NO WAY OUT. Es gibt keinen Ausweg. Nicht mal einen Notausgang.Michael Fuchs-Gamböck präsentiert in 18 Short Stories gebrochene Helden auf der Suche nach Liebe – oder was sie dafür halten.
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4. I
D A S N E U E J A H R
ES KLINGELTE.
Ich überlegte verdammt lange, ob ich an die Tür gehen sollte. Die Welt
konnte mir wie gewohnt gestohlen bleiben. Innerlich verfluchte ich die-
ses aufdringliche Geräusch, das nichts anderes tat, als etwas von mir zu
fordern.
Es klingelte nochmals.
Silvesterabend. Ich spürte, wie kalt meine Bude war. Vor der Tür lag
Schnee, und ich hatte natürlich vergessen, Öl für die Heizung zu kaufen.
Auch ansonsten war es um Sprit knapp bestellt, der Kühlschrank hatte
weitaus festlichere Tage gesehen.
Es klingelte ein drittes Mal, jetzt eher müde. Meine letzte Chance.
Kein Fetzchen Spaß in Sicht. Ich dachte daran, dass ich zum ersten Mal
auf keine dieser gottverflucht langweiligen Neujahrspartys eingeladen
war. Irgendwie hatte es sich nicht ergeben. Tatsächlich – meine letzte
Chance. Ich hatte gar keine andere Wahl, als zu öffnen.
Vor der Tür war Georg, der sich gerade Schnee von den Schultern
klopfte. Neben ihm stand ein mickriger Kerl mit Buckel und straff gezo-
genem Seitenscheitel, der still vor sich hin zitterte und den ich nie zuvor
gesehen hatte.
»Ey, Alter, große Klasse, dich zu sehen!« Georg grinste wie ein betrun-
kenes Pferd und hieb der Gestalt neben ihm mit einer seiner mächtigen
Pranken ins Kreuz. Die fiel mir beinahe entgegen. »Das ist mein Kumpel
Feldadler.«
»Ich heiß nicht so, ich heiß Thomas«, quengelte der, nicht sehr über-
zeugend.
»Quatsch«, brüllte Georg ihn an und hob schon wieder seine Pranke.
»Du bist der Feldadler. The one and only!«
Feldadler duckte sich, er erwartete einen weiteren Schlag. Doch Georg
ließ die ausgestreckte Hand nur träge nach unten gleiten. ›Wahrschein-
lich ein neues Gesellschaftsspiel‹, dachte ich.
»Na fein«, sagte ich. »Kommt rein, Jungs.«
5. Mir war klar, dass man Thomas bis ans Ende seiner Tage Feldadler nen-
nen würde. Er war einer von der Sorte, die zum Verlieren geboren war, das
sah ich auf den ersten Blick. Einer, den man bis zum Hals in die Scheiße
getaucht hatte und der sich bei seinen Peinigern noch dafür bedankte,
dass sie ihn nicht ganz rein gedrückt hatten. ›Prima‹, dachte ich. ›Ich
starte das neue Jahr mit einem Verlierer.‹ Nichts ändert sich jemals. Ich
atmete tief durch. Dann gab ich den Weg für meine Kumpels frei.
Sie trotteten gehorsam die endlosen Treppen in den dritten Stock des
Altbaus, in dem ich wohnte, und schließlich ins einzige Zimmer meiner
Bude – Georg mit weit ausholenden Schritten und leicht schwankend,
Feldadler trippelnd und mit verkniffenem Arsch vor mir her. Artig hock-
ten sie sich wie ein altes Ehepaar dicht nebeneinander auf das speckige
Leintuch, das die schmale Matratze bedeckte. Ich setzte mich ihnen
gegenüber auf den einzigen Stuhl im Raum, ein knarrendes, schlecht
gepolstertes Etwas, das mir meine Tante Mimi vererbt hatte.
Feldadler starrte an die rissigen, unverputzten Wände, ging meine
Bildergalerie durch. Er blickte auf ein handsigniertes Poster von Max
Schmeling, der seine Fäuste siegesgewiss in die Luft reckte; seine Augen
wanderten zu dem schreiend bunten Miro-Ausstellungsplakat hinter der
gesprungenen Glasscheibe und blieben schließlich für eine Ewigkeit bei
der nicht unbeträchtlichen, aber etwas vergilbten Oberweite des Play-
mates aus dem Monat September ’72 hängen. Ich hielt Feldadler bereits
nach drei Minuten für einen verklemmten Langweiler. Leider sollte ich
mit meiner Einschätzung recht behalten. Georg erzählte mir später, der
Kerl arbeite seit zehn Jahren bei der Post, wo er Briefe sortiere. Er hatte
ihn völlig besoffen in einer Kneipe kennengelernt und war ihn seitdem
nicht mehr losgeworden. Klar, Feldadler hatte jede Menge Zeit – keinen
einzigen, gottverdammten Freund und schon gar kein Mädchen.
»Er tut mir leid, der Idiot«, meinte Georg, »deshalb habe ich ihn
auch zu dir mitgeschleppt. Das ist meine große gute Tat für die Mensch-
heit in diesem Jahr. Ein Bursche wie er ist an so einem Tag schließlich zu
allem fähig ...
6. III
D I E VA G E S E H N S U C H T
N A C H G O L D
LOUIE WAR TAGELANG in der Wüste herumgekrabbelt. Er hatte den Sand
gerochen. Er hatte begonnen, die Erde zu verstehen. Alle die Taten, die
Tag für Tag auf ihr begangen wurden. Das Geheimnis des Lebens war so
einfach. Und je weniger Louie an seine Vergangenheit dachte, desto
weniger machten ihm Hunger und Durst zu schaffen. Er krabbelte nur.
Er wollte nicht mal wissen, wohin.
An den ersten beiden Tagen ohne Nahrung und Wasser hatte er noch
von Wein und einem saftigen Steak geträumt. Er hatte geglaubt, ohne
Wein und ein Steak müsse er auf der Stelle sterben. Doch Louie war wei-
ter gekrabbelt und schon am dritten Tag unter sengender Hitze hatte
sein Gaumen vergessen, wie sämtliche Gerichte und Getränke der Welt
schmeckten. Jetzt hatte er nur noch eine unbändige Gier nach klarem,
kaltem Wasser. Diese Gier trieb ihn dazu, weiterzukrabbeln. Sie hatte
seine Sinne wild gemacht und geschärft. Wenn er schließlich auf dem
heißen Wüstensand vor Erschöpfung einschlief, so träumte er von einem
gigantischen Wasserfall, dessen Quell im Sonnenlicht golden schimmer-
te. Und wenn Louie schweißüberströmt erwachte, so hatte sich in ihm
ein alles versengender Hass angestaut, der ihn anstachelte. »Weiter, nur
weiter«, sagte er sich dann.
Am fünften Tag war Louie in einen Zustand von Gleichmut und in
eine sorglose Schwerelosigkeit verfallen. Der goldene Sand unter ihm, der
bis zum Horizont reichte, erschien ihm wie eine saftige Wiese. Seine
Gedanken waren luftige Momente, die sofort nach ihrem Erscheinen im
Nichts verpufften. Louie begann in dieser Zeit auch, seinen Körper über
alle Maßen zu lieben. Er spürte jedes Gelenk. Er spürte die Schweiß-
tropfen auf den zuckenden Muskeln. Er spürte jedes einzelne der dunk-
len Haare auf seiner hager gewordenen Brust. Louie kroch Stunde für
Stunde vor sich hin und immer öfter hielt er an, um auf seine Gestalt
hinabzublicken. Er wusste selbstverständlich, dass der Tod auf ihn lauer-
te. Und er begegnete ihm mit einer geradezu fröhlichen Gelassenheit.
7. Am sechsten Tag begann Louie, dem Meer aus Sand wirre Wortfetzen
entgegen zu murmeln. Er grinste tumb und hatte die Vision, dass er seit
Anbeginn aller Tage an keinem anderen Ort als in dieser Wüste existiert
hatte. Er ging sogar so weit, sich für unsterblich zu halten, für den einzi-
gen Menschen auf der Erde und die Wüste für sein Reich. Er war voll-
kommen glücklich. Selbst Hunger und Durst nagten nicht mehr an ihm.
Und trotzdem krabbelte er weiter.
Nicht lange, und Tag und Nacht bildeten keinen Unterschied mehr für
Louie. Seine Augen wurden trüb wie zwei matte Spiegel. Das Sonnen-
licht drang nur noch während der Träume in seinen Körper.
Louie kroch weiter und weiter, Arme und Beine nichts anderes als
stumpfe Werkzeuge mit einer einzigen Funktion. Es gab kein Ziel mehr
und keine Erinnerung. Für Louie gab es nichts als Sand und seinen Kör-
per. Das war die einzige Realität. Auch die Träume schwanden aus seinem
Hirn, das nunmehr einer Nussschale glich, die auf ruhigem Wasser segel-
te. Irgendwann sah Louie seinen Körper, der weiter auf dem Wüstensand
vor sich hin taumelte, während seine Muskeln keinerlei Anspannung
mehr verrieten. Louie konnte sich selbst beobachten, obwohl ihm etwas
tief im Inneren zuflüsterte, dass er wehrlos auf dem Rücken lag. Wie ein
Käfer, der sich auf den Tod vorbereitet. Er wusste das. Und trotzdem sah
er seinen Körper, der weiterkroch. Er hörte den Sand, der knirschend
unter seinen Händen und Füßen nachgab. Er lauschte der gleichmäßigen,
harmonischen Melodie dieser Bewegungen. Louie spürte, wie sein Leib
von einem undefinierbaren, grenzenlosen Glück durchströmt wurde. Der
Körper zitterte sacht, ehe Louie die Augenlider zufielen.
Ein Schmerz in der rechten Seite … und Louie hörte, dass seinem Mund
ein Stöhnen entwich. »Der Mann lebt, er hat sich gerade bewegt.«
Hände, die sich an seinem Mund zu schaffen machten, seine Lippen
auseinanderrissen. Etwas Hartes, das zwischen seine Zähne geschoben
wurde ...
8. IX
G U T G E G E N S C H L E C H T ,
D A S G I B T E S N I C H T
»GUT GEGEN SCHLECHT, DAS GIBT ES NICHT.«
Ich hätte noch ewig über diesen Satz meditieren können. Aber das half
nichts. Er öffnete mir Tür und Tor zur Welt, darüber war ich mir im
Klaren. Und er erklärte mir die Liebe in ihrer alles umfassenden Macht.
Doch danach suchte ich gar nicht. Dachte ich wenigstens.
Und dann stand neben mir plötzlich diese 2-Liter-Flasche Weißwein.
Billig zwar, aber von durchaus akzeptabler Qualität. Und – sie war gut
zur Hälfte gefüllt und der Abend noch lang. Ein bisschen zu lang, für
meinen Geschmack. Jedenfalls hatte mir ein Nachbar schon vor etlichen
Wochen erklärt, wo der beste – da einzige – Puff am Ort zu finden war.
Die ersten Tage hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, in den
letzten Tagen allerdings mehr und mehr. Du kannst meditieren, soviel du
willst – Sex und Vergnügen werden sich stets gewaltsam Einlass in deine
Welt verschaffen. Eine Sache der Gewohnheit. Denn trotz voranschrei-
tender Weisheit kommst du immer an den Punkt gewaltiger
Verzweiflung – der Punkt, an dem sich das Leben als nichts als ein
Trugschluss herausstellt und du selbst als ein mäßig lustiger Scherz. Da
bieten Sex und Spaß mehr Garantien für ein bisschen hemdsärmelige
Glückseligkeit. Ich habe damit auch mehr Erfahrung. Und ich bin derje-
nige, der die Zügel in der Hand hält. Zumindest rede ich mir das ein.
Ich setzte die Flasche wieder an den Hals. Steckte mir eine weitere Kip-
pe an. War unschlüssig, was zu tun sei.
Gut gegen schlecht, das gibt es nicht.
Jeder einzelne Buchstabe dieses Satzes glitt an meinem geistigen Auge
vorüber. Wieder und wieder. Es gab eine Bedeutung dahinter und ich
glaubte, sie zu kennen. Aber sie war unglaublich weit weg. Ich war wie-
der der kleine Junge, der ratlos vor dem Baukasten sitzt, den sein Vater
ihm zum Geburtstag geschenkt hat. Ohne Erklärung, ohne Sinn. Dabei
9. wollte ich viel lieber eine Stoffpuppe. Ich liebte die Mädchen schon
damals über alles, ihre Weichheit, ihre Zartheit und ihre mir so fremde,
aufregende kleine Welt. Aber ich hatte Angst, das meinem Alten zu
sagen. Er fragte auch nie. Also ein Baukasten. Ich stocherte ein bisschen
darin herum und dann wanderte er ins stille Eck, wo schon die Renn-
bahn und die Spielzeugindianer ihr tristes Dasein fristeten.
Jetzt war mir wieder zum Heulen, so wie damals. Stilles Unglück und
die Tränen fallen nach innen. Den ganzen Tag hatte ich nur dagesessen,
geraucht, geglotzt und getrunken. Ich machte mir mächtige Vorwürfe
deshalb. Obwohl mir klar war, dass die Zeit in jedem Fall vergehen wür-
de. Egal, ob ich hektische Aktivitäten entfaltete oder rein gar nichts tat.
Mein Herz tuckerte rastlos vor sich hin. Und der plumpe Körper schien
auf dem viel zu harten Stuhl festgemeißelt zu sein, aber jedes Glied tat
mir weh. Die Welt wartete auf meinen Einsatz. Nur kannte ich die Spiel-
regeln nicht. Ich lebte zu dieser Zeit in einem winzigen norditalienischen
Bergdorf und erzählte jedem, der es hören wollte oder auch nicht, dass
ich am großen, die Literaturgeschichte revolutionierenden Roman
schrieb. Was natürlich nicht stimmte. Wenn ich schrieb – was selten ge-
nug vorkam –, wanderte das Zeug am nächsten Morgen ungelesen in den
Papierkorb. Ansonsten trank ich, viel und unmäßig. In den wenigen kla-
ren Stunden des Tages beschäftigte ich mich mit Büchern aus dem 17.
Jahrhundert. Sie ödeten mich schrecklich an, aber ich blieb am Ball.
Schließlich hatte ich mir das vorgenommen.
Es passierte in meiner selbst gewählten Klausur nichts, was mich nur
im geringsten inspiriert hätte. Die kleine Welt um mich herum gab sich
freundlich und war von gleichmäßigem Fluss, gleichzeitig verstaubt und
ohne Kontur. Das redete ich mir wenigstens ein. Ich tat das überzeugend
genug, sodass diese Ansicht sich inzwischen auf mein Gemüt übertragen
hatte. Ich fühlte mich wie gelähmt bei all der Freundlichkeit, die mich
umgab ...
10. XI
K L E I N E L I E B E
HUBERT HOCKTE MAL WIEDER in der U-Bahn und ließ sich einfach trei-
ben. Das tat er oft – denn er liebte es, Leute zu beobachten. Er liebte es,
ständig neue Gesichter serviert zu bekommen: An jeder Haltestelle wur-
den junge durch alte Gesichter ersetzt, hässliche durch hübsche, männli-
che durch weibliche. Hubert musste einfach nur dasitzen und starren.
Das war die sinnvollste und aufregendste Beschäftigung, die er sich vor-
stellen konnte.
Manchmal blieben Gesichter lange in seiner Erinnerung hängen – eine
besonders ausgeprägte Nase, zwei verschieden große Augen, eine unge-
wöhnliche Haarfarbe waren schuld daran –, und dann malte Hubert sich
Geschichten aus, in denen die Besitzer dieser Gesichter die entscheidende
Rolle spielten. Hubert pflanzte sie in Orte, die er nur aus dem Fernsehen
kannte: einen Urwald, monströse Berge, die Wüste. Dort hatten sie un-
glaubliche Abenteuer zu bestehen. Und immer starben sie einen zwar
grauenvollen, aber auch heldenhaften Tod. Hubert fand, ein solches Ende
sei er seinen Hauptdarstellern schuldig. So verbrachte er seine Zeit – in
der Bahn unter der Stadt. Hubert hatte keinen Job, keine Kumpels und
kein Mädchen. Er war 23, wohnte bei den Eltern und fühlte sich sehr
wohl in seiner Haut.
Seiner Ma und seinem Alten versuchte er, so gut wie möglich aus dem
Weg zu gehen. Warum er das tat, wusste er nicht recht: Immerhin hatte
sein Vater ihn nicht mehr verprügelt, seit er 15 war, und seine Mutter war
keine Frau, die viele Fragen stellte oder ihn gar stundenlang mit Vorhal-
tungen und Ratschlägen gequält hätte. Nein, seine Alten waren ganz
okay. Es war nur so, dass Hubert am liebsten allen Menschen gezielt aus
dem Weg ging. Nicht aus Angst, sondern aus purem Desinteresse an ih-
rem Innenleben. Er schaute sich gerne ihre Gesichter an, aber es kümmer-
te ihn nicht im geringsten, was sich dahinter verbarg. Die Gesichter dien-
ten ihm nur als Vorlage für seine eigenen Geschichten.
Mit Menschen keinen Kontakt aufnehmen zu müssen, war kein Pro-
blem. Hubert lebte in einer großen Stadt, in der die Leute eh’ genug mit
11. ihrem eigenen Kram zu tun hatten. Nur bei seinen Eltern war die Sache
ein bisschen anders gelagert: Es war schwierig, sie völlig zu ignorieren.
Seine Mutter hatte er bereits so weit, dass sie ihm wortlos das Essen auf
den Tisch stellte, wenn er abends von seinen U-Bahn-Fahrten nach Hau-
se kam. Doch sein Vater löcherte ihn weiterhin mit Fragen. »Geht’s dir
gut, Hubert? Hast du ’ne Flamme, Hubert? Kümmerst du dich um einen
Job, Hubert?« Was Väter eben so wissen wollen.
»Natürlich«, murmelte Hubert dann gequält. Doch so natürlich war
das gar nicht. Schlecht ging’s ihm eigentlich nicht. Aber eine Freundin
hatte er beispielsweise noch nie gehabt. Und um einen Job kümmerte er
sich schon lange nicht mehr. Hubert hatte die Volksschule abgeschlos-
sen, daraufhin irgendwie eine Ausbildung als Dreher in einer großen Fa-
brik rumgekriegt, danach hatte er seinen Wehrdienst geleistet. Dann war
er 20 gewesen. Von da an hatte er nichts mehr getan.
Nicht nur, was die Arbeit anging. Auch sonst widmete sich Hubert
nichts von dem, worunter die Allgemeinheit einen ausgefüllten Tages-
ablauf versteht. Seine Tage besaßen ihren eigenen Rhythmus. Was zu
bedeuten hatte, dass er ziemlich früh am Morgen aufstand, Frühstück
verputzte und sich danach auf den Weg in die City machte – egal, bei
welchem Wetter. Seine Eltern wohnten ein wenig außerhalb der großen
Stadt. Mit dem Zug war es eine knappe Stunde ins Zentrum. Dort ange-
kommen lief er ziellos umher. Er lief und schaute – aber er bemerkte nicht
die Menschen, lediglich ihre Gesichter. Beinahe sofort machten sich
dann diese Geschichten in seinem Hirn breit, ohne dass Hubert etwas
dazugetan oder dies gar herbeigesehnt hätte.
Am Nachmittag und in den frühen Abendstunden fuhr Hubert U-
Bahn. Er war stolzer Besitzer einer Jahreskarte, die ihm ermöglichte, jede
x-beliebige Strecke innerhalb der Stadt zu nutzen ...
12. XVII
G A N Z W E I T U N T E N
DIESMAL WAR ICH GANZ WEIT UNTEN. Ich hockte seit zwei Wochen in
diesem Nest an der Riviera, nur wenige Kilometer und doch endlos weit
vom Meer entfernt. Ich ließ mich jeden Abend volllaufen und hatte keine
Ahnung, was um mich herum geschah. Ich wusste nicht mal genau,
warum ich hierher gekommen war, nach Italien, warum ich mir dieses
billige Appartement gemietet hatte, unbefristet, und warum ich die Tage
ins Land ziehen ließ, wahllos. Es war November, der schlimmste aller
Monate in diesem Nest. Der November war grau und trübe und ohne
Kontur. Mir war, als wäre ich im Niemandsland gestrandet. Alles schien
zusammenzukommen. Ich wartete auf den großen Knall. Und wäre ver-
mutlich als Erster davongelaufen – weit, weit weg –, wenn es dazu ge-
kommen wäre.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, hier in Italien einen Roman zu
verfassen, das definitive Dokument einer verlorenen Generation, meiner
Generation. Doch seit ich hier war, hatte ich keine Zeile geschrieben,
meine spärlichen Notizen hatte ich eines Morgens verbrannt, in einem
Anfall von geistiger Abwesenheit. Statt zu schreiben hatte ich fünfzig
Gramm Pulver über die Grenzen geschmuggelt, das ich mir jetzt hektisch
in die Nase schaufelte, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Ich wurde immer
paranoider. Und mein Vorrat war bereits nach den zwei Wochen, die ich
hier feststeckte, erschreckend reduziert. Mich befiel Panik, wenn ich nur
daran dachte, dass ich eines Morgens aufwachen und die letzte Line die-
ses Wahnsinnszeugs schnupfen würde.
Außer zu schnupfen, hockte ich Abend für Abend in den wenigen,
stets billigen Kaschemmen dieses Orts rum, in den es mich verschlagen
hatte, ich stopfte billiges Essen in mich rein, schlürfte billigen Wein und
alle dreißig Minuten verschwand ich im stinkenden Scheißhaus und
hackte mit stumpfer Rasierklinge das weiße Gift klein. Wenn das Pulver
in meinem Hirn explodierte, war mir alles egal. Ich war böse, die Welt
sowieso und nichts hatte irgendwie Bedeutung. Ich würde sterben, dem-
nächst. Das Einzige, was ich gegen die Angst vor dem Sterben tun konn-
13. te – weitermachen wie bisher und fiebrig auf mein Ende warten. Nichts
passierte. Alles ging seinen Gang. Das Kaff war so unsäglich langweilig,
dass die Hölle dagegen ein Kurort sein musste. Und das Kaff machte
mich fertig, weil es nichts zu bieten hatte. Nichts, was mir irgendeine Ge-
nugtuung verschafft hätte. Doch wer nicht mehr weiß, wohin, für den
war es aus. Völlig aus. Das immerhin wusste ich. Nein, nichts war so, wie
ich es erwartet hatte. Bis mir eines Tages klar wurde, dass ich nie etwas
erwartet hatte.
Auf einer meiner allabendlichen ziellosen Wanderungen durch das
Kaff entdeckte ich das Canelupo. Wahrscheinlich war es der Name, der
mir gefiel und mich zu dieser Kneipe hinzog. Viel wahrscheinlicher aber
waren es die pure Langeweile und die Stumpfheit meines Geistes, die
mich anlockten. Endlich etwas Neues, Anderes in diesem Hort der
Ödnis. Zumindest für eine Nacht konnte ich mir einreden, dass sich an
meiner grässlichen Existenz etwas änderte, dass mein Lebensfluss mäch-
tige Wellen schlug, anstatt langsam im Morast zu versickern. Canelupo.
Sie hatten Eröffnungsparty an diesem Abend – neuer Laden, Neu-
beginn. Ich ging rein und in der Tat war dieser Schuppen anders als die
anderen Kaschemmen im Ort: Es gab mehr Licht dort, an den Wänden
hingen Autoreifen und Motorradfotos statt der üblichen Marienbilder
oder Barockrahmenscheußlichkeiten und aus den Lautsprechern an den
Wänden dudelte Schweinerock aus den 70ern statt der italienischen
Kitsch-Balladen, die einen erst recht zum Glas greifen ließen. Na ja,
immerhin.
Es war gegen acht und der Laden brummte. Klar, es war der erste
Abend, das Volk war neugierig. Das Canelupo bot Platz für vielleicht
achtzig Leute und die waren da – alle aus dem Ort, die unter dreißig wa-
ren und vermutlich noch ein paar Typen im selben Alter aus den Nach-
barkäffern. Ich hatte in den letzten zwei Wochen noch nie so viele Men-
schen auf einem Haufen gesehen ...
14.
15. Im Verlag
sind weiterhin erschienen:
Die menschliche Welle (Bd. 1 – Ebbe) ISBN 978-3-943650-01-3
Die menschliche Welle (Bd. 2 – Flut) ISBN 978-3-943650-04-4
Irrlichter des Todes ISBN 978-3-943650-33-4
Jenseits, Tod und Sterben ISBN 978-3-943650-29-7
Shiva kläfft -
Der berühmteste Hund von Berlin ISBN 978-3-943650-28-0
Gourmetkatze -
Als die Katze einen Tisch reservierte ISBN 978-3-943650-36-5
Alle Bücher auch als eBook (epub und Kindle) erhältlich!
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