindet. Verzichtet es auf diese Fest - 
legung, entfernt es sich vom allgemeinen 
Rechtsempfinden. 
Eine andere Frage ist, ob mit der Reform 
das automatische Verdikt Lebenslang fal-len 
soll. Für Kriminologen hat die härteste 
Strafe im deutschen Recht noch immer 
einen hohen symbolischen Wert. „Sie ist 
Ausdruck unserer Werte und stärkt das 
Sicherheitsgefühl der Bürger“, sagt Kai 
Bussmann, Kriminologe an der Uni Halle- 
Wittenberg. Für notwendig hält die Wis-senschaft 
es aber längst nicht mehr, dass 
ein Mörder im Durchschnitt 18 Jahre hinter 
Gittern verbringt. Bereits nach zehn Jah-ren 
im Gefängnis, so wusste es das Bun-desverfassungsgericht 
bereits 1977, emp-finden 
die Täter keine Reue, die Haft hat 
sie abgestumpft. Ihre Missetat ist so lange 
her, ihre Opfer sind so lange tot, dass bei-des 
für sie bedeutungslos geworden ist. 
Die Deutschen morden immer weniger. 
2013 zählte die Polizei 647 Fälle, davon 406 
Versuche. Wenn die Bürger töten, dann oft 
fahrlässig oder im Affekt. Die Täter, die 
vorsätzlich handeln, sind selten psycho - 
pathische Killer, wie man sie aus dem Kino 
kennt. Viele sind zuvor unbescholtene 
Bürger, die eine persönliche Rechnung 
zu begleichen haben. Gemordet wird 
unter Freunden, Verwandten, Kollegen. 
„Dass ein Fremder Sie einfach umbringt“, 
sagt Kriminologe Bussmann, „gehört in 
Deutschland nicht zum Lebensrisiko.“ 
Heiko Maas findet den Zeitpunkt seiner 
Reform ideal. Wenn wenig gemordet wird, 
haben die Deutschen vielleicht weniger 
Angst vor einer Reform des Mord-Gesetzes. 
Eine Vorgabe hat er seinen Experten al-lerdings 
gemacht, die einzige: Wenn sie 
an das Lebenslang gehen, sollen sie die 
Gemütslage der Bürger berücksichtigen. 
Ganz abschaffen geht nicht, das weiß 
Maas, und so hat er es den Juristen für 
ihre Beratungen auch mit auf den Weg ge-geben. 
Melanie Amann 
20 DER SPIEGEL 32 / 2014 
„Es gibt kein 
Strafrecht der Moral“ 
SPIEGEL-Gespräch Thomas Fischer, 61, Vorsitzender 
Richter am Bundesgerichtshof, über seinen 
Widerwillen gegen den Mord-Paragrafen, das 
Strafbedürfnis der Bürger und den Übereifer 
der Justiz im Fall Edathy
Deutschland 
SPIEGEL: Herr Fischer, das Bundesjustizmi-nisterium 
plant die Reform des Mord-Para - 
grafen. Sie fordern im Prinzip sogar dessen 
Abschaffung. Was stört Sie so daran? 
Fischer: Man müsste eher fragen, was einen 
daran nicht stört. Der Mord-Paragaf sieht 
eine absolute Strafe vor, nämlich die lebens-lange 
Freiheitsstrafe. Wenn heute eines der 
sogenannten Mordmerkmale festgestellt ist, 
ist keineAbstufung der Strafe mehr möglich. 
Das ist kriminologisch unsinnig, denn im 
Leben gibt es eine Vielzahl von Abstufun-gen 
und Sonderfällen, denen man mit einer 
starren Strafe nicht gerecht werden kann. 
SPIEGEL: Was den Juristen vielleicht stört, 
erscheint dem Laien eher sinnvoll: dass 
die Gesinnung des Täters bei der Bewer-tung 
der Tat eine Rolle spielt und dass es 
für Mord Lebenslang gibt. 
Fischer: Die Weisheit des Laien ist eine 
schwankende Sache. Fraglich ist zum 
Beispiel, ob der Begriff der sogenannten 
niedrigen Beweggründe, der aus einem 
Totschlag einen Mord macht, überhaupt 
bestimmt genug ist. Tatsächlich steht die-ses 
Mordmerkmal von jeher fast beliebigen 
Wertungen offen. 
SPIEGEL: Kommt darin nicht zu Recht der 
Abscheu der Gesellschaft zum Ausdruck 
und damit eine besondere Straferwartung? 
Fischer: Selbstverständlich kann eine heim-tückische 
oder grausame oder für Dritte 
besonders gefährliche Tötung eines ande-ren 
Menschen härter bestraft werden als 
eine Tat, die gerade eben den Tatbestand 
des Totschlags erfüllt. Aber von jeder Re-gel 
gibt es Ausnahmen. Das Problem des 
heutigen Mord-Paragrafen ist, dass er Dif-ferenzierungen 
nicht zulässt und keine 
Möglichkeit bietet, Strafmilderungs- und 
Strafverschärfungsgründe abzuwägen. 
SPIEGEL: Was haben Sie dagegen, dass be-sonders 
niederträchtige Motive automa-tisch 
zu einer höheren Strafe führen? 
Fischer: Bei der Strafzumessung rechnen 
wir persönliche Schuld in Zeitquanten um 
und sagen dem Straftäter: Für deine ganz 
konkrete Schuld sperren wir dich 2, 7 oder 
15 Jahre lang in eine kleine Zelle. Der 
Mord-Paragraf fügt dieser in sich schlüssi-gen 
Korrespondenz von Schuld und Strafe 
einen Punkt hinzu, an dem jede Relation 
verlassen wird: Wer die Grenze zu einem 
Mordmerkmal nur einen Millimeter über-schreitet, 
wird in den Bereich absoluter 
Schuld katapultiert, auch wenn viele Mil-derungsgründe 
vorliegen. Das führt in der 
Praxis zu vielen ungerechten Ergebnissen. 
SPIEGEL: Geben Sie uns ein Beispiel. 
Fischer: Nehmen Sie die Tötung aus Eifer-sucht. 
Bei der Vernehmung sagen viele 
Verdächtige: „Ich war so wütend.“ Damit 
haben sie in dem Versuch, sich Verständnis 
zu verschaffen, womöglich schon ein Mord-merkmal, 
nämlich einen sogenannten nied-rigen 
Beweggrund, eingeräumt, und nichts 
kann sie dann aus dieser Nummer wieder 
herausholen. Es macht aber die Qualität 
eines Rechtsstaats aus, die Menschen nicht 
hereinzulegen und anzuerkennen, dass kei-ne 
Tat wie die andere ist. 
SPIEGEL: Was wäre Ihr Vorschlag? 
Fischer: Wichtig wäre, die lebenslange 
Freiheitsstrafe durch einen Strafrahmen zu 
ersetzen. Dann könnten wir die Strafzu-messungsgründe 
gegeneinander abwägen, 
etwa so: Diese Tat war zwar heimtü-ckisch 
– aber menschlich verständlich; jene 
Tat war grausam – aber das Opfer hatte 
den Täter zuvor genauso grausam behan-delt. 
Wir könnten weitere Umstände für 
und gegen den Beschuldigten berücksich-tigen. 
All dies ist heute im Strafrecht selbst-verständlich, 
nur nicht bei der Tötung. 
SPIEGEL: Das bisherige Lebenslang würde 
damit entfallen? 
Fischer: Einschließen bis zum Tod gibt es 
ja schon jetzt in der Praxis nur in Ausnah-mefällen. 
Zurzeit wird die lebenslange 
Freiheitsstrafe im Durchschnitt etwa 18 
Jahre vollstreckt; wenn die besondere 
Schwere der Schuld bejaht wird, im Durch-schnitt 
24 Jahre. Länger eingesperrt bleibt 
ein Verurteilter nur aus Gefährlichkeits-gründen. 
Das hat aber nichts mehr mit 
Schuldausgleich zu tun, sondern ist eine 
Art von Sicherungsverwahrung, und die 
wäre auch weiterhin möglich. 
SPIEGEL: Gäbe es nach einer solchen Reform 
nicht dennoch eher mildere Strafen? 
Fischer: Manchmal würde weniger heraus-kommen, 
manchmal mehr. Man könnte 
sich beispielsweise eine Regelung vorstel-len, 
nach der die Tötung eines Menschen 
mit Freiheitsstrafen von 5 bis 15 Jahren be-straft 
wird; mit 10 bis 25 Jahren, wenn der 
Täter habgierig, grausam oder aus men-schenverachtenden 
Motiven gehandelt hat; 
mit 5 bis 10 Jahren, wenn er provoziert 
wurde oder Ähnliches. So könnte die Stra-fe 
je nach den Tatumständen viel gerechter 
bestimmt werden als jetzt. 
SPIEGEL: Wäre für Sie dann die Eifersucht 
ein menschenverachtendes Motiv? 
Fischer: Etwa 50 Prozent der Tötungsdelik-te, 
die ich als Richter bearbeitet habe, hat-ten 
mit Eifersucht zu tun. Die Palette mei-ner 
eigenen Emotionen ging dabei von 
hohem Mitgefühl für den Täter bis zu völ-ligem 
Unverständnis. Zu sagen, Eifersucht 
sei stets ganz besonders verwerflich, halte 
ich schon empirisch für eher fernliegend. 
Im Übrigen ist auch der einfache Totschlag 
keine Tat aus ehrenwerten Motiven. Die 
Bewertung, ob das Gericht als Motiv 
„Zorn“ sieht oder „Hass“, kann den Un-terschied 
zwischen fünf Jahren und Le-benslang 
ausmachen. 
SPIEGEL: Aber den Mord als Begriff gäbe es 
dann nicht mehr, nur noch einen mehr 
oder weniger schlimmen Totschlag? 
Fischer: Die schwerste Form der Tötung 
mag weiter Mord genannt werden oder be-sonders 
schwere Tötung oder wie auch im-mer 
– solange die Formulierung an die Tat 
anknüpft und nicht, wie jetzt, an einen so-genannten 
Tätertyp, wie es dem NS-Straf-recht 
vorschwebte. 
SPIEGEL: Die großen Strafrechtsreformen 
von 1969 haben zunächst zu einer Halbie-rung 
von Gefängnisstrafen geführt. Das ist 
nicht überall auf Zustimmung gestoßen. 
Fischer: Zuvor wurden teilweise existenz-vernichtende 
Freiheitsstrafen wegen blo-ßer 
Bagatelldelikte verhängt. Dahin würde 
heute niemand zurückwollen. Anderer-seits 
haben wir Bereiche, in denen die 
Strafhöhen in den vergangenen Jahren 
eklatant gestiegen sind: bei den Sexual - 
delikten, auch bei der Körperverletzung. 
Rückfalltäter des sexuellen Missbrauchs 
erhielten vor 25 Jahren Bewährungsstrafen; 
heute würden dieselben Taten mit fünf 
Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Im Übri-gen 
ist die Annahme, das Strafrecht müsse 
nur möglichst hart sein, um Wirkung zu 
entfalten, ausgesprochen falsch. 
SPIEGEL: Die Menschen erwarten nun mal 
Vergeltung und Satisfaktion. 
Fischer: Beides sind Funktionen des Straf-rechts, 
die aber nicht im Vordergrund sei-ner 
Zwecke stehen. Stattdessen geht es da-rum, 
die Gesellschaft vor Wiederholungen 
zu schützen; und darum, klarzustellen, 
dass gesetzliche Verbote nicht unverbind-liche 
Vorschläge sind, sondern Essentialia 
des Zusammenlebens, und dass sie durch-gesetzt 
werden. 
SPIEGEL: Würden Sie einräumen, dass sich 
das Rechtsempfinden der Bevölkerung in 
Strafurteilen nicht immer wiederfindet? 
Fischer: Das kommt gelegentlich vor. Aller-dings 
ist das sogenannte Rechtsbewusst-sein 
der Bevölkerung ein schillerndes We-sen. 
Für sich selbst und seine Lieben möch-te 
jeder Bürger eine möglichst umfassende 
Beurteilung gerade seines Einzelfalls. Geht 
es um Dritte, will er Härte und Gnaden - 
losigkeit, in der Hoffnung, dass dies seine 
eigene Sicherheit steigert. Das Strafrecht 
muss die Mitte finden. 
SPIEGEL: Bei Immanuel Kant heißt es, es sei 
Aufgabe des Strafrechts, den Verbrecher 
mit einem Schmerz zu belegen. 
Fischer: Herr Professor Kant zählt bei den 
wenigsten zur Bettlektüre, auch nicht bei 
DER SPIEGEL 32 / 2014 21 
FOTOS: CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (L.); THOMAS GRABKA (R.) 
Gefängnis in Deutschland 
„Manches ist empörend“
Deutschland 
unseren Rechtspolitikern. Kaum taucht 
irgendwo eine Bande von Räubern auf, 
fordert ein Politiker, nun müsse die Strafe 
für Raub erhöht werden. Natürlich weiß 
er, dass die Höchststrafe schon jetzt bei 
15 Jahren liegt. Ist es vorstellbar, dass 
Straftäter in spe sich zusammensetzen 
und sagen: „Wenn’s maximal 15 Jahre 
gibt, machen wir’s, bei 16 Jahren lassen 
wir’s“? Das ist absurd, und solche For - 
derungen sind deshalb populistisches Ge-schwätz. 
Immanuel Kant ist dafür nicht 
verantwortlich. 
SPIEGEL: Inwieweit muss Rechtsprechung 
oder auch Gesetzgebung auf veränderte 
Moralvorstellungen reagieren? Der be-rühmte 
Stern-Titel „Ich habe abgetrieben“ 
war 1971 das Bekenntnis zu einer Straftat. 
Als darauf keine Anklagen folgten, war 
der alte Paragraf 218 politisch tot. 
Fischer: Es gibt kein Strafrecht ohne Moral. 
Aber es gibt natürlich auch kein Strafrecht 
der Moral. Wenn man Moral eins zu eins 
in Recht übersetzt, kommt eine totalitäre 
Ordnung heraus. Es ist die Aufgabe des 
Rechtsstaats, aus der Moral einen rationa-len 
Kernbestand von Regeln zu filtern, der 
eine handlungsleitende und gesellschafts-stabilisierende 
Funktion erfüllen kann. 
SPIEGEL: Die gesellschaftlichen Einstellun-gen 
zur Sexualmoral haben sich deutlich 
liberalisiert, außer wenn es um Kinder 
geht. Da haben die Vorbehalte erkennbar 
zugenommen. 
Fischer: Ich glaube, dass bei dem Thema 
Kinder und Sexualität ein großer Anteil 
von Irrationalität im Spiel ist. Wir erleben 
heute eine hysterisierte Überzeichnung, 
der eine empörende Gleichgültigkeit ge-genüber 
zahllosen anderen Missständen 
entspricht. Wo es um sexuell motivierten 
Missbrauch erwachsener Macht gegenüber 
Kindern geht, ist die Gesellschaft in den 
vergangenen 15 Jahren regelrecht in einen 
Strafrausch ausgeflippt. Gleichzeitig bleibt 
sie fast unbeteiligt gegenüber Traumatisie-rungen 
durch nichtsexuelle Gewalt. 
SPIEGEL: Sie haben sich in einem Artikel in 
der Zeit in die Diskussion um die Ermitt-lungen 
gegen den ehemaligen Bundestags-abgeordneten 
Sebastian Edathy eingeschal-tet, 
dem Erwerb und Besitz von Kinder-pornografie 
vorgeworfen wird. Sie hielten 
der Staatsanwaltschaft vor, vorschnell an 
die Öffentlichkeit gegangen zu sein. 
Fischer: Der Fall Edathy war zum Zeitpunkt 
meines Beitrags kein Fall im strafrecht - 
lichen Sinn. Es wurde nur behauptet, es 
sei ein Fall. Das war mein Grund, dazu zu 
schreiben. 
SPIEGEL: „Bitte entschuldigen Sie, Herr Eda-thy“ 
hieß die Überschrift Ihres Artikels. 
War das nicht etwas verfrüht? Immerhin 
ist jetzt Anklage erhoben worden. 
* Dietmar Hipp und Jan Fleischhauer im SPIEGEL-Haupt-stadtbüro. 
Abgeordneter Edathy 2013 
„Großer Anteil von Irrationalität“ 
Fischer: Eine Anklage ändert nichts daran, 
dass zuvor Regeln verletzt wurden. Edathy 
war ein halbwegs prominenter Politiker, 
und schon die Äußerung eines solchen Ver-dachts 
ist heute fast zwangsläufig mit einer 
sozialen Vernichtung verbunden. Wenn 
private Medien das inszenieren, ist das ver-achtenswert, 
aber schwer zu verhindern. 
Behörden dürfen dem aber keinesfalls eine 
Bühne bereiten. Für Edathy ist es fast 
gleichgültig, ob sich der Verdacht bestäti-gen 
wird oder nicht. Das hat in einem 
Rechtsstaat kein Beschuldigter verdient. 
SPIEGEL: Videos von halb nackten Kindern 
fallen bisher nicht ohne Weiteres unter 
Kinderpornografie. Aber dass jemand, der 
solche Dinge bestellt, auch richtig böses 
Zeug zu Hause hat, ist doch nicht so fern-liegend? 
Fischer: Eine solche Betrachtung mag für 
den Stammtisch ausreichend sein, als hand-lungsleitende 
Maxime einer Staatsanwalt-schaft 
ist sie es gewiss nicht. Der Staat darf 
nicht legales Verhalten zum Anlass neh-men, 
um in grundrechtlich geschützte Be-reiche 
seiner Bürger einzudringen und dort 
nachzuforschen, ob es vielleicht irgendeine 
Straftat gegeben hat, die man verfolgen 
könnte. Wer sich legal verhält, darf nicht 
zum Gegenstand von Verdächtigungen 
und sozialer Vernichtung gemacht werden. 
Kein Bürger unseres Rechtsstaats hat das 
hinzunehmen; niemand würde das für sich 
selbst akzeptieren. 
SPIEGEL: Anlässlich des Falls Edathy wird 
nun darüber diskutiert, den Besitz und Er-werb 
von Aufnahmen auch dann unter 
Strafe zu stellen, wenn diese keine expli-ziten 
sexuellen Handlungen zeigen, son-dern 
etwa nur ein nacktes Kind in der Ba-dewanne. 
Halten Sie das für legitim? 
Fischer: Abgesehen von der Albernheit, die 
in der Exekution eines solchen Vorhabens 
steckt: Das Sexualleben seiner Bürger geht 
den Staat nichts an, solange nicht ernst-hafte 
Verletzungen von Rechtsgütern vor-liegen 
oder drohen. Daher ist die Por - 
nografie straffrei. Mit allerlei Bedenken 
strafbar sind noch Kinderpornografie, Tier-pornografie 
und Gewaltpornografie. Die 
Forderung nach Ausdehnung des Porno-grafieverbots 
auf nichtpornografisches 
Material halte ich für völlig überzogen. 
SPIEGEL: Das Argument für die Bestrafung 
von Kinderpornografie ist, dass sie einen 
Markt erzeugt, für den am Ende tatsäch-lich 
Kinder missbraucht werden. 
Fischer: Solange eine Kette von Gefährdung 
nachvollziehbar ist, mögen Verbote legitim 
sein. Dass aber auch ein rein virtuelles, 
am Computer generiertes kinderpornogra-fisches 
Bild zur Strafbarkeit des Nutzers 
führen soll, ist fragwürdig, weil hier in der 
Realität gerade kein Kind missbraucht wur-de. 
Wir müssen den von Pädophilie betrof-fenen 
Menschen doch Handlungsalter - 
nativen anbieten, die potenzielle Opfer 
schützen und zugleich den Betroffenen ein 
Leben ohne Kriminalisierung ermöglichen. 
Pädophilie ist ein Schicksal; es ist kein 
Plan, Straftäter zu werden. 
SPIEGEL: Ähnlich heikel sehen manche Ju-risten 
die Bestrafung des Inzests, sofern 
dieser freiwillig und unter Erwachsenen 
erfolgt. Wie sehen Sie das? 
Fischer: Den Inzest zwischen erwachsenen, 
frei verantwortlichen Personen halte ich 
für nicht strafwürdig. Es handelt sich um 
freiwillige, einverständliche sexuelle Betä-tigung 
zwischen verständigen Menschen. 
Hier hat sich der Staat herauszuhalten. Al-les, 
was da an Legitimation von Strafver-folgung 
ins Feld geführt wird, hält rationa-ler 
Betrachtung nicht stand. Manches ist 
sogar empörend, etwa das Argument, dass 
die Gesundheit potenziell entstehender 
Kinder zu schützen sei. Dann müsste man 
ja auch alle Frauen einsperren, die vor, 
während oder nach der Schwangerschaft 
rauchen oder trinken, und die Männer 
gleich dazu. All das ist Moral und Sittlich-keit 
und was auch immer, mit den Aufga-ben 
des Strafrechts hat es nichts zu tun. 
SPIEGEL: Das Verfassungsgericht spricht so-gar 
von Eugenik – und akzeptiert das. 
Fischer: Das Urteil zum Inzest ist ein in je-der 
Hinsicht bemerkenswerter Ausrutscher 
unseres Bundesverfassungsgerichts. In der 
Sache ist der Inzest ein sehr gutes Beispiel 
dafür, dass ein Straftatbestand, der im Lau-fe 
der Zeit durch Veränderung aller gesell-schaftlichen 
Verständnisse sinnlos und da-her 
illegitim geworden ist, nicht länger auf-rechterhalten 
werden sollte. 
SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ihnen für 
dieses Gespräch. 
22 DER SPIEGEL 32 / 2014 
FOTOS: HC PLAMBECK / LAIF (O.); CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (U.) 
Fischer, SPIEGEL-Redakteure* 
„Die Weisheit des Laien ist schwankend“

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Reform des Mordparagrafen

  • 1. Deutschland Wenn es um Mord und Totschlag geht, dann regiert im deutschen Rechtsstaat manchmal der Zu-fall. Dann kann das Recht sehr ungerecht sein. Zwei Fälle, zwei Urteile: Der Rocker Ralf aus Nienburg schuldet den Kumpanen seines Motorradklubs 30 000 Euro. Ralf taucht unter, wochenlang suchen die eins-tigen Freunde nach ihm. Als sie ihn schließlich finden, fahren sie ihn an die A7. An einer Böschung sagt Anführer Bernd: „Auf die Knie, du Schwein!“ Ralf kniet. Dann erschießt ihn Bernd mit einer Pumpgun. Das Urteil gegen den Täter: Totschlag. Nach sechseinhalb Jahren ist Bernd wieder frei. Das Rockerleben kann weitergehen. Und dann gibt es den Fall von Otto, 75. Der Rentner aus Hamburg pflegt seit Jah-ren seine demente Frau Lydia, 88. Sie fleht ihren Mann an, sie nie ins Heim zu geben. Also rackert sich Otto ab: kochen, füttern, wenden, waschen, dazu die Gartenarbeit und das Einkaufen, jahrelang. Mit jedem Tag wird Lydia schwächer, täglich wächst die Last für Otto. Eines Morgens gehen Kaffeemaschine und Herd gleichzeitig kaputt, und im Schlafzimmer klagt Lydia über Schmerzen. Da geht Otto zu seiner Frau und drückt ihr ein Kissen aufs Ge-sicht, bis sie still ist. Dann verlässt er die Wohnung und wirft sich vor einen Bus. Aber er überlebt. Die Staatsanwaltschaft klagt ihn wegen heimtückischen Mordes an. Das Gesetz fordert für Otto lebenslan-ge Haft, frühestens nach 15 Jahren kann ein Mörder entlassen werden. Eine eiskalte Exekution soll ein simpler Totschlag sein, das Töten aus Verzweiflung und Mitleid ein Mord – ist das gerecht? „Sehr unbefriedigend“ nennt Heiko Maas solche Ergebnisse. Deshalb nimmt sich der Bundesjustizminister den Mord- Paragrafen vor, mehr als 70 Jahre nach dessen Entstehung. Er will die zentrale Norm des Strafrechts gerechter machen und ganz neue Maßstäbe dafür entwickeln, wie schwer welche Tat wiegt und wie hart welcher Täter zu bestrafen ist. Eine Ex-pertengruppe ist beauftragt, ihm ein Kon-zept zu erstellen. Die 16 Juristen, Krimi-nologen und Psychiater haben bei ihrer Empfehlung freie Hand. Bis hin zur kom-pletten Abschaffung des Mord-Paragrafen ist alles denkbar. Das Vorhaben, das nicht im Koalitions-vertrag steht, ist nicht nur juristisch hoch anspruchsvoll. Es ist die politisch wohl hei-kelste Reform, die ein Justizminister je an-gepackt hat. Denn wenn das Strafrecht und das Gerechtigkeitsgefühl der Bürger aufeinandertreffen, geht es selten harmo-nisch zu. Die Deutschen haben sich schon furchtbar über die Frage erregt, ob Frauen ein ungeborenes Kind ungestraft abtreiben dürfen oder ob ein Gesetz Muslime und Juden daran hindern soll, ihre Söhne nach religiösen Regeln zu beschneiden. Jetzt stellt Maas eine Vorschrift infrage, die den elementaren Grundsatz des menschlichen Zusammenlebens verkör-pert: Du sollst nicht morden. Die Debatte wird die meisten Deutschen unvorbereitet treffen. Juristenzirkel debat-tieren seit Jahrzehnten darüber, ob der Pa-ragraf 211 in einem Rechtsstaat noch trag-bar ist. Für Laien ist nur klar: Mord muss bestraft werden, und zwar feste. Sie dis-kutieren nicht über Tatbestandsmerkmale, sondern über die Frage, ob die Justiz zu nachsichtig ist mit Kinder- oder Ehrenmör-dern. Für viele ist jeder ein Mörder, der andere umbringt. Was geschähe, wenn dieses Wort abge-schafft würde? Der Entführer des kleinen Jakob von Metzler – nur ein Totschläger? Die Mutter, die ihr Baby verdursten lässt – keine Mör-derin? Der muslimische Vater, der die Tochter erwürgt, weil sie Minirock trägt und Alkohol trinkt – nach acht Jahren wie-der auf freiem Fuß? „Das wird eine Diskussion wie bei der Beschneidung, aber hoch drei“, seufzt ei-ner von Maas’ Beamten. Das Ministerium hatte dem SPD-Mann von seinen „Mord- Plänen“ abgeraten. Eine Reform des schwersten Deliktes im Strafrecht, auf das die Höchststrafe von lebenslanger Haft steht, werden sich die Koalitionspartner CDU und CSU nur gegen zähen Wider-stand abringen lassen. Denn eine ent - schiedene Verbrechensbekämpfung samt zünftiger Strafen für die Täter zählt zu den letzten Resten ihres konservativen Profils. Bayerns Justizminister Winfried Baus-back warnte bereits, niemand dürfe Le-benslang „durch die Hintertür“ abschaffen. „Unsere Rechtsordnung muss den absolu-ten Geltungsanspruch des Tötungstabus klar ausdrücken.“ Aber Maas hat auch ein moralisches Argument für seine Reform, das schwer-wiegt: Der Mord-Paragraf ist das Werk der DER SPIEGEL 32 / 2014 17 FOTOS: T. HOENIG / PLAINPICTURE (L.); WERNER SCHUERING (R.) Du sollst nicht morden Justiz Der Mord-Paragraf ist ein Relikt aus der Nazizeit. Justizminister Heiko Maas will das Gesetz jetzt von braunen Einflüssen reinigen und gerechter machen. Doch das Projekt ist heikel: Diese Reform könnte den Zorn der Bürger entfachen. Sozialdemokrat Maas: Was geschähe, wenn das Wort abgeschafft würde?
  • 2. Nationalsozialisten. Der spätere Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, hat-te die Vorschrift maßgeblich zu verantwor-ten; er wollte das Mordrecht dem „gesun-den Empfinden des Volkes“ anpassen. Sein Gesetz schilderte den Deutschen möglichst anschaulich die „Mördergestalten“, die sich unter ihnen tummelten. Mörder ist nach Freislers Umschreibung, wer einen Menschen heimtückisch oder grausam tötet, aus Habgier, zur Befriedi-gung seines Geschlechtstriebs oder aus anderen „niedrigen Beweggründen“. Kaum war die Vorschrift am 8. September 1941 im Reichsgesetzblatt erschienen, jubelte die Fachwelt. „Der bislang farblose Paragraf ist einer lebensvollen, anschaulichen Tatbe-standsumschreibung gewichen“, schwärmte ein Schüler Freislers. Für jeden Volksge-nossen sei nun klar: „Mörder wird man nicht, Mörder ist man.“ Die Lehre vom Tätertypen, vom gebo-renen Volksschädling, steht bis heute im Strafgesetzbuch. Abgesehen von der Ab-schaffung der Todesstrafe blieb Paragraf 211 seit dem Krieg unverändert. Ginge es Heiko Maas nur darum, das Recht von braunen Resten zu säubern, hät-te er auch weniger brisante Themen an-packen können. Es gibt Dutzende deutsche Gesetze mit Nazivergangenheit. Das Heil-praktikergesetz gehört dazu oder die Vor-schriften über die zulässige Höhe von Kleingartenhecken. Aber die Fälle von Rocker Bernd und Rentner Otto zeigen, dass Freislers Erbe nicht nur ideologisch vergiftet ist. Der Blutrichter hat eine Vor-schrift abgeliefert, die im Praxistest regel-mäßig versagt. Zwei Tote, zwei Urteile: Der Rocker passte in keine Schablone des Mord-Para-grafen. Weder ging er heimtückisch vor noch grausam oder habgierig. Die Richter werteten die Tötung als Exzess. Ursprüng-lich sei nur geplant gewesen, den Mann zu verprügeln. Dagegen verübte der Rentner nahezu lehrbuchmäßig einen Überraschungsan-griff gegen ein arg- und wehrloses Opfer – ein klarer Fall von Heimtücke. Hätte Lydia eine Lebensversicherung abgeschlossen, dann stünde auch noch Mord aus Habgier im Raum. Zwei Tötungen, zwei Leidensgeschich-ten: Der Rocker verbrachte seine letzten Minuten an der Autobahn in Todesangst. Die Tat hatte „Exekutionscharakter“, schreibt das Landgericht Kassel in seinem Urteil. „Das Opfer musste seinem Tod qua-si ins Auge sehen.“ Der Rentner tötete aus Verzweiflung, und vielleicht war die Tat für seine geliebte Frau auch eine Erlösung. Doch das spielt nach dem Gesetz keine Rolle. Wer vorsätzlich tötet und dabei ein Merkmal des Paragrafen 211 erfüllt, ist ein Mörder. Punkt. Er muss lebenslang be-straft werden, seine Tat verjährt niemals. Die soziale Situation, die individuelle Schuld zählen nicht. „Die Justiz bestraft nicht die schlimmste Tötung oder den bru-talsten Täter am härtesten“, sagt Raban Funk, Vorstand des Vereins Deutscher Strafverteidiger. Als Mörder gelten aus-gerechnet die Schwachen, die sich an-schleichen müssen. Die Vorschrift ist ungerecht. Aber die Richter wollen es nicht sein. In ihren Ge-richtssälen biegen sie die Fälle und das Recht so lange, bis beides irgendwie passt. Die Schwurgerichte und der Bundesge-richtshof (BGH) haben Umwege gefunden, um nicht alle Täter pauschal mit Lebens-lang zu bestrafen, sondern jeden nach sei-ner persönlichen Verantwortung. Sie lassen sich von Gutachtern attestieren, dass der Täter im Affekt gehandelt hat, vielleicht eine Aufmerksamkeitsstörung hatte und nicht wusste, was er tat. Nicht jede Tötung, die dem Opfer be-sondere Schmerzen zufügt, ist automatisch ein grausamer Mord. Die Richter fordern, dass der Täter aus einer „gefühllosen, un-barmherzigen Gesinnung“ heraus handel-te. Und es gilt längst nicht jeder Überra-schungsangriff auf Ahnungslose als heim-tückischer Mord. Die Staatsanwälte müssen beweisen, dass der Täter dem Opfer zu-tiefst „feindselig“ gesinnt war. Die Kreativität der Gerichte schützt ge-prügelte Ehefrauen, die ihren Haustyran-nen töten, indem sie ihm ein vergiftetes Abendessen servieren. Sie schützte auch Rentner Otto. Das Gericht gab ihm drei Jahre Haft für Totschlag in einem minder schweren Fall. Das Urteil hat wenig mit dem Gesetz zu tun, aber viel mit Gerech-tigkeit. Aber für gerechte Urteile müssen Richter eben hart an die Grenzen ihrer Befugnisse gehen. Das kann für den An-geklagten gut gehen, muss es aber nicht. „Der Gesetzgeber hat die Justiz mit der Verantwortung für den Mord-Paragrafen ein Stück weit allein gelassen“, sagt Stefan Caspari, Mitglied der Strafrechtskommis-sion des Deutschen Richterbundes. Das gilt vor allem für das Merkmal der „niedrigen Beweggründe“, das der natio-nalsozialistischen Ideologie in besonderer Weise entspricht. Mit ihm konnte das Drit-te Reich Täter nach ihren Motiven filtern: Wer „Feinde der Volksgemeinschaft“ eli-minierte, sollte vom Vorwurf des Mordes verschont bleiben. Bis heute ist dieses Mordmerkmal einer der seltenen Fälle im Strafrecht, in denen die Gesinnung des Täters entscheidet, für welche Tat er verurteilt wird. Normaler-weise zählen dafür objektive Kriterien: Der Dieb ist ein Räuber, wenn er Gewalt anwendet. Die Körperverletzung ist ge-fährlich, wenn der Täter eine Waffe schwingt. Motive interessieren die Richter erst, wenn sie die Höhe der Strafe festle-gen. „Für vorsätzliche Tötungen gibt es auch selten gute Gründe“, spottet der Vor-sitzende Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer. Die Gerichte müssen trotzdem täglich schlechte gegen besonders schlechte Grün-de abwägen. Auf Ausländerhass oder Ras-sismus kann man sich leicht einigen. Aber was ist mit krankhaftem Neid unter kon-kurrierenden Kollegen? Oder der Rache für die Tötung eines geliebten Menschen? Zu diesen Grenzfällen, auf die der Mord- Paragraf keine Antwort bietet, wuchert ein Dickicht von Urteilen, das auch Juris-ten kaum durchblicken. Eine Tötung aus Rache muss kein Mord sein, urteilte der BGH im Fall eines jungen Kurden. Der Mann hatte ein verfeindetes Clan-Oberhaupt vor dessen Haustür nie-dergeschossen, weil er sicher war, dass die-ser Mann seinen Vater getötet hatte. Die Rachegefühle eines trauernden Sohnes sei-en menschlich verständlich, urteilten die Richter. Nicht aber die Wut eines Neffen: Der Mittäter wurde wegen Mordes verur-teilt. Ist das gerecht? Die Justiz versucht, ein System zu schaffen. Doch in der Summe erscheinen ihre Urteile oft willkürlich. Wie die Entscheidungen zum Mord aus Eifersucht. Wer aus Liebe tötet, gilt als Mörder, sobald seine Gefühle „krass ei-gensüchtig“ erscheinen. Aber er kann mit Totschlag davonkommen, wenn die Ex-freundin ihn bei der Trennung gedemütigt hat. Oder wenn er fürchtet, wegen der Scheidung sein Aufenthaltsrecht zu ver-lieren. Alle diese niedrigen oder hehren Motive spielen sich im Kopf der Täter ab. Die Jus- 18 DER SPIEGEL 32 / 2014 Mord und Totschlag Tatbestandsmerkmale nach dem Strafgesetzbuch Mord § 211 Vorsätzliche Tötung mit Mordmerkmalen: Niedrige Beweggründe Mordlust, Befriedigung des Geschlechts-triebs, Habgier oder sonstige niedrige Beweggründe Besonders gefährliche und verwerfliche Begehungsweise Heimtückisch, grausam, mit gemein-gefährlichen Mitteln Verwerflichkeit des Ziels Verdeckung oder Ermöglichung einer Straftat Strafmaß: lebenslange Freiheitsstrafe Totschlag §§ 212, 213 Vorsätzliche Tötung ohne Mordmerkmale Strafmaß: mindestens fünf Jahre; im besonders schweren Fall lebenslange Freiheitsstrafe; im minder schweren Fall ein bis zehn Jahre
  • 3. Deutschland tiz ist darauf angewiesen, dass Angeklagte aussagen. Oder darauf, dass psychiatrische Gutachter die Seele des Täters erklären. So kann ein unvorsichtiger Satz im Verhör oder ein kluges Schweigen zur rechten Zeit schicksalhaft wirken. Die Expertengruppe von Heiko Maas hat sich inzwischen zweimal getroffen. Um den Tisch des Konferenzsaals in der fünften Etage des Ministeriums sind die Besten ihrer Zunft versammelt, ausge - wiesene Kenner der Strafjustiz und der menschlichen Psyche. Die pensionierte BGH-Senatsvorsitzende Ruth Rissing-van Saan, die den Kannibalen von Rotenburg als Mörder hinter Gitter brachte, ist dabei. Neben ihr sitzt der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber, der gerade an der FU Berlin in einem Langzeitprojekt ver-urteilte Mörder auf Gemeinsamkeiten un-tersucht. Die Experten haben Themen verteilt und halten Referate wie einst im Studium. Jedes Mordmerkmal wird durch-gekaut. Dabei kommen sie immer wieder auf eine Frage zurück: Kann man Tötungen überhaupt in schlimm und noch schlimmer trennen? Ist nicht jede solche Gewalttat einfach furchtbar? So denkt der Strafrechtsexperte Rüdiger Deckers, ein erfahrener Verteidiger. Er hat für den Deutschen Anwaltverein eines der radikalsten Reformkonzepte für den Mord- Paragrafen mitentwickelt. „Es ist eine Il-lusion zu glauben, dass sich Tötungen qua-litativ steigern lassen“, sagt Deckers. „Am Ende haben alle Fälle nur eines gemein-sam: Ein Mensch wurde umgebracht. Schlimmer geht es doch nicht.“ Deshalb gibt es in Deckers’ Reformkon-zept nur „Tötungen“, keinen Mord oder Totschlag. Die Taten unterscheiden sich lediglich in der Höhe der Strafzumessun-gen. Diese sollen die Richter frei bestim-men, auf einer Skala von fünf Jahren bis Lebenslang. Die Lösung klingt klar und einfach. Die meisten Deutschen haben den Unterschied zwischen Mord und Totschlag ohnehin nie nachvollzogen. In ihrer Vorstellung hat ein Mörder seine Tat eiskalt geplant, während der Totschläger ein spontaner Angreifer ist. Genau so stand es auch früher im Reichsstrafgesetzbuch – bis 1941. So kann es gut sein, dass die Experten Maas am Ende empfehlen, den gordischen Knoten zu durchtrennen: Nie mehr Mord. „Eine hochgefährliche Idee.“ Benedikt Pauka sitzt in seiner Kanzlei, einer Grün-derzeitvilla unweit des Kölner Doms. Im Konferenzraum mit Erker und Blick auf den Rhein empfängt er sonst Unternehmer, die Ärger mit der Steuerfahndung oder den Kartellbehörden haben. Aber jedes Jahr übernimmt der 43-Jährige auch mindestens einen Mordfall, obwohl die Mandate wenig einbringen, aber die Fälle seien „juristisch und menschlich faszinierend“. Den Mord-Paragraf abzuschaffen ist Verteidiger Pauka „unheimlich“, wie er sagt: „Wir sind auf dem bestem Wege, Richtern grenzenlose Macht zu geben.“ Er ist überzeugt: Viele seiner Klienten wären unter einem Paragrafen, der nur noch da-nach schaut, ob jemand gewaltsam ums Leben gekommen ist, nicht gerechter, son-dern härter bestraft worden. Paukas letzter Fall war der „Beton-Kil-ler“: Gerd Paulus, 52, arbeitslos, der seine Frau im Streit erwürgte. Den Kindern sag-te Paulus, die Mama sei weggelaufen. Tat-sächlich lag ihre Leiche im Keller, einbe-toniert hinter einem Weinregal. Sohn und Tochter glaubten dem Vater; jahrelang suchten sie ihre Mutter über die Polizei und im Fernsehen. Der Täter suchte ge-zwungenermaßen mit. Auf RTL weinte er um seine „verschwundene“ Frau. Nach fünf Jahren stand dann die Polizei vor sei-ner Tür, Paulus gestand sofort. Im März verurteilte ihn das Landgericht Bonn zu acht Jahren Haft – als Totschläger. Ein mildes Urteil. Die Richter hatten sich viel Arbeit gemacht: Sie befragten die Kin-der des Angeklagten, ließen sich von Me-dizinern die Verletzungen der Toten er-klären und von Psychiatern den Charakter des Witwers. Am Ende glaubten sie Pau-lus, dass er kein schlimmer Kerl sei. Dass seine Frau Sigrid ihn oft beschimpft und gedemütigt habe, auch vor den Kindern. Dass ihm eines Tages einfach die Siche-rung durchbrannte. Und dass er seine Tat nur vertuschte, weil die Kinder nicht auf einen Schlag beide Eltern verlieren sollten. Von da war es nur ein kleiner Schritt zu einem milden Urteil. Nach dem Konzept des Deutschen An-waltvereins hätten die Richter komplett anders denken müssen. Sie hätten Paulus erst für schuldig erklären und dann, nach eigenem Ermessen, die Strafe wählen müs-sen. „Dann könnte niemand verhindern, dass der Zeitgeist ein Urteil prägt oder die Stimmung der Medien und der Öffentlich-keit“, warnt Benedikt Pauka. Dem „Beton-Killer“ Paulus wünschten die Leute in Internetforen, er möge selbst eingemauert werden, am besten lebendig. Die Deutschen können gnadenlos sein, wenn es um Verbrechen und Strafe geht. Noch 1998 sagte in einer Umfrage jeder Zweite, dass Kindermörder die Todesstrafe verdienen. Umgekehrt können die Leute eine irra-tionale Sympathie für Mörder entfalten. Dem 15-jährigen Tobias aus Niedersach-sen, der seine Großeltern auf brutalste Art und Weise umgebracht hatte, schlug eine Welle der Sympathie entgegen, als sich he-rausstellte, dass er seine kleine Schwester DER SPIEGEL 32 / 2014 19 FOTO: PICTURE-ALLIANCE / DPA Volksgerichtshofpräsident Freisler 1944: „Mörder wird man nicht, Mörder ist man“ Für Kriminologen hat die härteste Strafe im deutschen Recht noch immer einen hohen symbolischen Wert.
  • 4. rächen wollte. Der Großvater hatte sie missbraucht. Die Solidarität der Bürger mit dem Mörder ging so weit, dass die Richter bei der Urteilsverkündung warn-ten, man möge Tobias nicht noch loben. „Das hätte ich auch getan“, hatte die Lo-kalzeitung Nachbarn zitiert. „Auf das Bauchgefühl der Bürger zu hören ist im Rechtsstaat selten eine gute Idee“, sagt To-bias’ Verteidiger Raban Funk. Der neue Mord-Paragraf müsse klare Wertungen enthalten. „Schließlich soll er in 50 Jahren auch noch gerechte Urteile ermöglichen.“ Vermutlich werden die Experten am Ende empfehlen, die Mordmerkmale nicht abzuschaffen, aber sie präziser zu fassen. Die niedrigen Beweggründe würden ganz gestrichen, so wie es auch der BGH-Richter Fischer fordert (siehe SPIEGEL-Ge-spräch). Das Gesetz muss ausdrücken, was eine Gesellschaft als besonders verwerflich empfindet. Verzichtet es auf diese Fest - legung, entfernt es sich vom allgemeinen Rechtsempfinden. Eine andere Frage ist, ob mit der Reform das automatische Verdikt Lebenslang fal-len soll. Für Kriminologen hat die härteste Strafe im deutschen Recht noch immer einen hohen symbolischen Wert. „Sie ist Ausdruck unserer Werte und stärkt das Sicherheitsgefühl der Bürger“, sagt Kai Bussmann, Kriminologe an der Uni Halle- Wittenberg. Für notwendig hält die Wis-senschaft es aber längst nicht mehr, dass ein Mörder im Durchschnitt 18 Jahre hinter Gittern verbringt. Bereits nach zehn Jah-ren im Gefängnis, so wusste es das Bun-desverfassungsgericht bereits 1977, emp-finden die Täter keine Reue, die Haft hat sie abgestumpft. Ihre Missetat ist so lange her, ihre Opfer sind so lange tot, dass bei-des für sie bedeutungslos geworden ist. Die Deutschen morden immer weniger. 2013 zählte die Polizei 647 Fälle, davon 406 Versuche. Wenn die Bürger töten, dann oft fahrlässig oder im Affekt. Die Täter, die vorsätzlich handeln, sind selten psycho - pathische Killer, wie man sie aus dem Kino kennt. Viele sind zuvor unbescholtene Bürger, die eine persönliche Rechnung zu begleichen haben. Gemordet wird unter Freunden, Verwandten, Kollegen. „Dass ein Fremder Sie einfach umbringt“, sagt Kriminologe Bussmann, „gehört in Deutschland nicht zum Lebensrisiko.“ Heiko Maas findet den Zeitpunkt seiner Reform ideal. Wenn wenig gemordet wird, haben die Deutschen vielleicht weniger Angst vor einer Reform des Mord-Gesetzes. Eine Vorgabe hat er seinen Experten al-lerdings gemacht, die einzige: Wenn sie an das Lebenslang gehen, sollen sie die Gemütslage der Bürger berücksichtigen. Ganz abschaffen geht nicht, das weiß Maas, und so hat er es den Juristen für ihre Beratungen auch mit auf den Weg ge-geben. Melanie Amann 20 DER SPIEGEL 32 / 2014 „Es gibt kein Strafrecht der Moral“ SPIEGEL-Gespräch Thomas Fischer, 61, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, über seinen Widerwillen gegen den Mord-Paragrafen, das Strafbedürfnis der Bürger und den Übereifer der Justiz im Fall Edathy
  • 5. Deutschland SPIEGEL: Herr Fischer, das Bundesjustizmi-nisterium plant die Reform des Mord-Para - grafen. Sie fordern im Prinzip sogar dessen Abschaffung. Was stört Sie so daran? Fischer: Man müsste eher fragen, was einen daran nicht stört. Der Mord-Paragaf sieht eine absolute Strafe vor, nämlich die lebens-lange Freiheitsstrafe. Wenn heute eines der sogenannten Mordmerkmale festgestellt ist, ist keineAbstufung der Strafe mehr möglich. Das ist kriminologisch unsinnig, denn im Leben gibt es eine Vielzahl von Abstufun-gen und Sonderfällen, denen man mit einer starren Strafe nicht gerecht werden kann. SPIEGEL: Was den Juristen vielleicht stört, erscheint dem Laien eher sinnvoll: dass die Gesinnung des Täters bei der Bewer-tung der Tat eine Rolle spielt und dass es für Mord Lebenslang gibt. Fischer: Die Weisheit des Laien ist eine schwankende Sache. Fraglich ist zum Beispiel, ob der Begriff der sogenannten niedrigen Beweggründe, der aus einem Totschlag einen Mord macht, überhaupt bestimmt genug ist. Tatsächlich steht die-ses Mordmerkmal von jeher fast beliebigen Wertungen offen. SPIEGEL: Kommt darin nicht zu Recht der Abscheu der Gesellschaft zum Ausdruck und damit eine besondere Straferwartung? Fischer: Selbstverständlich kann eine heim-tückische oder grausame oder für Dritte besonders gefährliche Tötung eines ande-ren Menschen härter bestraft werden als eine Tat, die gerade eben den Tatbestand des Totschlags erfüllt. Aber von jeder Re-gel gibt es Ausnahmen. Das Problem des heutigen Mord-Paragrafen ist, dass er Dif-ferenzierungen nicht zulässt und keine Möglichkeit bietet, Strafmilderungs- und Strafverschärfungsgründe abzuwägen. SPIEGEL: Was haben Sie dagegen, dass be-sonders niederträchtige Motive automa-tisch zu einer höheren Strafe führen? Fischer: Bei der Strafzumessung rechnen wir persönliche Schuld in Zeitquanten um und sagen dem Straftäter: Für deine ganz konkrete Schuld sperren wir dich 2, 7 oder 15 Jahre lang in eine kleine Zelle. Der Mord-Paragraf fügt dieser in sich schlüssi-gen Korrespondenz von Schuld und Strafe einen Punkt hinzu, an dem jede Relation verlassen wird: Wer die Grenze zu einem Mordmerkmal nur einen Millimeter über-schreitet, wird in den Bereich absoluter Schuld katapultiert, auch wenn viele Mil-derungsgründe vorliegen. Das führt in der Praxis zu vielen ungerechten Ergebnissen. SPIEGEL: Geben Sie uns ein Beispiel. Fischer: Nehmen Sie die Tötung aus Eifer-sucht. Bei der Vernehmung sagen viele Verdächtige: „Ich war so wütend.“ Damit haben sie in dem Versuch, sich Verständnis zu verschaffen, womöglich schon ein Mord-merkmal, nämlich einen sogenannten nied-rigen Beweggrund, eingeräumt, und nichts kann sie dann aus dieser Nummer wieder herausholen. Es macht aber die Qualität eines Rechtsstaats aus, die Menschen nicht hereinzulegen und anzuerkennen, dass kei-ne Tat wie die andere ist. SPIEGEL: Was wäre Ihr Vorschlag? Fischer: Wichtig wäre, die lebenslange Freiheitsstrafe durch einen Strafrahmen zu ersetzen. Dann könnten wir die Strafzu-messungsgründe gegeneinander abwägen, etwa so: Diese Tat war zwar heimtü-ckisch – aber menschlich verständlich; jene Tat war grausam – aber das Opfer hatte den Täter zuvor genauso grausam behan-delt. Wir könnten weitere Umstände für und gegen den Beschuldigten berücksich-tigen. All dies ist heute im Strafrecht selbst-verständlich, nur nicht bei der Tötung. SPIEGEL: Das bisherige Lebenslang würde damit entfallen? Fischer: Einschließen bis zum Tod gibt es ja schon jetzt in der Praxis nur in Ausnah-mefällen. Zurzeit wird die lebenslange Freiheitsstrafe im Durchschnitt etwa 18 Jahre vollstreckt; wenn die besondere Schwere der Schuld bejaht wird, im Durch-schnitt 24 Jahre. Länger eingesperrt bleibt ein Verurteilter nur aus Gefährlichkeits-gründen. Das hat aber nichts mehr mit Schuldausgleich zu tun, sondern ist eine Art von Sicherungsverwahrung, und die wäre auch weiterhin möglich. SPIEGEL: Gäbe es nach einer solchen Reform nicht dennoch eher mildere Strafen? Fischer: Manchmal würde weniger heraus-kommen, manchmal mehr. Man könnte sich beispielsweise eine Regelung vorstel-len, nach der die Tötung eines Menschen mit Freiheitsstrafen von 5 bis 15 Jahren be-straft wird; mit 10 bis 25 Jahren, wenn der Täter habgierig, grausam oder aus men-schenverachtenden Motiven gehandelt hat; mit 5 bis 10 Jahren, wenn er provoziert wurde oder Ähnliches. So könnte die Stra-fe je nach den Tatumständen viel gerechter bestimmt werden als jetzt. SPIEGEL: Wäre für Sie dann die Eifersucht ein menschenverachtendes Motiv? Fischer: Etwa 50 Prozent der Tötungsdelik-te, die ich als Richter bearbeitet habe, hat-ten mit Eifersucht zu tun. Die Palette mei-ner eigenen Emotionen ging dabei von hohem Mitgefühl für den Täter bis zu völ-ligem Unverständnis. Zu sagen, Eifersucht sei stets ganz besonders verwerflich, halte ich schon empirisch für eher fernliegend. Im Übrigen ist auch der einfache Totschlag keine Tat aus ehrenwerten Motiven. Die Bewertung, ob das Gericht als Motiv „Zorn“ sieht oder „Hass“, kann den Un-terschied zwischen fünf Jahren und Le-benslang ausmachen. SPIEGEL: Aber den Mord als Begriff gäbe es dann nicht mehr, nur noch einen mehr oder weniger schlimmen Totschlag? Fischer: Die schwerste Form der Tötung mag weiter Mord genannt werden oder be-sonders schwere Tötung oder wie auch im-mer – solange die Formulierung an die Tat anknüpft und nicht, wie jetzt, an einen so-genannten Tätertyp, wie es dem NS-Straf-recht vorschwebte. SPIEGEL: Die großen Strafrechtsreformen von 1969 haben zunächst zu einer Halbie-rung von Gefängnisstrafen geführt. Das ist nicht überall auf Zustimmung gestoßen. Fischer: Zuvor wurden teilweise existenz-vernichtende Freiheitsstrafen wegen blo-ßer Bagatelldelikte verhängt. Dahin würde heute niemand zurückwollen. Anderer-seits haben wir Bereiche, in denen die Strafhöhen in den vergangenen Jahren eklatant gestiegen sind: bei den Sexual - delikten, auch bei der Körperverletzung. Rückfalltäter des sexuellen Missbrauchs erhielten vor 25 Jahren Bewährungsstrafen; heute würden dieselben Taten mit fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Im Übri-gen ist die Annahme, das Strafrecht müsse nur möglichst hart sein, um Wirkung zu entfalten, ausgesprochen falsch. SPIEGEL: Die Menschen erwarten nun mal Vergeltung und Satisfaktion. Fischer: Beides sind Funktionen des Straf-rechts, die aber nicht im Vordergrund sei-ner Zwecke stehen. Stattdessen geht es da-rum, die Gesellschaft vor Wiederholungen zu schützen; und darum, klarzustellen, dass gesetzliche Verbote nicht unverbind-liche Vorschläge sind, sondern Essentialia des Zusammenlebens, und dass sie durch-gesetzt werden. SPIEGEL: Würden Sie einräumen, dass sich das Rechtsempfinden der Bevölkerung in Strafurteilen nicht immer wiederfindet? Fischer: Das kommt gelegentlich vor. Aller-dings ist das sogenannte Rechtsbewusst-sein der Bevölkerung ein schillerndes We-sen. Für sich selbst und seine Lieben möch-te jeder Bürger eine möglichst umfassende Beurteilung gerade seines Einzelfalls. Geht es um Dritte, will er Härte und Gnaden - losigkeit, in der Hoffnung, dass dies seine eigene Sicherheit steigert. Das Strafrecht muss die Mitte finden. SPIEGEL: Bei Immanuel Kant heißt es, es sei Aufgabe des Strafrechts, den Verbrecher mit einem Schmerz zu belegen. Fischer: Herr Professor Kant zählt bei den wenigsten zur Bettlektüre, auch nicht bei DER SPIEGEL 32 / 2014 21 FOTOS: CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (L.); THOMAS GRABKA (R.) Gefängnis in Deutschland „Manches ist empörend“
  • 6. Deutschland unseren Rechtspolitikern. Kaum taucht irgendwo eine Bande von Räubern auf, fordert ein Politiker, nun müsse die Strafe für Raub erhöht werden. Natürlich weiß er, dass die Höchststrafe schon jetzt bei 15 Jahren liegt. Ist es vorstellbar, dass Straftäter in spe sich zusammensetzen und sagen: „Wenn’s maximal 15 Jahre gibt, machen wir’s, bei 16 Jahren lassen wir’s“? Das ist absurd, und solche For - derungen sind deshalb populistisches Ge-schwätz. Immanuel Kant ist dafür nicht verantwortlich. SPIEGEL: Inwieweit muss Rechtsprechung oder auch Gesetzgebung auf veränderte Moralvorstellungen reagieren? Der be-rühmte Stern-Titel „Ich habe abgetrieben“ war 1971 das Bekenntnis zu einer Straftat. Als darauf keine Anklagen folgten, war der alte Paragraf 218 politisch tot. Fischer: Es gibt kein Strafrecht ohne Moral. Aber es gibt natürlich auch kein Strafrecht der Moral. Wenn man Moral eins zu eins in Recht übersetzt, kommt eine totalitäre Ordnung heraus. Es ist die Aufgabe des Rechtsstaats, aus der Moral einen rationa-len Kernbestand von Regeln zu filtern, der eine handlungsleitende und gesellschafts-stabilisierende Funktion erfüllen kann. SPIEGEL: Die gesellschaftlichen Einstellun-gen zur Sexualmoral haben sich deutlich liberalisiert, außer wenn es um Kinder geht. Da haben die Vorbehalte erkennbar zugenommen. Fischer: Ich glaube, dass bei dem Thema Kinder und Sexualität ein großer Anteil von Irrationalität im Spiel ist. Wir erleben heute eine hysterisierte Überzeichnung, der eine empörende Gleichgültigkeit ge-genüber zahllosen anderen Missständen entspricht. Wo es um sexuell motivierten Missbrauch erwachsener Macht gegenüber Kindern geht, ist die Gesellschaft in den vergangenen 15 Jahren regelrecht in einen Strafrausch ausgeflippt. Gleichzeitig bleibt sie fast unbeteiligt gegenüber Traumatisie-rungen durch nichtsexuelle Gewalt. SPIEGEL: Sie haben sich in einem Artikel in der Zeit in die Diskussion um die Ermitt-lungen gegen den ehemaligen Bundestags-abgeordneten Sebastian Edathy eingeschal-tet, dem Erwerb und Besitz von Kinder-pornografie vorgeworfen wird. Sie hielten der Staatsanwaltschaft vor, vorschnell an die Öffentlichkeit gegangen zu sein. Fischer: Der Fall Edathy war zum Zeitpunkt meines Beitrags kein Fall im strafrecht - lichen Sinn. Es wurde nur behauptet, es sei ein Fall. Das war mein Grund, dazu zu schreiben. SPIEGEL: „Bitte entschuldigen Sie, Herr Eda-thy“ hieß die Überschrift Ihres Artikels. War das nicht etwas verfrüht? Immerhin ist jetzt Anklage erhoben worden. * Dietmar Hipp und Jan Fleischhauer im SPIEGEL-Haupt-stadtbüro. Abgeordneter Edathy 2013 „Großer Anteil von Irrationalität“ Fischer: Eine Anklage ändert nichts daran, dass zuvor Regeln verletzt wurden. Edathy war ein halbwegs prominenter Politiker, und schon die Äußerung eines solchen Ver-dachts ist heute fast zwangsläufig mit einer sozialen Vernichtung verbunden. Wenn private Medien das inszenieren, ist das ver-achtenswert, aber schwer zu verhindern. Behörden dürfen dem aber keinesfalls eine Bühne bereiten. Für Edathy ist es fast gleichgültig, ob sich der Verdacht bestäti-gen wird oder nicht. Das hat in einem Rechtsstaat kein Beschuldigter verdient. SPIEGEL: Videos von halb nackten Kindern fallen bisher nicht ohne Weiteres unter Kinderpornografie. Aber dass jemand, der solche Dinge bestellt, auch richtig böses Zeug zu Hause hat, ist doch nicht so fern-liegend? Fischer: Eine solche Betrachtung mag für den Stammtisch ausreichend sein, als hand-lungsleitende Maxime einer Staatsanwalt-schaft ist sie es gewiss nicht. Der Staat darf nicht legales Verhalten zum Anlass neh-men, um in grundrechtlich geschützte Be-reiche seiner Bürger einzudringen und dort nachzuforschen, ob es vielleicht irgendeine Straftat gegeben hat, die man verfolgen könnte. Wer sich legal verhält, darf nicht zum Gegenstand von Verdächtigungen und sozialer Vernichtung gemacht werden. Kein Bürger unseres Rechtsstaats hat das hinzunehmen; niemand würde das für sich selbst akzeptieren. SPIEGEL: Anlässlich des Falls Edathy wird nun darüber diskutiert, den Besitz und Er-werb von Aufnahmen auch dann unter Strafe zu stellen, wenn diese keine expli-ziten sexuellen Handlungen zeigen, son-dern etwa nur ein nacktes Kind in der Ba-dewanne. Halten Sie das für legitim? Fischer: Abgesehen von der Albernheit, die in der Exekution eines solchen Vorhabens steckt: Das Sexualleben seiner Bürger geht den Staat nichts an, solange nicht ernst-hafte Verletzungen von Rechtsgütern vor-liegen oder drohen. Daher ist die Por - nografie straffrei. Mit allerlei Bedenken strafbar sind noch Kinderpornografie, Tier-pornografie und Gewaltpornografie. Die Forderung nach Ausdehnung des Porno-grafieverbots auf nichtpornografisches Material halte ich für völlig überzogen. SPIEGEL: Das Argument für die Bestrafung von Kinderpornografie ist, dass sie einen Markt erzeugt, für den am Ende tatsäch-lich Kinder missbraucht werden. Fischer: Solange eine Kette von Gefährdung nachvollziehbar ist, mögen Verbote legitim sein. Dass aber auch ein rein virtuelles, am Computer generiertes kinderpornogra-fisches Bild zur Strafbarkeit des Nutzers führen soll, ist fragwürdig, weil hier in der Realität gerade kein Kind missbraucht wur-de. Wir müssen den von Pädophilie betrof-fenen Menschen doch Handlungsalter - nativen anbieten, die potenzielle Opfer schützen und zugleich den Betroffenen ein Leben ohne Kriminalisierung ermöglichen. Pädophilie ist ein Schicksal; es ist kein Plan, Straftäter zu werden. SPIEGEL: Ähnlich heikel sehen manche Ju-risten die Bestrafung des Inzests, sofern dieser freiwillig und unter Erwachsenen erfolgt. Wie sehen Sie das? Fischer: Den Inzest zwischen erwachsenen, frei verantwortlichen Personen halte ich für nicht strafwürdig. Es handelt sich um freiwillige, einverständliche sexuelle Betä-tigung zwischen verständigen Menschen. Hier hat sich der Staat herauszuhalten. Al-les, was da an Legitimation von Strafver-folgung ins Feld geführt wird, hält rationa-ler Betrachtung nicht stand. Manches ist sogar empörend, etwa das Argument, dass die Gesundheit potenziell entstehender Kinder zu schützen sei. Dann müsste man ja auch alle Frauen einsperren, die vor, während oder nach der Schwangerschaft rauchen oder trinken, und die Männer gleich dazu. All das ist Moral und Sittlich-keit und was auch immer, mit den Aufga-ben des Strafrechts hat es nichts zu tun. SPIEGEL: Das Verfassungsgericht spricht so-gar von Eugenik – und akzeptiert das. Fischer: Das Urteil zum Inzest ist ein in je-der Hinsicht bemerkenswerter Ausrutscher unseres Bundesverfassungsgerichts. In der Sache ist der Inzest ein sehr gutes Beispiel dafür, dass ein Straftatbestand, der im Lau-fe der Zeit durch Veränderung aller gesell-schaftlichen Verständnisse sinnlos und da-her illegitim geworden ist, nicht länger auf-rechterhalten werden sollte. SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 22 DER SPIEGEL 32 / 2014 FOTOS: HC PLAMBECK / LAIF (O.); CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (U.) Fischer, SPIEGEL-Redakteure* „Die Weisheit des Laien ist schwankend“