1. Wild
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Text & Fotos: Moritz Kempf
Wald, Wiesen und Natur kennen wir von
Kindesbeinen an. Doch auch diese Fassade
hat seine Tiefe. Nico lebt diesen Kontrast
selbst – und ermöglicht uns so einen Blick
hinter die Kulissen.
Wir erinnern uns an Erde unter unseren Finger
nägeln, die wir bemerkten als wir beim Hüttenbau
im Wald kurz inne hielten. Die dunkelbraune
Färbung des Waschbeckens beim Händewaschen
nach einem ausgiebigen Tag auf Erdhügeln und
Bolzplätzen ist für einige heute eine Erinnerung
an Freiheit und Unbeschwertheit.
So, wie damals unsere Eltern im Hintergrund
die verschmutzte Wäsche gewaschen und das
Treppenhaus gekehrt haben, waren es Förster wie
Nico, welche unsere Besuche in den Wäldern zu
unvergesslichen Momenten machen.
Er ist einer dieser »Waldverwalter«. Er ist
gebürtiger Koreaner. Südkoreaner, wie er bewusst
betont. Er sitzt zusammen mit seiner Freundin
und seinem Hund »Bär« mit mir am Tisch im
Clubhaus seiner Ersatzfamilie, dem »Black Devils
MC«, wobei das »MC« für Motorrad Club steht.
Nico ist Kuttenträger beim Chapter Bodensee
und ist vollwertiges Mitglied. Der Motorrad Club
bedeutet ihm sehr viel, seine Kollegen sind für ihn
wie Brüder, erzählt er mir mit leuchtenden Augen.
Ich blicke mich um. Das Clubhaus ist dunkel, hier
wurde viel schwarzgemalt. Die Gruppenbilder
an der Wand zeigen dunkel gekleidete Männer,
manchmal auch Frauen. Das Leder an ihren Kör
pern ist mit Lettern und Symbolen bestückt, die
sichtbare Haut meist großflächig tätowiert.
Als werdendes Clubmitglied, dem sogenann
ten Prospekt, muss man eine lange Zeit zum Teil
harte Proben bestehen, um damit unter Beweis zu
stellen, dass man es ernst mit der Mitgliedschaft
meint. Dabei gibt es oft sehr amüsante Momen
te, berichtet mir Nico. Nebeneffekt, welcher den
Zusammenhalt des Clubs noch stärkt, ist das
gesellschaftliche Bild. Motorradfahrer, welche in
schwarzen Lederkutten die Zugehörigkeit zu ih
rem Chapter zur Schau stellen, sind im Volksmund
Verbrecher, Geächtete, Heimatlose und gewalttäti
ge Menschen.
Mit vier Jahren kam Nico von Südkorea nach
Deutschland und wurde im Kindergarten einge
gliedert. Seine Eltern, die Mutter aus Südkorea
und sein Vater aus Deutschland, beschlossen, sich
in der Heimat des Vaters niederzulassen.
Die regelmäßigen Besuche in Südkorea hat
Nico seit dem 13. Lebensjahr nicht weiter verfolgt.
Der Kontakt zur Großmutter brach bis heute
jedoch nicht ab.
»Als mein Vater sich erschossen hat, landeten
meine Mutter und ich auf der Straße. Wir hatten
keinen Kontakt zum deutschen Familienteil und
waren komplett auf uns alleine gestellt.« Der Satz
sitzt und rollt so unbeschwert und dabei authen
tisch über seine Lippen, dass man daran ableiten
kann, wie stark und stabil dieser junge Mann ist.
Sein Schicksal konnte er unter anderem als
Mitglied im »Black Devils MC« verarbeiten. Dort
hat man ihn aufgefangen und mit einem Werte
Er
sieht
etwas,
das
du
nicht
siehst
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2. system und Regeln versehen, die ihn aufbauten
und ihm den notwendigen Halt gaben und geben.
Ein Wald ist ein Betrieb
Eine starke Verbindung, welche Nico über den
Tod hinaus mit seinem Vater hat, ist die Leiden
schaft für die Natur. »Er hätte selbst gerne Förster
werden wollen, doch die Ausbildung war für ihn
damals nicht erschwinglich. Er wollte mir seinen
Traum ermöglichen, ohne dass er mich dazu
zwang!« Aus reiner Neugier absolvierte Nico ein
zweiwöchiges Praktikum zur Berufsorientierung
in einem Forstbetrieb während der 8. Klasse.
»Dann hat’s Klick gemacht!«, so Nico.
Die Aufgaben eines Försters sind so vielseitig,
dass man sehr schnell versteht, warum man diesen
Beruf studieren muss. Bei einem Spaziergang
durch den Wald erklärt er mir jede Pflanzenart auf
Anhieb. Er kann lesen, ob ein Baum gesund oder
angeschlagen ist, und sieht im Wildwuchs von
Maiglöckchen ein Zeichen für einen sehr basen
haltigen Boden.
»Viele Menschen denken, Wald ist Natur, die
sich selbst überlassen wird.«, erklärt er mir.
»Dabei ist ein Wald ein komplexes Gebilde,
welches von Menschenhand erschaffen wurde.«
Die Wälder, so wie wir sie kennen, sind die Ar
beit hunderter Förster, die alle ihr eigenes Revier
haben und dort verantwortlich für die Instand
haltung, Pflege und Regulierung sind. Ein Förster
sieht den Wald als harmonisches Konstrukt. Da
es lebendig ist, muss es stets gepflegt und organi
siert werden. Dabei benötigt es ein Gefühl und das
Auge für die Natur im Detail.
Wer schon einmal durch den Wald spaziert
ist und sich wunderte, wieso Reifenprofile, die
auf riesige Baumaschinen schließen lassen, im
Waldboden zu erkennen sind, der hat die Spu
ren der Waldarbeiter bemerkt. Die sogenannten
Rückegassen ziehen sich wie ein geometrisches
Netz durch die Wälder. Sie werden befahren, wenn
gefällte Bäume abtransportiert werden müssen.
Anders als befestigte Kieswege, wachsen Rücke
gassen wieder zu. Das ist der Grund, wieso sie
meist sehr weich und matschig und die Reifenspu
ren dadurch gut sichtbar sind.
»Ich glaube, das Wort Zufall hat seinen
Ursprung in der Forstwirtschaft«, bemerkt Nico
lachend. »Die Bäume, die gefällt werden, müssen
immer in Richtung der Rückegasse fallen. Das
kann man beim Ansägen berücksichtigen. Diesen
Vorgang nennt man den Zufall.«
Genauso wie »Den Finger krumm machen«,
womit man den Finger am Abzug einer Jagdwaffe
meint, Sinnbild für die anstrengende Arbeit auf
der Jagd ist.
Beim weiteren Spazieren fallen mir einige
morsche, tote Bäume auf, die halbhoch wie Ge
spenster im Wald stehen. Auf Nachfrage erklärt
mir Nico, dass das sogenannte Totholz, welches
absichtlich im Wald stehen oder liegen gelassen
wird, Lebensraum für Tiere ist. Im Prozess der
Rückführung wird der Baum sich selbst überlassen
und sehr langsam zersetzt.
Bevor er ein Teil des Humus wird, siedeln sich
dort Käfer, Würmer und andere Lebewesen an.
»Das muss man sich vorstellen wie das Schiffs
wrack, das man absichtlich im See versenkt, um
Fischen und anderen Lebewesen einen Lebens
raum zu geben.«, erfahre ich.
»Es gibt viele Modelle, die zeigen, dass wir
Menschen es einfach nicht verstehen wollen und
vorsätzlich unseren Lebensraum zerstören. Eines
davon ist der Plantagenbau. Damit wird versucht,
das Reifen von Nutzpflanzen künstlich zu be
schleunigen, um schneller ernten zu können. Das
ist Raubbau am Boden, da ihm durch die soge
nannte Monokulturen die Nährstoffe und Mine
ralstoffe entzogen werden.« Nicos Erregung ist
spürbar und ich frage nach mehr Info: »Die Arbeit
des Försters geschieht immer mit den natürlichen
Prozessen. Die Arbeit richtet sich an der Natur
aus, nicht die Natur an uns. Das geht nie gut!«
Im weiteren Gespräch lerne ich, dass die
Produkte der forstwirtschaftlichen Arbeit das
Wild oder das Holz sind. Die Arbeit wird an den
Festmetern Holz gemessen, welche aus dem Wald
kommen. Ein Festmeter entspricht ca. einem
Kubikmeter.
Es ist erstaunlich, wenn man sich vorstellt, dass
es ca. 100 Jahre dauert, bis der Prozess eines Waldes
vollständig funktioniert. Junge Bäume werden an
den passenden Stellen zugepflanzt und wachsen kon
trolliert. Alte Bäume werden abgeholzt und fließen
zum Teil in die Humusbildung mit ein. Der Humus
hält den Boden nährstoffreich und versorgt damit
die heranwachsenden Jungbäume und Pflanzen.
Ein Baum wird erst dann gefällt und das Holz
verarbeitet, wenn er krank ist oder zu dominant
wird. Man achtet auf den Ausgleich und investiert
in die Pflege.
»Das hier ist die Pest! Da haben wir uns echt
was Blödes importiert!«, grummelt Nico und zeigt
auf einen großen Büschel neben dem Weg.
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Nach dem Selbstmord meines Vaters fand ich im
»Black Devils MC« eine neue Familie. Der Club
bedeutet mir sehr viel, meine Kollegen sind wie Brüder .
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3. Er meint das indische Springkraut, das im
Wald als rosa blühendes, hochwachsendes Un
kraut zu erkennen ist und in Europa als invasiver
Neophyt gilt. »Dieses Kraut raubt Nährstoffe aus
dem Boden und nimmt anderen Pflanzenarten den
Lebensraum weg. Es ist in unserer Gegend weit
verbreitet und vermehrt sich rasant. Zum Glück
wächst das nur in sehr feuchten Gebieten, sonst
hätten wir das überall im Wald!«
Jage nur, was du auch töten kannst
Wir laufen auf eine Lichtung. Der Boden ist
sehr weich, ich sinke jedoch nicht ein, weil eine
Grasschicht mich daran hindert. Mein Blick wan
dert umher und bleibt an einem orangen Haufen
haften, der irgendwie unnatürlich und platziert
aussieht.
»Das ist Apfeltrester«, kommt Nico meiner
Frage zuvor. »Das positioniert man immer dort,
wo man freie Sicht auf das Wild hat, das diese
Köstlichkeit fressen wird.« Nico blickt umher
und macht den einzigen Hochsitz am Waldrand
aus. »Ah ok, sitzt keiner drin! Ich musste gerade
schnell überprüfen, ob wir in der Schussbahn sind
und einen Jäger stören.«
Trester ist das Abfallprodukt aus der Kelterei
und ist ein natürliches Lockmittel für Rehe und
Wildschweine. »Es riecht so gut, dass die Tiere um
sich herum fast alles vergessen«, ergänzt Nico.
Die Vorstellung, alleine und fernab der Wege
durch den Wald zu laufen oder dort zu spielen, ist
magisch. Im Gegensatz zu Kanada, wo man unter
Umständen von Cougars gejagt wird, ist das bei
uns eher ungefährlich, denken viele.
»Wenn dir ein süßlicher, sehr intensiver
Gestank in die Nase steigt, oder du eines dieser
kleinen, süßen Wildschweinchen im Wald sehen
solltest, dann nimm die Beine in die Hand und
renne in die entgegengesetzte Richtung!«, legt mir
Nico nahe. Er ergänzt: »Die Bache ist in solchen
Fällen nicht weit und diese Tiere können ausge
wachsen in so einer Situation zu einem großen
Wenn du eines dieser kleinen, süssen
Wildschweinchen im Wald sehen solltest,
dann nimm die Beine in die Hand
und renne in die entgegengesetzte Richtung!
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Problem werden. Die sich verteidigende Mutter
rennt auf dich zu und haut dir ihre Stoßzähne
in die Innenschenkel. Dort verläuft eine Haupt
schlagader und du könntest verbluten. Es gab zwar
nicht viele Zusammenstöße hier in der Gegend,
doch wenn, dann waren das Geschichten für’s
Krankenhaus!«
Ich glaube es zwar kaum, aber Nico prognos
tiziert, dass wir in drei bis vier Jahren auch in
unseren Wäldern wieder Wölfe erwarten kön
nen. Diese würden sich über den Osten in Ba
denWurthemberg und Vorarlberg ansiedeln und
so immer weiter vorrücken, erklärt er mir.
Die Jagd ist nichts anderes als ein weiterer
Regulierungsprozess im Forstbetrieb. Man schützt
Bestände vor Überbevölkerung und Krankheiten.
»Diese Vegikultur hat gute Ansätze, doch
wissen die meisten von denen, die mich als Jäger
kritisieren, nicht, dass ich nicht willkürlich durch
den Wald renne und auf Tiere schieße. Bedeuten
der Teil meiner Ausbildung war das Töten von
Wildtieren. Dort habe ich gelernt, wie man auf
große Distanz effektiv und schmerzfrei tötet. Das
reicht bis in die Anatomie, denn ich muss das Tier
ja später ausnehmen und das Fleisch für die Wei
terverarbeitung vorbereiten.«
Der Spaziergang neigt sich dem Ende zu.
Meine Gedanken bleiben noch haften an diesem
schönen Erlebnis mitten im Grünen.
Nico ist ein Mensch der Kontraste. Der bunt
tätowierte Muskelberg mit Kampfsportausbildung,
der in seiner Kutte und mit der schwarzen Klei
dung nahezu bedrohlich wirkt, ist aus der anderen
Perspektive ein aufmerksamer Zeitgenosse, der
sich liebevoll um Hund und Freundin kümmert
und mit enormem Wissen über unsere so ge
schätzte Natur beeindruckt.
Er ist einer, der einst im Wald Hütten baute
und heute selbst dafür sorgt, dass das auch weiter
möglich sein kann.
Nico ist derzeit auf der Suche nach einer Stelle
in der Forstwirtschaft. Er spielt aus dieser Not
heraus mit den Gedanken, ein Maschinenbau
studium zu beginnen, weil er in seinem Beruf
keinen Job findet. »Ich möchte mal beide Seiten
gesehen haben: Der Förster bin ich schon. Jetzt
möchte ich lernen, wie solche riesigen Erntema
schinen wie der ›Harvester‹ gebaut werden.«
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