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Politische bildung behinderung
1. APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
23/2010 · 7. Juni 2010
Menschen mit Behinderungen
Katja de Bragança
Mongolisch ist mongolisch und klingt so wie mongolisch
Elsbeth Bösl
Die Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik
Valentin Aichele
Behinderung und Menschenrechte
Thomas Stöppler
Ja zur Vielfalt (sonder-)pädagogischer Angebote
Hans Wocken
Über Widersacher der Inklusion und ihre Gegenreden
Lisa Pfahl · Justin J.W. Powell
Draußen vor der Tür: Die Arbeitsmarktsituation
2. Editorial
Noch bis in die 1970er Jahre wurde Behinderung als indivi-
duelles, funktionales Defizit aufgefasst, das die Erwerbsfähig-
keit einschränkt oder unmöglich macht. Allmähliche Fort-
schritte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Menschen
mit Behinderungen ließen sich zunächst daran festmachen, dass
sie als „Mit-Bürger“ angesprochen, sie also als mündig angese-
hen wurden. Behinderte Menschen riefen bald dazu auf, sich aus
dem Opferstatus zu befreien, und sprachen zunehmend für sich
selbst.
Im Jahr 2006 wurde von den Vereinten Nationen die Konven-
tion über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verab-
schiedet. An ihr lässt sich der Wandel des Verständnisses von
einem Leben mit Behinderung ablesen: Behinderung wird
nicht mehr als „Defizit“ angesehen, sondern als Element der
menschlichen Vielfalt. Seit März 2009 ist die Konvention auch
in Deutschland in Kraft. Laut dem Koalitionsvertrag vom ver-
gangenen Herbst dient sie der Bundesregierung als Maßstab für
Entscheidungen in diesem Politikfeld. Die Konvention verbie-
tet jede Diskriminierung und verpflichtet die Vertragsstaaten,
Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben zu garantieren.
Ungeachtet der breiten Zustimmung, welche die Konventi-
on erfahren hat, birgt sie großen politischen Zündstoff. So wer-
den etwa die detaillierten Vorgaben zu ihrer Umsetzung, die sie
unter anderem für den Bereich Bildung macht, unterschiedlich
interpretiert. Während in der englischen Originalfassung von
einem „inclusive education system“ die Rede ist, das die Ver-
tragsstaaten gewährleisten sollen, spricht die deutsche Über-
setzung von einem „integrativen Bildungssystem“. Kritiker der
deutschen Behindertenpolitik warfen den Kultusministern se-
mantische Tricksereien vor, um das bestehende Bildungssystem
zu erhalten. In einem inklusiven Schulsystem müssten sich die
schulischen Rahmenbedingungen den Bedürfnissen der Schüle-
rinnen und Schüler anpassen und nicht umgekehrt. Konsequent
umgesetzt, würde dies das gegliederte Schulsystem in Frage
stellen.
Manuel Halbauer
3. Katja de Bragança Woran merkst du, dass du das Down-Syn-
drom hast? Des hab i ned. (Lydia Bleibinger)
Mongolisch ist Weil ich bei Ohrenkuss mitmachen kann.
(Michael Häger)
mongolisch und klingt Ich würde es sicher gar nicht merken, wenn
nicht andere davon sprechen würden. (Mar-
kus Hamm)
so wie mongolisch Ich kann kein Fahrrad fahren. (Juliane Büge)
Daran, dass ich etwas mehr Unterstützung
Essay als andere brauche. (Anna Schomburg)
Ja – ich bin ein Chinese. (Peter Keller)
Ich kann keine Reise organisieren./Ich kann
nicht selbstständig kochen./Schwierigkeiten
S ie sind einfach überall – denn jeder 600.
Mensch hat das Down-Syndrom. Wie,
Sie kennen niemanden, der das Down-Syn-
in Sachen Geld./Ich kann nicht alleine leben.
(Annja Nitsche)
Ich merke das nicht mehr. (Angela Fritzen)
drom hat? Nach die- Bei mir wurde ein Chromosomentest ge-
Katja de Bragança sem Text können Sie macht. (Carina Kühne)
Dr. rer. nat., geb. 1959; mitreden. In diesem Das Glotzen der anderen Menschen. Den
Gründerin und Chefredakteurin Beitrag werden viele Führerschein nicht machen zu können. (An-
der Zeitschrift „Ohrenkuss … da Fragen gestellt. Fra- drea Wicke)
rein, da raus“, Friedrich-Breuer- gen zu dem Down-
Straße 23, 53225 Bonn. Syndrom. Diese Fra- Woran erkennt man einen Menschen mit
info@ohrenkuss.de gen werden von Fach- Down-Syndrom? Am Aussehen. (Hermine
www.ohrenkuss.de leuten beantwortet. Fraas)
Also von erwachsenen
Menschen, die das Down-Syndrom haben. ❙1 Dies ist ein Text aus der Ohrenkuss-Redaktion, zu-
Alle Antworten sind aus der „Ohrenkuss“- sammengestellt von Katja de Bragança. Was ist ein Oh-
renkuss?! Man hört und liest so vieles. Fast alles geht
Redaktion.❙1 Svenja Giesler ist eine junge
in den Kopf rein und sofort wieder raus. Und nur das
Frau mit Down-Syndrom.❙2 Sie beschreibt Wichtige bleibt drin, das ist dann ein Ohrenkuss. In
ihre Situation in knappen und deutlichen dem gleichnamigen Magazin schreiben nur Personen
Worten: „Ich habe Down-Syndrom. Aber mit dem Down-Syndrom mit. Sie schreiben ihre Texte
ich stehe dazu und ich bin kein Alien, denn selber. Mit der Hand oder auf dem Computer. Manche
ich bin so wie ich bin und jeder soll es ver- diktieren auch ihre Texte, weil es einfacher geht. Oder
weil sie das Schreiben nicht gelernt haben. Viele von ih-
stehen und mich respektieren.“ Peter Rütti-
nen haben auf der Ohrenkuss-Seite ein Portrait, online:
mann, ein Mann mit Down-Syndrom meint: www.ohrenkuss.de/projekt/portraits (17. 5. 2010).
„Ich bin auch behindert mit japanisch-chi- ❙2 Personen mit einem Down-Syndrom haben (meis-
nesischen Augen. Beim Nachtessen esse tens) 47 statt 46 Chromosomen, bei ihnen ist das Chro-
ich gerne mit Stäbchen, weil ich ein Chine- mosom 21 mit dem Down-Syndrom dreimal in jeder
se bin.“ Ein Mensch mit Down-Syndrom ist Körperzelle vorhanden, daher auch die Bezeichnung
„Trisomie 21“. Die kognitiven Fähigkeiten von Men-
also immer erkennbar – so glaubt man (wenn
schen mit Down-Syndrom sind häufig eingeschränkt,
man zu denen gehört, die kein Down-Syn- sie haben in manchen Dingen ein anderes Tempo.
drom haben).❙3 Das stimmt nicht. Nicht der ❙3 „Wie erleben Menschen mit Down-Syndrom die
Mensch wird erkannt – sondern die Tatsa- Welt – wie sieht die Welt Menschen mit Down-Syn-
che, dass die betreffende Person das Down- drom? Eine Gegenüberstellung.“ So lautete ein For-
Syndrom hat. schungsvorhaben aus dem Jahre 1998 am Medizin-
historischen Institut in Bonn, gefördert von der
Volkswagen-Stiftung. Aus dem zweijährigen For-
Wieso heißt das Down-Syndrom eigentlich schungsvorhaben entstand das Magazin „Ohrenkuss …
Down-Syndrom? „Das Leiden kommt im- da rein, da raus“. Im Herbst 2010 erscheint die 25. Aus-
mer nur von außen. Das ist schade. Ich kann gabe des Magazins zum Thema „Ich bin ein Mensch.“
einiges über meine geistige Behinderung Er- ❙4 Die Texte im Ohrenkuss werden nicht zensiert. Sie
scheinungsform❙4 schreiben. Ich habe ein werden eins zu eins wiedergegeben: ohne Anpassung
an die aktuelle Rechtschreibung, ohne Korrekturen
Chromosom zuviel, das 21. Der Mann der
bei Grammatik oder Zeichensetzung. In dem vorlie-
uns beschrieben hat heißt Langdon Down. genden Text wurde jedoch eine Ausnahme gemacht.
Der hat in England gelebt. Und ich sehe so Damit die Texte besser lesbar sind, wurden Recht-
wie ein Chinese aus.“ (Hermine Fraas) schreibfehler verbessert.
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4. Können manchmal nicht gut reden, sind ti Bolognese essen können ohne zu Zuneh-
meistens langsam, sehen sich oft ähnlich. men, warum kann man nicht soviel essen wie
(Markus Hamm) man will. Aber man nimmt dabei nicht zu. Das
Am Gesicht, an der Bewegung. (Julia Bert- würde ich gerne wissen, manchmal muss ich
mann) auf meine Lieblingsspeise verzichten, das ist
Die sehen anderes aus und das ist schwer. blöd und bescheuert. Keiner verzichtet freiwil-
( Julian Göpel) lig auf eine Lieblingsspeise, auch wenn es die
Man erkennt es an den Augen die geometrisch Michaela Koenig ist. Wer macht das freiwillig,
fast gleich stehen, an den Händen „Vierfinger- da mache ich doch lieber Sport, damit ich mehr
furche“ mit einer Linie durchzogenen Hand- davon essen kann. Da gehe ich freiwillig laufen,
fläche hat und die Körpergröße Durchschnitt- damit ich mehr davon essen kann, das hört sich
lich meistens klein ist. (Julia Keller) sicher albern an, aber ich scheiße wirklich auf
Ich habe aber schon als Kind mit den klei- meinen niedrigen Grundumsatz. Der sich nie-
nen Jungs gespielt und da war ich auch sehr mals ändern wird, mir tut es sehr weh, daran
glücklich darüber. Da habe ich mein Down- zu denken.“ (Michael Koenig)
Syndrom auch früher verschwiegen und sie
nahmen mich so wie ich bin und da war ich Es gibt in Deutschland kaum eine Person mit
auch sehr glücklich drüber. (Hermine Fraas) Down-Syndrom, die älter als 65 Jahre ist. Wa-
rum?❙5 „Wenn ich damals gelebt hätte, dann
Stört es dich, dass du das Down-Syndrom hätten die mich auch weggenommen, weil der
hast? Nein eigentlich nicht, ich bleibe so ich es Hitler keine behinderten Kinder gemocht hät-
bin und so werde glücklich sein. (Judith Klier) te. Der hätte mich dann auch getötet. Meine El-
Ja, weil ich nicht richtig reden und schreiben tern und ich waren miteinander im Kino, dann
kann. (Michael Kohl) haben wir diesen Film angeschaut, „Den Un-
Schon – manchmal. Wenn jemand mich be- tergang“. Da war mir auch ein bisschen blass.
schuldigt, dass ich behindert bin. (Annja Wir waren auch bei einer Führung in Nürn-
Nitsche) berg, da hat die im Museum erzählt, dass der
Mich stört es wenn andere Leute mich angu- Hitler kleine Kinder gestreichelt haben, weil
cken und denken mit der kann ich mich doch er gerne kleine Kinder mag.
nicht sehen lassen die nicht normal ist. Diese Aber er mochte keine behinderten Kinder.“
Ungewissheit und die Blicke wie die mich an- (Veronika Hammel)
gucken stört mich ganz gewaltig. (Julia Keller)
Nein, ich kann trotzdem vieles lernen. (Ca- Menschen mit Down-Syndrom werden oft
rina Kühne) geärgert, weil sie anders aussehen. Wie fühlt
Es stört mich sehr. Viele Menschen lachen sich das an? „Man fühlt sich (darf ich ruhig
mich aus. (Angela Fritzen) sagen) scheiße und allein gelassen. Ausge-
Nein, ich kenne es nicht anders. (Claudia Feig) grenzt. Man fühlt sich mies, man fühlt sich
Ich will den Führerschein machen. Ich weiß auch in Stich gelassen. Man möchte anerkannt
ich kann es nicht, weil ich das Down-Syn- werden. Ich möchte, dass die Menschen mich
drom habe. (Andrea Wicke) respektieren. Die sehen nicht an mir, wie ich
Ja, stört mich, ich möchte auch gerne Fahrrad mich fühle. Dass es mir Angst einjagt und
fahren können. Ich möchte rechnen können. dass es sehr erschreckend für mich ist. Die
(Juliane Büge) sehen die Menschen nicht. Nur ein Beispiel:
Ja, weil ich wäre gerne normal. Weil mit Ich fahre mit meiner Mami in einem Bus. Es
Down-Syndrom man einfach viel nicht ver- sind mehrere Leute drin, teils stehend, teils
steht. (Christian Janke) sitzend. Dann fangen die auf einmal an, mich
anzustarren und denken folgendes: ‚Wie sieht
Warum sind manche Menschen mit Down- die denn aus? Ich habe noch nie im Leben eine
Syndrom dick? „Meine Lieblingsspeise ist Spa-
ghetti Bolognese, sie schmeckt mir leider sehr ❙5 Dieser Text entstand, als die Ohrenkuss-Redaktion
gut, ob wohl es ein Dickmacher ist. Da nimmt 2005 in der Gedenkstätte Buchenwald zu dem Thema
man leider sehr viel zu, das sind leider sehr vie- „Jenseits von Gut und Böse“ recherchierte. Vor 35 Jah-
ren, als die medizinischen Fachbücher mit Erklärun-
le Kalorien enthalten, das ist ein großer Blöd-
gen zum Down-Syndrom erstellt wurden, war kein
sinn, warum kann man nicht auf die Kalorien Mensch mit Down-Syndrom in Deutschland älter als
pfeifen. Scheiße auf meinen niedrigen Grund- 30 Jahre. Diese Beobachtung wurde nicht hinterfragt
umsatz. Ich möchte gerne so viele Spaghet- oder mit Angaben aus dem Ausland verglichen.
4 APuZ 23/2010
5. Behinderte gesehen. Wie sieht die denn aus?‘ Ich bin die Verlobte, da haben wir unsere Lo-
Und dann fühle ich mich scheiße und ich bin bung gefeiert mit Sekt und Knabberzeug –
auch sehr traurig und in meinen Gefühlen jetzt habe ich meinen eigenen Mann! Das ist
verletzt. Ich möchte, dass es aufhört mit die- ja auch wichtig, die Liebe. Man muss alles
ser Anstarrerei. Wirklich! Ich möchte respek- planen – dann kommt die Hochzeit und die
tiert werden – wie ich bin.“ (Svenja Giesler) Namen austauschen und kommt es kirchlich
und als erstes kommt das Paar und dann die
Das Sprechen fällt manchmal schwer.❙6 Wa- Gäste. (Christina Zehendner)
rum? „Ich bin auch etwas schüchtern, auch Der Pastor, der sagt uns beide, Mann und
wenn ich mit Leuten reden soll. Dann bekom- Frau: „Steht erstmal auf. Michael, Du kannst
me ich kein vernünftiges Wort raus, ich bin die Frau nehmen.“ (Michael Häger)
halt so, jeder hat seine Schwächen und Gren- Bei einer Verlobung ist die halbe Ehe ver-
zen die man auf eine andere Art und Weise sprochen. Heute muss man nicht heiraten
zeigt. Ich bin halt so. Ich habe auch andere das kostet zu viel. Man kann auch zusammen
Gefühle als ihr, nur ich zeige es nicht immer. wohnen wie ein Ehepaar. Mein Partner und
Ich bin auch nur ein Mensch mit Fehlern, nur ich wollen keine Kinder. (Andrea Wicke)
ich gebe meine Fehler nicht schnell zu. Ich Warte auf den Richtigen – Sei nicht traurig.
bin keine Maschine, ich bin ein Mensch vom (Romy Reißenweber)
Fleisch und Blut. Ich bin auch kein Spielzeug,
wie ihr wisst, sondern ich bin lebendig. Ihr Wie sieht die Zukunft aus? Einmal möchte ich
sollt noch wissen das ich aus Haut und Kno- heiraten und ein Kind haben. Oder Autorin,
chen bin, nicht das ihr glaubt, dass ich eine Schriftstellerin, Chefin in einer Bibliothek,
Erfindung bin.“ (Michaela Koenig) Dirigentin, Pianistin, Falknerin, Sängerin,
Musikverlegerin, Naturforscherin, Organi-
Wie sieht es mit der Liebe aus? Liebe ist leich- satorin bei Konzerten und Open Airs als Te-
te Sache zu schreiben, aber sagen oft peinlich. lefonistin, Komponistin am Klavier, Arzthel-
Liebe heißt Küssen, auch Zungenkuss, Ge- ferin im Krankenhaus werden. Ich möchte in
fühligkeit, geschmeichelt, Zärtlichkeit, sexy diesen Bereichen studieren und praktizieren.
sein, nackt sein, Bett gehen, Sex machen. Überhaupt ist meine Zukunft weit, weit weg
Mach ich vorher Musik an, nicht zu laut, von mir. Eigentlich soll meine Zukunft sehr
bisschen laut, stöhnen ist auch gut, erotisch, wunderschön und musikliebend, sehr nett,
Rock ’n’ Roll-Gefühligkeit von Musik, dann lustig, nicht zu laut, bunt, romantisch, gemüt-
sagen: Ich liebe dich, ich liebe dich viel mehr. lich, ruhig, abwechslungsreich, liebend.
So muss es sein, bisschen mehr trauen, bis Außerdem möchte ich auch das Verhalten der
die Nachbarn hören: „Was ist los, ist heute Vogelkunde studieren und auch praktizie-
Konzert da?“ (Der Autor von diesem Beitrag ren. Ich würde gerne auch Medizin studie-
möchte seinen Namen nicht nennen. Er ist ren und im Spital praktizieren in Bereich von
24 Jahre alt und möchte nicht, dass seine El- Kopf wo die epileptischen Anfälle gesteuert
tern wissen, dass er sich für Sex interessiert.) werden. Den Frieden natürlich auch für viele
Länder. Ein Buch schreiben und eine Schrift-
Und wie sieht es mit dem Heiraten aus?❙7 Die stellerin, Autorin werden. Ladinische Spra-
Ehe schließe ich aus, das könnte ich nicht, die che reden können, und auch französisch und
Feier ist so lang. (Achim Reinhardt) auch englisch reden können, aber auch hä-
meische Sprache. Natürlich auch italienisch,
griechisch. (Verena Elisabeth Turin)
❙6 Es fällt oft schwer, mit einem Menschen mit Down-
Syndrom so zu kommunizieren, wie man es „norma-
lerweise“ gewohnt ist. Man muss z. B. langsamer und
Was für eine Sprache sprechen die Mongo-
deutlich sprechen, eine einfache Sprache verwenden len?❙8 Mongolisch ist mongolisch und klingt
und komplizierte Dinge erklären. Man sollte darauf so wie mongolisch. (Tobias Wolf )
achten, dass die „Verbindung“ zum Gegenüber nicht
abreißt. Das erfordert Geduld und Konzentration, ❙8 Die Ohrenkuss-Redaktion reiste 2005 in die Mon-
gesunde Neugier und die Offenheit für neue Sicht- golei. Das löste eine angeregte öffentliche Diskussion
weisen und Fremdheit. aus: Die Resonanz war positiv, die Verwendung des Be-
❙7 Natürlich können Menschen mit Down-Syndrom griffs „Mongo“ und „mongoloid“ wurde diskutiert,
Nachwuchs bekommen. Die Wahrscheinlichkeit wie- online: www.ohrenkuss-mongolei.de (19. 5. 2010).
der ein Kind mit 47 Chromosomen zu bekommen ist
erhöht.
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6. Elsbeth Bösl Behinderung als Objekt der Forschung
und sozial(politisch)es „Problem“
Die Geschichte der
Behindertenpolitik
Dieses individuelle, medizinische Defizitmo-
dell hat eine lange Geschichte. Es entstand im
19. Jahrhundert im medizinischen Fachdis-
in der Bundesrepu- kurs. Behinderung wurde biologistisch und
gänzlich unabhängig von Kultur und Ge-
blik aus Sicht der
sellschaft definiert. Medizinisch konstatierte
„Andersheiten“ wurden als Defekt oder Stö-
rung gedeutet.
Disability History Verkörperte „Andersheiten“ waren im
19. Jahrhundert nicht nur Objekte der For-
schung, sondern vor allem auch Zielobjek-
D isability History erforscht, wie und in
welchen sozialen und kulturellen Kon-
texten Menschen auf der Basis bestimmter
te von Therapie und Präventionsversuchen –
dies gebot die im Zuge der Aufklärung
formulierte bürgerliche Sozialethik. Be-
körperlicher, psychi- hinderte Menschen – in der Diktion der
Elsbeth Bösl scher oder mentaler Zeit als „verkrüppelt“, „missgebildet“ oder
Dr. phil., geb. 1978; wissen- Merkmale den Katego- „idiotisch“ bezeichnet – galten als sozia-
schaftliche Mitarbeiterin am rien „behindert“ und les Problem. Es sollte mit den Mitteln des
Zentralinstitut für Geschichte „normal“ zugeordnet entstehenden Sozialstaats und der privaten
der Technik, TU München, c/o werden.❙1 Beeinträch- Wohltätigkeit gelöst werden – zum Nutzen
Deutsches Museum, Museums- tigungen, Benachteili- der Gesellschaft und des Individuums. Das
insel 1, 80538 München. gungen und Ausgren- Ziel war die weitgehende Anpassung der
elsbeth.boesl@mzwtg.mwn.de zungen, die mit der als abweichend und defizitär klassifizierten
Zuschreibung „Behin- Menschen an die funktionalen Erwartungen
derung“ verknüpft sind, werden dabei sowohl der bürgerlichen, kapitalistisch verfassten
als Konsequenzen materieller Kräfte und Gesellschaft.
Barrieren als auch als Produkte kulturel-
ler Werte, Erwartungen und Praktiken ver- Dort bildeten Leistungsfähigkeit und Pro-
standen. „Behinderung“ oder „Normalität“ duktivität entscheidende soziale Bewertungs-
sind demnach keine individuellen Eigen- kriterien. Nutzbringende Erwerbsarbeit galt
schaften, sondern Kategorien, die innerhalb als Produktionsfaktor, Ausdruck menschlichen
des Gesellschaftssystems in Abhängigkeit Seins und Integrationsinstrument zugleich.
voneinander hergestellt werden – in wis- Medizinische, pädagogische und berufliche
senschaftlichen und politischen Diskursen, Maßnahmenkataloge wurden entwickelt, um
in Bürokratie und Institutionen und in der der Gesellschaft die ihr vermeintlich fern ste-
Alltagswelt. henden Menschen mit Behinderungen zu-
zuführen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg
In der bundesdeutschen Behindertenpoli- wurde dieser Rehabilitationsansatz institu-
tik, um die es im Folgenden geht, wurde Be- tionalisiert und in der gesetzlichen Unfall-
hinderung bis in die 1970er Jahre hinein vor
allem als individuelles, funktionales Defizit Ich danke Anne Waldschmidt und Alexander Gall für
Kritik und konstruktive Anregungen.
in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit und Pro-
❙1 Vgl. Paul K. Longmore/Lauri Umansky, Disabili-
duktivität einer Person verstanden.❙2 So auch ty History: From the Margins to the Mainstream, in:
in einer Definition des Bundesinnenministe- dies. (eds.), The New Disability History: American
riums aus dem Jahr 1958: „Als behindert gilt Perspectives, New York-London 2001, S. 1–29.
ein Mensch, der entweder aufgrund angebo- ❙2 Vgl. zur Basis der folgenden Synthese mit weiteren
rener Missbildung bzw. Beschädigung oder Nachweisen Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisie-
rung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der
durch Verletzung oder Krankheit (…) eine
Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009.
angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann. ❙3 Bundesministerium des Innern (BMI) Abt. Va1,
Er ist mehr oder minder leistungsgestört Schreiben an Abt. Va2, 12. 8. 1958, Bundesarchiv
(lebensuntüchtig).“❙3 (BArch) B 106 8414.
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7. versicherung auch erstmals sozialgesetzlich ihre Beschädigung oft mit einem heroischen
verankert. Auch die zumeist konfessionellen Aufopferungstopos, der sich schlecht mit
Einrichtungen der sogenannten Krüppelfür- der ihnen bisweilen unterstellten Hilflosig-
sorge begannen um 1900, ihre traditionellen keit verbinden ließ. Sie seien keine „armseli-
Kernaufgaben der Seelsorge, Erziehung und gen Kreaturen“, protestierte ein Redner des
Dauerpflege von Kindern und Jugendlichen Verbands der Kriegsbeschädigten, Kriegs-
mit Behinderungen um medizinische Thera- hinterbliebenen und Sozialrentner Deutsch-
pie und berufsvorbereitende Maßnahmen zu lands e. V. (VdK) im Jahr 1963. Das Leben
ergänzen. Im Ersten Weltkrieg schließlich sei sehr wohl lebenswert, und mit einer Be-
hielt das Rehabilitationsparadigma aufgrund hinderung könne man sich durchaus aussöh-
des Massenphänomens der Kriegsbeschädi- nen. ❙4 Um jedoch Ansprüche vor den Sozi-
gung auch im staatlichen Versorgungswesen alleistungsträgern geltend zu machen und
Einzug. Somit war lange vor 1949 das Prin- Nachteilsausgleiche zu erlangen, mussten
zip Rehabilitation in den drei Säulen des so- sich behinderte Menschen immer wieder
genannten Gegliederten Systems deutscher der Legitimationskette „behindert – arm –
Sozialstaatlichkeit – Fürsorge, Sozialversi- hilfsbedürftig“ bedienen. Beschränkungen
cherung und Versorgungswesen – zumindest und „Störungen“ mussten in individuellen
vorgezeichnet. Gutachter- und Bemessungsverfahren, aber
auch von den Interessenorganisationen im-
mer wieder betont werden. Somit trugen die
Sozialleistungspolitik und Betroffenen zwangsläufig dazu bei, das defi-
Erwerbsarbeitsparadigma zitorientierte Denken über Behinderung zu
reproduzieren.
Den konzeptionellen Kern der bundesdeut-
schen Behindertenpolitik bildeten weiterhin Den Agenturen der sozialen Sicherung
medizinisches Defizitmodell, Normalisie- schien das soziale „Problem“ Behinderung
rungsziel und Rehabilitationsparadigma. Be- durch funktionale Normalisierung über-
hindertenpolitik blieb zunächst eine Politik windbar, wenn nur ausreichende Sozial-
der sozialen Sicherung. Bis zur Gleichstel- leistungen entwickelt, Therapie- und Um-
lungspolitik war es ein sehr weiter Weg. Un- schulungsinfrastrukturen geschaffen und
ter Rehabilitation verstanden Expertenschaft, technische Hilfsmittel zur Verfügung ge-
Politik und Verwaltung zunächst eine funk- stellt wurden. An der Grundgesamtheit der
tionale „Wiederherstellung“ durch medizi- sozialstaatlichen Hilfen fällt dreierlei beson-
nische Eingriffe einschließlich der Prothe- ders auf: Behindertenpolitik und Rehabili-
tik sowie die Befähigung zur Erwerbsarbeit tation waren erstens auf einen Idealklienten
in beruflichen Rehabilitationseinrichtungen. hin zugeschnitten: den erwachsenen Mann,
Erwerbsarbeit als ideales Kompensations- der bereits einmal erwerbstätig gewesen war
und Eingliederungsinstrument sollte behin- und mit einer körperlichen Behinderung leb-
derten Menschen helfen, über ihr „Schicksal“ te. Erst im Lauf der 1960er und 1970er Jahre
hinwegzukommen. Behinderung wurde mit „entdeckten“ Expertenschaft und Politik Be-
Leid gleichgesetzt, das kaum Raum für ein hinderungen anderer Art und Ursache. Men-
erfülltes Leben zu lassen schien, wenn nicht schen mit intellektuellen und seelischen Be-
zumindest die Möglichkeit zur produktiven einträchtigungen beispielsweise rückten sehr
Tätigkeit bestand. langsam ins Bewusstsein der Akteure. Je wei-
ter dieser Prozess fortschritt, desto mehr Be-
Menschen, die selbst mit Behinderungen hinderungen wurden jedoch „produziert“.
lebten, konnten in den öffentlichen und po- Im Zuge des Ausbaus des Sonderschulwesens
litischen Arenen kaum Einfluss auf diese wurde beispielsweise die Kategorie „lernbe-
Fremdzuschreibungen nehmen. Dies galt hindert“ erst entwickelt.
selbst für die Organisationen der Kriegs-
beschädigten, die in den 1950er und 1960er Zweitens wurden angesichts der wirt-
Jahren eine vergleichsweise stimmkräftige schaftlichen Erholung seit dem letzten Drit-
und lobbystarke Gruppe unter den behin-
derten Menschen darstellten. Viele litten da- ❙4 Vgl. 1. Ohnhändertagung des VdK am 9. 2. 1963 in
runter, dass ihr Leben als kaum lebenswert Düsseldorf, Rede v. Ludwig Hönle, NRWHStA BR
bezeichnet wurde. Zudem verknüpften sie 1134 594.
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8. tel der 1950er Jahre und des expandierenden erster Bundeskanzler in einer Regierungser-
Sozialstaats gerade die Hilfen bei Behin- klärung die Situation von behinderten Men-
derung, ihre Infrastrukturen und Klientel- schen explizit an. Die sozialdemokratischen
kreise, Aktionsradien und Maßnahmenka- Schlagworte „Demokratisierung“, „Lebens-
taloge systematisch erweitert. Dort, wo der qualität“ und „Humanisierung“ sollten die
Rehabilitationsgedanke noch nicht vorgese- Behindertenpolitik in Konzeption und Um-
hen war, wurde er gesetzlich verankert, so setzung prägen. Gelang es, Menschen mit Be-
etwa 1959 in der Rentenversicherung und hinderungen ein gleichberechtigtes Leben in
1974 in der Krankenversicherung. Der be- der Gemeinschaft zu erschließen, hatte sich
reits 1957 eingeführte Rehabilitationsauftrag die demokratische Gesellschaft an ihnen be-
der Bundesanstalt für Arbeit (bis 1969 Bun- wiesen: „Die Qualität des Lebens für die
desanstalt für Arbeitsvermittlung und Ar- Behinderten in unserer Gesellschaft ist ein
beitslosenversicherung) wurde 1969 durch Spiegel der Qualität der Gesellschaft“,❙6 ver-
das Arbeitsförderungsgesetz erweitert und kündete 1974 Bundesarbeitsminister Walter
machte die Bundesanstalt zu einem der wich- Arendt (SPD). Insbesondere über das Sozial-
tigsten Rehabilitationsträger. Die Aufnahme leistungsrecht sollte „Chancengleichheit“,
von Studierenden, Schülern und Kindergar- ein weiteres Schlagwort der Koalition, her-
tenkindern in den Geltungsbereich der Un- gestellt werden. Da die skizzierten Ungleich-
fallversicherung 1970 verdeutlicht die Aus- heitslagen mit diesem Anspruch nicht mehr
weitung der Adressatenkreise. vereinbar waren, wurde 1974 mit einem Re-
formpaket, dessen Kern das Rehabilitations-
Drittens: Das sogenannte Gegliederte Sys- angleichungsgesetz bildete, der Versuch un-
tem betraf alle sozialstaatlichen Hilfen bei ternommen, die finale Betrachtungsweise
Behinderung. Es umfasste die Leistungs- gesetzlich zu verankern. Die sozialen Un-
bereiche Sozialversicherung, Versorgungs- gleichheiten wurden zumindest ansatzwei-
wesen und öffentliche Fürsorge/Sozialhilfe. se begradigt, das Gegliederte System selbst
Diese hatten jeweils unterschiedliche gesetz- blieb unangetastet.
liche Grundlagen, Kompetenzen, finanzielle
und infrastrukturelle Möglichkeiten. Behin- Reformbedürftig erschien auch die behin-
derte Menschen wurden ihnen je nach Ursa- dertenpolitische Beschränkung auf Wieder-
che der Behinderung und ihrem Erwerbssta- herstellung und Eingliederung in den Ar-
tus zugeordnet. Diese als Kausales Prinzip beitsmarkt. Immer mehr Vertreterinnen und
bezeichnete Vorgehensweise erwies sich in Vertreter der Ministerialbürokratie, Politik
der Praxis als problematisch: Das System war und der Expertenschaft forderten nun bei-
unübersichtlich, Umfang und Qualität der spielsweise den Abbau von Hindernissen
Sozialleistungen divergierten. Erhebliche in der gebauten Umwelt als eigenes Aufga-
soziale Ungleichheiten waren die Folge. Ab bengebiet der Rehabilitation. Behinderten-
Mitte der 1960er Jahre schlugen deshalb Kri- politik sollte nicht mehr nur am Individu-
tiker vor, die Hilfen bei Behinderung am so- um, sondern gezielt an der Gesellschaft und
genannten Finalen Prinzip auszurichten: Im ihren Bedingungen ansetzen. Zwar wur-
Mittelpunkt sollte das jeweilige Rehabilita- de das eigentliche Problem weiterhin in den
tionsziel stehen, Behinderungsursache und „nicht normalen“ Körpern verortet, die Lö-
Erwerbsstatus hingegen sollten keinen Un- sung schien nun jedoch darin zu bestehen,
terschied mehr machen. die Umwelt umzugestalten. Bislang hatte die
Ansicht geherrscht, dass manche Menschen
Die seit 1969 amtierende sozialliberale aufgrund ihres „Andersseins“ naturgemäß
Bundesregierung setzte hier einen Reform- an den „normalen“ Bedingungen der Umwelt
prozess in Gang. Sie war mit großen Zie- scheitern mussten. Demgegenüber klang nun
len an die Behindertenpolitik herangetreten, in den 1970er Jahren – oftmals in gedankli-
hatte ein „Jahrzehnt der Rehabilitation“ an-
gekündigt.❙5 Willy Brandt (SPD) sprach als
❙6 Walter Arendt, Wege zur Chancengleichheit
der Behinderten, in: Kurt-Alphons Jochheim u. a.
❙5 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozial- (Hrsg.), Wege zur Chancengleichheit der Behinder-
ordnung (BMA) Walter Arendt, Rede zur Gründung ten. Bericht über den 25. Kongress der DeVg e. V.
des Vereins Haus der Behinderten Bonn e. V., Manu- in Bad Wiessee, 10.–12. 10. 1973, Heidelberg 1974,
skript, 29. 10. 1973, BArch B 189 28091. S. 11–21, hier S. 20.
8 APuZ 23/2010
9. cher Verbindung zur Stadtkritik – vor allem nister Arendt und anderen gerieten um 1970
in der Expertenschaft Kritik an dem an, was Menschen mit Behinderungen zu „behinder-
in der Gesellschaft als „normal“ galt. All- ten Mit-Bürgern“.❙8 Zwar lässt sich einwen-
tägliche urbane Mobilitäts- und Flexibili- den, dass das „Mit-“ letztlich eine Teilqua-
tätsanforderungen wurden beispielsweise lifikation beinhaltet, jedoch markierte der
dafür kritisiert, dass sie weitgehend auf die Begriff durchaus eine Aufwertung. Erst-
begrenzte Gruppe von Menschen hin ausge- mals wurden Menschen mit Behinderungen
richtet seien, die beweglich, motorisiert und als Bürger – nie als Bürgerinnen – angespro-
finanziell gut gestellt seien. Die Bundesregie- chen. Bürger oder Bürgerin zu sein steht für
rung wollte Diversitätsfolgen kompensieren, Mündigkeit und konstituiert sich in Rechten
indem sie den Hindernisabbau ideell und und Pflichten, unter anderem in denen von
materiell förderte. Aufgrund beschränkter Steuerzahlerin nen und Steuerzahlern, Wäh-
Kompetenzspielräume konzentrierte sie sich lerinnen und Wählern. Zuvor waren behin-
vor allem darauf, zwei DIN-Normen❙7 zum derte Menschen vorrangig als Empfängerin-
hindernisfreien Bauen zu initiieren. Hinder- nen und Empfänger von Hilfen betrachtet
nisabbau und „behindertengerechtes“ Bauen worden. Bürger dagegen konsumieren und
blieben dabei mit Rehabilitation und funk- partizipieren. Der Begriff markiert einen
tionaler Anpassung verknüpft. Behinderung Öffnungs- und Umdenkprozess und zeigt,
galt jedoch weiterhin als individuelles Pro- dass behinderten Menschen – vor allem Män-
blem, das mit instrumenteller Hilfe gelöst nern – neue soziale Orte in der Gesellschaft
werden konnte und musste. Integration wur- zugedacht wurden.
de als Bemühung verstanden, Menschen in
die Gesellschaft hereinzuholen, der sie bis- Feststellen lässt sich zudem, dass Spre-
her scheinbar fern standen. cherpositionen im politischen Diskurs neu
verteilt wurden. Wenngleich noch immer
nicht behinderte Funktionäre und Funkti-
Anfänge des kategorialen Wandels onärinnen das Feld dominierten, begannen
in den 1970er Jahren allmählich Menschen, die mit Behinderun-
gen lebten, für sich selbst zu sprechen. Über
Dennoch – und trotz aller Divergenzen zwi- unterschiedlichste Selbsthilfe- und Akti-
schen Theorie und Praxis dieser Reformpha- onsbündnisse und die entstehende Eman-
se – lässt sich der Beginn eines Politik- und zipationsbewegung steigerten sie ihre po-
Denkwandels ausmachen. Impulse kamen litische Sichtbarkeit. Noch kaum jedoch
aus dem in den 1960er Jahren einsetzenden erhielten sie Zugang zu den wissenschaftli-
allgemeinen Wandel von Werten und der chen Diskussionsarenen: Behinderten Men-
wachsenden politischen und sozialen Sen- schen, die dort auftraten, gehörten meist
sibilisierung der Gesellschaft. Verschiedene selbst den Rehabilitationsprofessionen an
gesellschaftliche Akteure, erstmals verstärkt und verfügten so bereits über den Status
auch die Medien, stellten sich die Frage, wel- und die Glaubwürdigkeit von Experten.
chen Platz und welche Rollen Menschen mit Als „Experten ihrer selbst“ erreichten be-
Behinderungen in der Gesellschaft einneh- hinderte Menschen die wissenschaftlichen
men sollten. Bisher schien dieser Platz qua Foren selten.
Biologie und Schicksal vorgezeichnet zu
sein. Nun wurde er verhandelbar. Bemerkbar Dennoch wurde im wissenschaftlichen Be-
machte sich dies zum Beispiel in den Sprach- hinderungsdiskurs die hegemoniale Stellung
regelungen der Politik: Bei Bundespräsident der Ärzte durchbrochen: Vor allem Sozialwis-
Gustav Heinemann (SPD), Bundesarbeitsmi- senschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler,
die Behinderung als Forschungsgegenstand
für sich entdeckten, schufen Gegengewich-
❙7 DIN 18025 Wohnungen für Schwerbehinderte, te zur individuell-medizinischen Erklärung
Planungsgrundlagen, Bl. 1: Wohnungen für Roll- von Behinderung. Schritt für Schritt speis-
stuhlbenutzer (1972), Bl. 2: Wohnungen für Blin-
de und wesentlich Sehbehinderte (1974); DIN 18024
Bauliche Maßnahmen für Behinderte und alte Men- ❙8 Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Ap-
schen im öffentlichen Bereich. Planungsgrundlagen, pell an Solidarität und Bürgermut, in: Bulletin des
Bl. 1: Straßen, Plätze und Wege (1974), Bl. 2: Öffent- Presse- und Informationsamts der Bundesregierung,
lich zugängliche Gebäude (1976). 28. 12. 1971, S. 2090.
APuZ 23/2010 9
10. ten sie ein Moment der sozialen Bedingtheit Protest und Selbstbestimmung:
in die Erklärungsmodelle von Behinderung
ein.❙9 Über die Fachtagungen der Professi-
Emanzipationsbestrebungen behinderter
onsverbände und die bei den Ministerien an- Menschen seit den 1980er Jahren
gesiedelten Expertengremien beispielswei-
se gelangten diese veränderten Sichtweisen Bilder von unterdrückten und bevormun-
in den politischen Raum. Gesellschaftskriti- deten Opfern produzierte auch die seit dem
sche Autoren beispielsweise beschrieben nun Ende der 1970er Jahre entstehende Emanzi-
behindernde Umweltgestaltungen als augen- pationsbewegung.❙12 Am provokantesten ta-
scheinliche Konsequenzen eines ausgren- ten dies die seit 1977 entstehenden „Krüppel-
zenden Verhaltens der „Produktiven“ und gruppen“. Bewusst kämpferisch wählten sie
„Normalen“. Auf der Basis der herrschafts- die provokante Selbstbezeichnung „Krüp-
soziologischen These von der sozialen Diszi- pel“, um sich von den Integrations- und Nor-
plinierung und Entmündigung des „betreu- malisierungserwartungen der Behinderten-
ten Menschen“ durch seine Betreuer❙10 fragte politik zu befreien; sie forderten behinderte
sich eine kritische Generation von in der Re- Menschen dazu auf, sich aus ihrem Opfer-
habilitation tätigem Fachpersonal, ob sie das status zu befreien.❙13 Möglich schien dies nur
Problem, das sie lösen wollte, nicht selbst ge- auf dem Weg der radikalen Konfrontation
schaffen hatte.❙11 mit und der Abgrenzung von den vermeint-
lich „Normalen“. Hingegen setzten die seit
Doch fällt die Bilanz des Umdenkens am- 1968 vielerorts entstehenden Clubs Behin-
bivalent aus. Erstens machte sich deutlich derter und ihrer Freunde e. V. auf Koopera-
eine Kluft zwischen Theorie und Praxis be- tion und die Bündelung von Kräften, insbe-
merkbar. Zweitens wurden Menschen, die sondere beim Abbau von Alltagsbarrieren auf
mit Behinderungen lebten, wiederum ge- lokaler Ebene. Ähnlich orientierten sich Gus-
danklich zu Opfern – nun der Gesellschaft – ti Steiner (1938–2004) und Ernst Klee (geb.
degradiert. Sie waren erneut Gegenstand von 1942), der nicht mit einer Behinderung leb-
Narrativen des Scheiterns und der Unter- te. Sie boten 1974 erstmals an der Volkshoch-
drückung, allerdings mit dem Unterschied, schule Frankfurt/M. den Kurs „Bewältigung
dass sie nun nicht mehr primär Schicksal der Umwelt“ an. Darin und in vielen weiteren
und Biologie ausgeliefert zu sein schienen, Aktionen setzten sie auf Satire und Provoka-
sondern der Brutalität und Ignoranz einer tion als Ausdrucks- und Aufklärungsmittel,
Gesellschaft, die sich nicht nur in Ausgren- um mediale Aufmerksamkeit für Hindernis-
zung und Diskriminierung, sondern auch in se zu schaffen, auf die vor allem Rollstuhl-
Bevormundung und Abhängigkeit manifes- nutzerinnen und -nutzer täglich stießen.
tierte.
1980 gelang es einer gemeinsamen Protest-
veranstaltung von Krüppelgruppen, Clubs
Behinderter und ihrer Freunde e. V. und ande-
❙9 Vgl. beispielsweise Walter Thimm, Soziologie ren Organisationen, größeres mediales Echo
der Behinderten, Neuburgweiler 1972 3; Aiga Sey-
hervorzurufen, ja mit ihrem Anliegen so-
wald, Körperliche Behinderung. Grundfragen einer
Soziologie der Benachteiligungen, Frankfurt/M.– gar die „Tagesschau“ der ARD zu erreichen:
New York 1977; Gerd W. Jansen, Die Einstellung der Sie fanden sich in Frankfurt zusammen, um
Gesellschaft zu Körperbehinderten. Eine psycholo- gegen das Urteil des dortigen Landgerichts
gische Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen zu demonstrieren, das einer Urlauberin die
aufgrund empirischer Untersuchungen, Neuburg- Minderung des Reisepreises mit der Begrün-
weiler 19742; Wolfgang Jantzen, Sozialisation und
dung zugestanden hatte, ihr Urlaubsgenuss
Behinderung. Studien zu sozialwissenschaftlichen
Grundfragen der Behindertenpädagogik, Gießen sei durch die Anwesenheit von behinder-
1974. ten Jugendlichen maßgeblich beeinträchtigt
❙10 Vgl. Helmut Schelsky, Die neuen Formen der
Herrschaft: Belehrung, Betreuung, Beplanung, in:
Hermann Glaser (Hrsg.), Fluchtpunkt Jahrhundert- ❙12 So u. a. Udo Sierck/Nati Radtke, Die WohlTÄ-
wende. Ursprünge und Aspekte einer zukünftigen TER-Mafia. Vom Erbgesundheitsgericht zur Hu-
Gesellschaft, Bonn 1979, S. 135–143. mangenetischen Beratung, Hamburg 1984.
❙11 Vgl. Andrea Buch u. a., An den Rand gedrängt. ❙13 Vgl. Krüppelgruppe Bremen, Krüppelunterdrü-
Was Behinderte daran hindert, normal zu leben, ckung und Krüppelgegenwehr, in: Psychologie und
Hamburg 1980, S. 12. Gesellschaftskritik, 4 (1980) 3, S. 4–8, hier S. 4, 6, 8.
10 APuZ 23/2010
11. worden.❙14 Einen weiteren Höhepunkt erleb- gesetze auf Bundes- und Länderebene zu ver-
te die Bewegung in den Protesten gegen das abschieden. 1994 wurde der Satz „Niemand
International Year of Disabled Persons, das darf wegen seiner Behinderung benachtei-
die UNO-Vollversammlung ausgerufen hatte ligt werden“ in Artikel 3 des Grundgesetzes
und das auch in der Bundesrepublik began- aufgenommen. Behinderte Menschen sind
gen wurde. Kritisiert wurde, dass behinderte seither explizit als Trägerinnen und Träger
Menschen kaum an der Planung der Veran- von Grundrechten beschrieben. Damit die-
staltungen beteiligt bzw. auf diesen wiederum ses Benachteiligungsverbot im Alltag Wir-
zu passiven und dankbaren Hilfsempfängern kung zeigen konnte, bedurfte es gesetzlicher
eines fürsorglichen Sozialwesens abgewertet Konkretisierungen. Eine Allianz zwischen
wurden. Um dieser Kritik Ausdruck zu ver- Interessenverbänden und Aktion Sorgen-
leihen, bildete sich die Aktionsgruppe gegen kind e. V. (heute Aktion Mensch e. V.) weckte
das UNO-Jahr der Behinderten. Ihre öffent- 1997 mediale Aufmerksamkeit für das The-
lichkeitswirksamen Aktionen gipfelten im ma und erreichte, dass die Verabschiedung
„Krüppeltribunal“ in Dortmund.❙15 Das Tri- eines Behindertengleichstellungsgesetzes des
bunal klagte Menschenrechtsverletzungen in Bundes 1998 in die Koalitionsvereinbarung
Dauerpflegeeinrichtungen, Strukturen der einging. Das 2002 in Kraft getretene Gesetz
Aussonderung und Mobilitätsbeschränkun- zur Gleichstellung von Menschen mit Behin-
gen an und deckte als neues Thema die sexu- derungen gibt den Dienststellen des Bundes
elle Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Rahmenbedingungen vor, die vor Benach-
Behinderungen auf. teiligungen schützen sollen. Kernanliegen
ist eine umfassend verstandene Barrierefrei-
In der Folge des Protestjahres differen- heit, die sich nicht auf die Beseitigung bau-
zierte sich die Emanzipationsbewegung aus. lich-technischer Barrieren beschränkt. Men-
Auf lokaler Ebene engagierten sich viele im schen mit Behinderungen sollen vielmehr alle
Abbau von Alltagshindernissen und ver- Lebensbereiche in allgemein üblicher Wei-
schafften sich schrittweise Zugang zur Kom- se, ohne besondere Erschwernisse und ohne
munalpolitik. Andere Gruppen kämpften, fremde Hilfe zugänglich gemacht werden.
zunächst unter dem Dach der politischen Erstmals in der Geschichte der bundesdeut-
Partei Die Grünen, später überparteilich, für schen Behindertenpolitik waren über das Fo-
die Gleichstellungs- und Antidiskriminie- rum behinderter Juristinnen und Juristen
rungsgesetzgebung und griffen aktiv in Eu- behinderte Menschen direkt und ohne die
genik- und Bioethikdiskurse ein. Wichtige Vorschaltung von Verbänden in die für den
Impulse gingen dabei vom 1990 in den USA Gesetzentwurf zuständige Arbeitsgruppe des
verabschiedeten Antidiskriminierungsgesetz Bundesministeriums für Arbeit und Sozial-
(Americans with Disabilities Act) und den ordnung integriert worden. Nötig war aber
1993 von der Generalversammlung der Ver- auch ein Antidiskriminierungsgesetz für den
einten Nationen angenommenen Rahmenbe- zivilrechtlichen Geltungsbereich. Erst 2006
stimmungen über die Chancengleichheit für konnte das Allgemeine Gleichbehandlungs-
Menschen mit Behinderungen aus. Letztere gesetz in Kraft treten.
verpflichteten die Staaten, Diskriminierun-
gen auf gesetzlichem Weg zu beseitigen und In dem skizzierten Ausdifferenzierungs-
einen rechtlichen Rahmen für die Gleichstel- prozess seit den 1980er Jahren nahm, nach
lung von Menschen mit Behinderungen zu angelsächsischem Vorbild, auch die Selbstbe-
schaffen. stimmt-Leben-Bewegung ihren Ausgang. Ihr
Hauptaugenmerk liegt auf der autonomen
In der Bundesrepublik drängte der soge- Gestaltung von Leben und Wohnen bei weit-
nannte Initiativkreis Gleichstellung Behin- gehender Unabhängigkeit von fremder Hil-
derter erfolgreich darauf, das Grundgesetz fe bzw. auf der selbstbestimmten Wahl und
entsprechend zu ändern und Gleichstellungs- Gestaltung der Hilfen.❙16 Das erste Zentrum
für Selbstbestimmtes Leben entstand 1986
in Bremen. 1990 wurde die Interessenver-
❙14 Vgl. Carol Poore, Disability in Twentieth-Centu-
ry German Culture, Ann Arbor 2007, S. 277 f.
❙15 Vgl. Susanne von Daniels u. a. (Hrsg.), Krüppel- ❙16 Vgl. Vereinigung Integrationsförderung e. V.
Tribunal. Menschenrechtsverletzungen im Sozial- (Hrsg.), Behindert ist, wer Hilfe braucht – Integra-
staat, Köln 1983, S. 9–10. tion – ein praktisches Problem, München 1981, S. 12.
APuZ 23/2010 11
12. tretung Selbstbestimmt Leben e. V. gegrün- senheit auf Technologien einhergeht und Be-
det, um praxisorientierte Beratungsarbeit hinderung dadurch tendenziell weiterhin
und politische Lobbyarbeit zu verbinden. Sie individualisiert, statt sie zu vergemeinschaf-
hatte wesentlichen Anteil daran, dass sich in ten.❙18 Wenngleich der Anpassungsdruck an
der Behindertenpolitik allmählich eine neue funktionale Normalitätserwartungen und
Sichtweise auf den Abbau von Hindernissen präskriptive Normen gesunken sein mag, lau-
etablierte. Das Konzept der Barrierefreiheit tet das behindertenpolitische Ideal weiterhin,
löste im Lauf der 1990er Jahre allmählich die „normal“ zu leben. In der Umsetzung ge-
ältere Vorstellung ab, nach der durch „behin- wannen viele behinderte Menschen an Hand-
dertengerechtes“ Planen und Bauen Sonder- lungs- und Teilhabeoptionen, jedoch lässt das
maßnahmen geschaffen werden mussten, um Normalitätsideal die Einsicht vermissen, dass
eine als nicht „normal“ empfundene Gruppe Leben nicht „normal“ sein muss❙19 und dass
in die Welt der „Normalen“ zu integrieren. gerade die Umwelt offen für die Pluralität
Nun lautete die neue Lesart, dass Barrieren von Zugangs- und Nutzungswegen und eine
in der gebauten Umwelt Menschen mit Be- Vielfalt von Aneignungsmöglichkeiten ge-
hinderungen, aber auch viele andere in ihrer staltet werden kann. Nicht „Andersheit“ ist
Selbstständigkeit und -bestimmtheit, gesell- das Problem, sondern Benachteiligung.
schaftlichen Partizipation und Bewegungs-
freiheit einschränkten und daher abgeschafft
werden sollten. Schlussbemerkungen
Mit derlei Fragen beschäftigt sich gegenwär-
Inklusion und Normalitätserwartungen tig Disability History. Sie ist Teil des eman-
seit den 1990er Jahren zipatorischen Projekts der Disability Studies.
Im Gegensatz zur „klassischen“ Behinde-
Inklusion ersetzte als Ziel und Methode nun rungsforschung in Medizin oder Rehabilitati-
zunehmend Integration: Statt Menschen einer onswissenschaft haben die Disability Studies
Gesellschaft zuzuführen, der sie vermeint- keine interventionistische oder praxisorien-
lich nicht angehören, bedeutet Inklusion, tierte Motivation. Sie wollen vielmehr tradi-
eine von Geburt an bestehende Zugehörig- tionelle Sicht- und Denkweisen über Men-
keit aufrecht zu erhalten. An die Stelle von schen mit Behinderungen überwinden.
Defizitorientierung sollte die Förderung Einerseits soll eine Forschungscommunity
von Fähigkeiten rücken. Propagiert wurde von Menschen mit Behinderungen entstehen,
ein Normalisierungsverständnis, demzufol- andererseits sollen die Sozial-, Kultur- und
ge die Lebens-, Wohn- und Konsumformen Geisteswissenschaften für eine konstrukti-
in der Gesellschaft so zu verändern sind, dass vistische Sicht auf Behinderung interessiert
sie Menschen mit und ohne Behinderungen werden. Aus kulturalistischer Perspektive
gleichermaßen in Anspruch nehmen können. lassen sich – unter anderem am Beispiel der
Barrierefreie Technologien galten nun als Behindertenpolitik – die hinter Behinderung
Garanten von Unabhängigkeit und Selbstbe- stehenden Prozesse der Benennung und Ka-
stimmung. Dahinter verbarg sich die Vorstel- tegorisierung und ihre soziokulturellen Wur-
lung, dass die Umwelt durch technische Maß- zeln aufzeigen.
nahmen universell zugänglich und nutzbar
gemacht werden könnte. Gelänge dies, gäbe
es, so die Erwartung, keine Benachteiligun-
gen mehr, weil behinderte Menschen nicht
❙18 Vgl. Sally French, What’s so great about indepen-
mehr ausgeschlossen oder auf diskriminie-
dence?, in: John Swain u. a. (eds.), Disabling Barriers
rende Weise auf Sondernutzungen und Son- – Enabling Environments, London-Newbury Park-
derwege verwiesen würden.❙17 New Delhi 1993, S. 44–48.
❙19 Vgl. Anne Waldschmidt, Ist Behindertsein nor-
Selten wurde dabei darauf aufmerksam ge- mal? Behinderung als flexibelnormalistisches Dis-
macht, dass dies mit einer neuen Angewie- positiv, in: Günther Cloerkes (Hrsg.), Wie man be-
hindert wird. Texte zur Konstruktion einer sozialen
Rolle und zur Lebenssituation betroffener Menschen,
❙17 Vgl. z. B. Europäisches Institut Design für Alle in Heidelberg 2003, S. 83–101, hier S. 98.
Deutschland, European Concept für Accessibility/
ECA für Verwaltungen, Berlin 2008.
12 APuZ 23/2010
13. Valentin Aichele tionen, Medienberichten und fachpolitischen
Stellungnahmen breit diskutiert.❙5
Behinderung und
Entstehungsgeschichte
Menschenrechte: Die Konvention ist im Rahmen der Verein-
Die UN-Konvention ten Nationen entwickelt worden.❙6 Nach
Abschluss der nur vier Jahre dauernden in-
über die Rechte ternationalen Vorbereitung nahm die Gene-
ralversammlung der Vereinten Nationen die
von Menschen
Konvention im Dezember 2006 an. Internati-
onal ist sie bereits seit 2007 als völkerrechtli-
ches Vertragswerk in Kraft. Ihr erfolgreicher
mit Behinderungen Entstehungsprozess erklärt sich durch die
aktive Mitwirkung von Menschen mit Be-
hinderungen und ihren Verbänden, die ihre
D ie UN-Konvention über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen (UN-
BRK), seit dem 26. März 2009 in Kraft, ist
❙1 Siehe das Gesetz zu dem Übereinkommen der
Vereinten Nationen vom 13. 12. 2006 über die Rech-
te von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem
in Deutschland ange- Fakultativprotokoll vom 13. 12. 2006 zum Überein-
Valentin Aichele kommen.❙1 Ihre Bedeu- kommen der Vereinten Nationen über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen, BGBl. 2008 II,
Dr. iur., geb. 1970; Leiter der tung für die Lebenssi-
S. 1419 ff.
Monitoring-Stelle zur UN- tuation von Menschen ❙2 Vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
Behindertenrechtskonvention, mit Behinderungen ist FDP für die 17. Legislaturperiode vom 11. 11. 2009
Deutsches Institut für kaum zu überschät- „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“, S. 83/132.
Menschenrechte, Zimmer- zen. Die Konvention ❙3 Vgl. die Pressemitteilung des Beauftragten der
straße 26/27, 10969 Berlin. steht zu Recht für ei- Bundesregierung für die Belange behinderter Men-
schen vom 25. 3. 2010: „Neuer Behindertenbeauf-
aichele@ nen Wechsel von einer
tragter zeigt Schwerpunkte seiner Arbeit beim ersten
institut-fuer-menschenrechte.de Politik der Fürsorge Jahresempfang auf“.
hin zu einer Politik ❙4 Vgl. die Pressemitteilung des Bundesministeriums
der Rechte. Sie ist der neue Rechtsrahmen für für Arbeit und Soziales vom 22. 4. 2010: „Umsetzung
die Behindertenpolitik in Deutschland und der Behindertenrechtskonvention. BMAS setzt auf
breite Beteiligung“; in Rheinland-Pfalz liegt bereits
erhebt die Rechte von Menschen mit Behin-
ein Aktionsplan vor. In anderen Bundesländern sind
derungen zur Grundlage und zum Maßstab von den Landtagen Beschlüsse gefasst worden, Maß-
politischen Handelns. In Bezug auf viele Po- nahmenpläne zu entwickeln, so etwa in Bayern, Hes-
litikfelder macht die UN-BRK konkrete Vor- sen und Thüringen.
gaben, die bereits heute für eine Umsetzung ❙5 Vgl. u. a. Die Beauftragte der Bundesregierung
eine klare Handlungsorientierung bieten. für die Belange behinderter Menschen (Hrsg.), alle
inklusive! Die neue UN-Konvention … und ihre
Handlungsaufträge. Ergebnisse der Kampagne alle
Der Zuspruch, den dieses Übereinkom- inklusive!, Berlin 2009; Bezüge zur UN-Behinder-
men erfährt, ist enorm. Zahlreiche Stimmen tenrechtskonvention weisen die Stellungnahmen der
aus Staat und Gesellschaft beziehen sich auf Sachverständigen auf, siehe Deutscher Bundestag/
sie. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundes- Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdruck-
regierung bekräftigt sie als Maßstab für je- sache 17(11)128 vom 27. 4. 2010.
❙6 Zur Entstehungshintergrund siehe Don MacKay,
des staatliche Handeln.❙2 Der Beauftragte der
The United Nations Convention on the Rights of Per-
Bundesregierung für die Belange behinderter sons with Disabilities, in: Syracuse Journal of Inter-
Menschen hat die Konvention zum Schwer- national Law and Commerce, 34 (2007) 2, S. 323–331;
punkt seiner Amtszeit erklärt.❙3 Die Bundes- Antje Welke, Das Internationale Übereinkommen
regierung und einige Bundesländer arbeiten über die Rechte von Menschen mit Behinderungen,
an Aktionsplänen zur Umsetzung ihrer Vor- in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen
Arbeit, (2007) 1, S. 60–72; Theresia Degener, Men-
gaben.❙4 Die erforderlichen Veränderungen
schenrechtsschutz für behinderte Menschen: Vom
und Konsequenzen, die aus der Konvention Entstehen einer neuen Menschenrechtskonventi-
abgeleitet werden können, werden in unzäh- on der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen,
ligen öffentlichen Veranstaltungen, Publika- (2006) 2, S. 104–110.
APuZ 23/2010 13
14. Erfahrungen und Perspektiven einbringen Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie er-
konnten.❙7 Die seither wachsende internatio- kennt eine Behinderung dort, wo die Wech-
nale Anerkennung der UN-BRK übersteigt selwirkung zwischen einer Beeinträchtigung
gerade in Anbetracht der hohen Anforde- und einer gesellschaftlichen Barriere dazu
rungen, die sie an ihre innerstaatliche Umset- führt, dass Menschen mit Behinderungen an
zung stellt, alle Erwartungen. So haben sich der vollen, wirksamen und gleichberechtig-
bereits 85 Staaten an die Konvention gebun- ten Teilhabe an der Gesellschaft gehindert
den (Stand: Mai 2010). Mehr als 50 Staaten werden (siehe Art. 1 Unterabs. 2 UN-BRK).
haben das Beschwerdeverfahren nach dem Die Konvention verlagert damit das Problem
Fakultativprotokoll akzeptiert. Die Zahl der „Behinderung“ von der individuellen Sphä-
Vorbehalte bleibt erfreulich gering.❙8 re zu den Bereichen der gesellschaftlichen
Strukturen und unseres Denkens.
Ziel der Konvention
Die Rechte
Menschen mit Behinderungen sollen von den
Menschenrechten Gebrauch machen können, Spektrum der verankerten Rechte: Die Kon-
und zwar gleichberechtigt mit anderen, das vention deckt das gesamte Spektrum men-
heißt in gleichem Maße wie nichtbehinder- schenrechtlich geschützter Lebensbereiche
te Menschen (Art. 1 Unterabs. 1 UN-BRK). ab. Dem Grundsatz der Unteilbarkeit ver-
Dieses ausdrücklich erklärte Ziel der Kon- pflichtet, integriert sie wie kein Überein-
vention fußt auf der Erkenntnis, dass Men- kommen vor ihr bürgerliche und politische
schen wegen einer Beeinträchtigung stärker Rechte sowie wirtschaftliche, soziale und
in der Wahrnehmung ihrer Rechte einge- kulturelle Rechte. Die Konvention listet die
schränkt sein können als Menschen ohne Be- Rechte der Menschen mit Behinderungen im
hinderungen. Einzelnen auf.
Verständnis von Behinderung Die Konven- Dazu gehören das Recht auf Leben
tion nimmt sehr vielfältige Lebenssituationen (Art. 10), das Recht auf gleiche Anerkennung
in den Blick. Sie fokussiert die Lebenslagen vor dem Recht und Schutz der Rechts- und
der Menschen, die langfristige körperliche, Handlungsfähigkeit (Art. 12), das Recht auf
seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchti- Zugang zur Justiz (Art. 13), das Recht auf
gungen haben (vgl. Art. 1 Unterabs. 2 UN- Freiheit und Sicherheit (Art. 14), Freiheit von
BRK). Dazu gehören nicht nur Menschen, Folter (Art. 15), Freiheit vor Ausbeutung,
die herkömmlich mit einer „Behinderung“ Gewalt und Missbrauch (Art. 16), das Recht
assoziiert werden, wie etwa Menschen mit auf körperliche und seelische Unversehrtheit
körperlichen Einschränkungen, blinde oder (Art. 17), Freizügigkeit (Art. 18), das Recht
gehörlose Menschen, sondern auch Men- auf Staatsangehörigkeit (Art. 18), das Recht
schen mit einer sogenannten geistigen Be- auf unabhängige Lebensführung und Ein-
hinderung, Menschen mit seelischen Schwie- beziehung in die Gesellschaft (Art. 19), das
rigkeiten oder psychischen Erkrankungen, Recht auf persönliche Mobilität (Art. 20), das
Menschen mit Autismus oder auch pflegebe- Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 21),
dürftige alte Menschen. das Recht auf Zugang zu Informationen
(Art. 21), Achtung der Privatsphäre (Art. 22),
Als „Behinderung“ versteht die Konventi- Achtung der Wohnung (Art. 23), Familie
on die strukturell bedingte und im Vergleich und Familiengründung (Art. 23), das Recht
zu nichtbehinderten Menschen größere Ein- auf Bildung (Art. 24) und auf Gesundheit
schränkung der individuellen Rechte von (Art. 25), das Recht auf Arbeit und Beschäfti-
gung (Art. 27), das Recht auf einen angemes-
❙7 Vgl. Jochen von Bernstorff, Menschenrechte und senen Lebensstandard (Art. 28), Teilhabe am
Betroffenenrepräsentation: Entstehung und Inhalt politischen und öffentlichen Leben (Art. 29),
eines UN-Antidiskriminierungsübereinkommens Teilhabe am kulturellen Leben sowie auf Er-
über die Rechte von behinderten Menschen, in: Zeit-
holung, Freizeit und Sport (Art. 30).
schrift für ausländisches öffentliches Recht und Völ-
kerrecht, 67 (2007) 4, S. 1041–1063.
❙8 Vgl. zum aktuellen Ratifikationsstand oder Vorbe- Konkretisierung bestehender Menschen-
halten online: http://treaties.un.org (1. 5. 2010). rechte: Es handelt sich bei den „Rechten
14 APuZ 23/2010
15. von Menschen mit Behinderungen“ gemäß zen.❙12 Wesentlich sind Wortlaut, Systematik
der Konvention um ein und dieselben Rech- und Ziel der Konvention. In die Sinndeutung
te, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der der Rechte einzubeziehen sind auch die soge-
Menschenrechte von 1948, dem Internatio- nannten Allgemeinen Bemerkungen der UN-
nalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und Fachausschüsse.❙13 Auch die Grundsätze,
kulturelle Rechte von 1966 und dem Inter- welche die Konvention bestimmt, etwa der
nationalen Pakt über bürgerliche und politi- Grundsatz der sozialen Inklusion, assistier-
sche Rechte von 1966 niedergelegt sind. Sie te Selbstbestimmung oder die Gleichheit von
ist keine Spezialkonvention, die Sonderrech- Frau und Mann, sind ebenfalls für die Ausle-
te oder Privilegien für Menschen mit Behin- gung der einzelnen Rechte von großer Wich-
derungen formuliert. Die Leistung und der tigkeit (siehe dazu Art. 3 UN-BRK). Ihre
Gewinn der Konvention sind darin zu er- Ziele verstärken die Ausrichtung der einzel-
kennen, dass sie die universellen Rechte aus nen Rechte und erlauben, eine entsprechende
der Perspektive von Menschen mit Behin- Auslegung zu begründen.
derungen präzisiert und im selben Zuge die
staatlichen Verpflichtungen für ihren Schutz Zum Beispiel: Das Recht auf inklusive Bil-
konkretisiert.❙9 dung. Die Konkretisierungsleistung der Kon-
vention sei hier anhand des Rechts auf inklu-
Zum Beispiel haben die Staaten der Ver- sive Bildung im Sinne von Art. 24 UN-BRK
einten Nationen im Bereich des Diskrimi- kurz dargestellt. Das Recht auf Bildung als
nierungsschutzes seit Gründungszeiten Ver- Menschenrecht ist bereits in der Allgemeinen
bote, etwa in Bezug auf Geschlecht, Sprache Erklärung der Menschenrechte und im UN-
und Religion angenommen.❙10 „Behinderung“ Pakt über wirtschaftliche, soziale und kultu-
jedoch war weder in der Allgemeinen Erklä- relle Menschenrechte anerkannt worden.❙14
rung der Menschenrechte von 1948 noch in 1999 hat der UN-Fachausschuss für die wirt-
den beiden Pakten von 1966 ausdrücklich schaftlichen, sozialen und kulturellen Rech-
als Verbotsmerkmal anerkannt worden. Die te den Inhalt und die damit verbundene Ver-
menschenrechtliche Relevanz des Phäno- pflichtungsstruktur des Rechts auf Bildung
mens Behinderung wurde damals schlicht- dargelegt. Dieser Kommentar ist auch für
weg verkannt. Aufgrund ihrer präg nanten das Verständnis von Art. 24 UN-BRK lei-
Ausgestaltung stellt die UN-BRK nunmehr tend.❙15 Danach steht das Recht auf Bildung
ausdrücklich klar, dass auch „Behinderung“ für eine individuelle Rechtsposition. Sie ge-
zu den Lebenslagen gehört, die in den Be- währleistet jedem Menschen altersunabhän-
reich des Diskriminierungsschutzes fallen. gig die Freiheit auf lebenslanges Lernen.❙16
Die Konvention konkretisiert damit das be- Es gilt als wichtiges Mittel für die Verwirk-
stehende menschenrechtliche Diskriminie- lichung anderer Menschenrechte. Mit dem
rungsverbot.
❙12 Siehe hierzu Meinhard Hilf, Die Auslegung mehr-
Das bedeutet auch, dass die Bestimmun- sprachiger Verträge. Eine Untersuchung zum Völ-
gen der Konvention unter Anwendung be- kerrecht und zum Staatsrecht der Bundesrepublik
Deutschland, Berlin 1973, S. 187 ff., S. 191 f.
stimmter Methoden und Quellen ausgelegt
❙13 Vgl. Philip Alston, The historical origins of the
werden können und sollen, will man ihren concept of „general comments“ in human rights law,
Inhalt sinnvoll erschließen. Eine fachgerech- in: Liber Amicorum Georges Abi-Saab, Den Haag
te Auslegung muss sich etwa der Interpreta- 2001, S. 763–776.
tionsstandards der Wiener Vertragsrechts- ❙14 Vgl. Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Men-
konvention bedienen❙11 und immer an den schenrechte, Art. 13 des UN-Paktes über wirtschaft-
liche, soziale und kulturelle Rechte und Art. 28
authentischen Sprachfassungen – zu denen
und 29 des Übereinkommens über die Rechte des
die deutsche Fassung nicht gehört – anset- Kindes.
❙15 Vgl. UN-Ausschuss für wirtschaftliche, sozia-
❙9 Vgl. Valentin Aichele, Die UN-Behindertenrechts- le und kulturelle Rechte, Allgemeine Bemerkung,
konvention und ihr Zusatzprotokoll. Ein Beitrag zur Nr. 13, UN Doc. E/C.12/1999/10 vom 8. 12. 1999;
Ratifikationsdebatte, Berlin 2008, S. 5. vgl. in deutscher Übersetzung Deutsches Institut für
❙10 Vgl. Art. 1 Nr. 3 Charta der Vereinten Nationen Menschenrechte (Hrsg.), Die „General Comments“ zu
von 1945. den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Über-
❙11 Vgl. Art. 31–33 der Wiener Übereinkommen setzung und Kurzeinführung, Baden-Baden 2005,
über das Recht der Verträge von 1969, BGBl. 1985 II, S. 263–284.
S. 926. ❙16 Vgl. UN Doc. (Anm. 15), Ziffer 4.
APuZ 23/2010 15
16. Recht verbinden sich staatliche Verpflichtun- Grundsätze und Querschnittsaufgaben
gen auf verschiedenen Ebenen (Achtungs-,
Schutz- und Gewährleistungsverpflichtun- Die UN-BRK formuliert zu den einzelnen
gen).❙17 Die Verpflichtungen beziehen sich auf Rechten übergreifende, grundlegende Anlie-
Fragen der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, gen, die in Bezug auf die Verwirklichung na-
Angemessenheit und Adaptierbarkeit von hezu aller Rechte von Menschen mit Behin-
Bildungseinrichtungen und Diensten im Be- derungen von wesentlicher Bedeutung sind.
reich Bildung.❙18 Das ist nicht nur von theoretischer Bedeu-
tung, sondern hat praktische Konsequenzen:
Geleitet vom Grundsatz der Inklusion, Während sich etwa in der Vergangenheit Be-
entwickelt die Konvention das Recht auf Bil- hindertenpolitik auf sozialpolitische Fragen
dung zu einem Recht auf inklusive Bildung konzentriert hat, unterstreicht die Konven-
fort.❙19 Behinderte und nichtbehinderte Men- tion, dass Behinderung in allen Politikberei-
schen haben demnach ein Recht darauf, ge- chen relevant sein kann.
meinsam zu lernen. Kinder und Jugendliche
mit Behinderungen haben das Recht auf ei- Diskriminierungsschutz: Relevant für alle
nen diskriminierungsfreien Zugang zu ei- Rechte in der Konvention ist der menschen-
ner ortsnahen Regelschule.❙20 Die mit dem rechtliche Diskriminierungsschutz (siehe dazu
Recht auf Bildung verbundenen Ziele sind die Art. 2, 3 und 5 UN-BRK). Das Nichtdis-
durch die UN-Konvention ebenfalls präzi- kriminierungsprinzip dient dazu, den gleich-
siert worden, etwa dass Bildung die Achtung berechtigten Gebrauch der Freiheit von Men-
vor der menschlichen Vielfalt stärken soll.❙21 schen mit Behinderungen abzusichern. Die
Außerdem konkretisiert die Konvention die Konvention verbietet gleichermaßen direk-
staatlichen Verpflichtungen, indem sie dar- te und indirekte Diskriminierung. Besondere
legt, wie das Bildungswesen in Bezug auf Bestimmungen zum Schutz vor Diskriminie-
die Bereiche Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, rung enthält sie in Bezug auf Frauen und Mäd-
Angemessenheit und Adaptierbarkeit weiter chen (Art. 6 UN-BRK).
ausgestaltet werden soll.❙22 Die Konvention
etabliert in diesem Zuge auch die staatliche Als innovatives Element des Diskriminie-
Verpflichtung, schrittweise ein „inklusives rungsschutzes führt die UN-BRK das Kon-
Bildungssystem“ (inclusive education system) zept der angemessenen Vorkehrungen ein
aufzubauen und zu unterhalten, weil sie da- (Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK). Darunter sind
von ausgeht, dass das Recht auf Bildung nur die individuell erforderlichen Anpassungen
in einem inklusiven System gewährleistet von Gegebenheiten zu verstehen, die gewähr-
werden kann.❙23 leisten, dass Menschen mit Behinderungen
ihr Recht gleichberechtigt mit anderen wahr-
nehmen können. Beispielsweise gehören dazu
❙17 Vgl. ebd., Ziffer 43 ff. Veränderungen der Schulsituation in der Re-
❙18 Vgl. ebd., Ziffer 6 ff. gelschule, damit ein Kind mit Behinderung
❙19 Vgl. OHCHR, Thematic study by the Office of dort sinnvoll und individuell – etwa durch
the High Commissioner for Human Rights on en-
zieldifferenten Unterricht – unterrichtet wer-
hancing awareness and understanding of the Con-
vention on the Rights of Persons with Disabilities, den kann. Die Konvention macht angemesse-
UN Doc. A/HRC/10/48 vom 26. 1. 2009, Ziffer 52 f.; ne Vorkehrungen zum integralen Bestandteil
United Nations, The right to education of persons einzelner Rechte, etwa beim Recht auf inklu-
with disabilities. Report of the Special Rapporteur on sive Bildung.❙24
the right to education; UN Doc. A/HRC/4/29 vom
19. 2. 2007.
Inklusion: Der Gedanke der sozialen In-
❙20 Vgl. Eibe Riedel, Gutachten zur Wirkung der in-
ternationalen Konvention über die Rechte von Men- klusion ist ein tragender Grundsatz und Leit-
schen mit Behinderungen und ihres Fakultativpro- begriff der Konvention (Art. 3 UN-BRK).
tokolls auf das deutsche Schulsystem. Erstattet der Inklusion steht für die Offenheit eines ge-
Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben, ge- sellschaftlichen Systems in Bezug auf sozia-
meinsam lernen Nordrhein-Westfalen (LAG GL), le Vielfalt, die selbstverständlich Menschen
Mannheim-Genf 2010.
mit Behinderungen einschließt. Der Begriff
❙21 Vgl. Art. 24 Abs. 1 a) UN-BRK.
❙22 Vgl. Art. 24 Abs. 1 a) bis c) UN-BRK. im Sinne der Konvention geht über das hi-
❙23 Vgl. Art. 24 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2
UN-BRK. ❙24 Vgl. Art. 24 Abs. 2 c) UN-BRK.
16 APuZ 23/2010
17. naus, was traditionell mit „Integration“ ge- zesse eingebunden sind. Erforderlich ist nach
meint ist. Es geht nicht nur darum, innerhalb der Konvention die Partizipation vor allem in
bestehender Strukturen auch für Menschen Bezug auf die Ausarbeitung und Umsetzung
mit Behinderungen Raum zu schaffen, son- von Rechtsvorschriften und politischen Pro-
dern darum, die gesellschaftlichen Struktu- grammen, die zur Umsetzung der UN-BRK
ren so zu gestalten, dass sie der realen Vielfalt beitragen (Art. 4 Abs. 3 UN-BRK).
menschlicher Lebenslagen – gerade auch von
Menschen mit Behinderungen – von vornhe- Ausbau von Kenntnissen: In einigen Berei-
rein gerecht werden.❙25 chen sind die Lebenslagen von Menschen mit
Behinderungen und die damit verbundenen
Bewusstseinsbildung: Große Bedeutung Schwierigkeiten in Bezug auf ihre Rechtsaus-
misst die Konvention der allgemeinen und übung hinreichend bekannt. Das trifft nicht
individuellen Bewusstseinsbildung bei (sie- auf alle Lebensbereiche oder auf alle Gruppen
he Art. 8 UN-BRK). Die von der UN-Kon- von behinderten Menschen zu. Als Grundla-
vention angeleitete Bewusstseinsbildung hat ge für politische Konzepte und Programme
das Ziel, etwa das an „Defiziten“ orientier- erkennt die Konvention deshalb die Notwen-
te Denken zu überwinden. Dagegen fördert digkeit, dass ein Staat geeignete Informationen
sie die Wertschätzung von Menschen mit Be- einschließlich statistischer Angaben und For-
hinderungen und die Sichtweise, Behinde- schungsdaten sammelt (Art. 31 UN-BRK).
rung als Beitrag zur menschlichen Vielfalt
anzuerkennen. Zur Unterstützung eines ge-
sellschaftlichen Bewusstseinswandels ver- Umsetzungsverpflichtungen
pflichtet die Konvention den Staat, sofortige
wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um etwa Mit der Ratifikation hat sich Deutschland ge-
in der gesamten Gesellschaft, einschließlich genüber der internationalen Gemeinschaft,
der Ebene der Familien, das Bewusstsein für aber auch gegenüber den in Deutschland le-
Menschen mit Behinderungen zu schärfen benden Menschen verpflichtet, die Konventi-
und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Wür- on einzuhalten und umzusetzen (siehe Art. 4
de zu fördern. Zu diesen geeigneten Maßnah- Abs. 1 und 2 UN-BRK).❙26 Die Verpflichtun-
men gehören auch öffentliche Kampagnen. gen, die aus der UN-BRK erwachsen, rich-
ten sich primär an die Träger staatlicher Ge-
Barrierefreiheit: Neben den mentalen Bar- walt. Die Adressaten in Deutschland sind die
rieren problematisiert die Konvention die Parlamente auf der Ebene von Bund und Län-
Barrieren aus dem Bereich der Umwelt (etwa dern, welche die Konvention im Rahmen der
in Bezug auf Transportmittel, Information, verfassungsgemäßen Ordnung umzusetzen
Kommunikation, Dienste), die Menschen haben. Neben den Parlamenten sind Behör-
wegen einer Beeinträchtigung am gleichbe- den und Gerichte sowie die Körperschaften
rechtigten Rechtsgebrauch hindern (Art. 9 öffentlichen Rechts ebenfalls Adressaten der
UN-BRK). Die Konvention verpflichtet dazu, Normen, da diese an Gesetz und Recht ge-
Barrieren systematisch zu identifizieren und bunden sind. Die Bundesländer sind im Rah-
schrittweise, aber konsequent abzubauen, die men ihrer Zuständigkeiten für die Umset-
Menschen mit Behinderungen eine selbstän- zung der Konvention verantwortlich.
dige Lebensführung und eine volle Teilhabe
versperren. „Einhaltung der Konvention“ meint, dass
der Staat bestimmten Vorgaben ohne jeden
Partizipation: Politik für Menschen mit Be- Zeitaufschub in Bezug auf bestimmte Bestand-
hinderungen kann nur gelingen, wenn diese
selbst mitwirken. Die Konvention verpflich- ❙26 Vgl. zur Umsetzung OHCHR, Thematic study
tet daher die Staaten, die unterschiedlichen by the Office of the High Commissioner for Human
Perspektiven behinderter Menschen einzube- Rights on enhancing awareness and understanding of
ziehen, indem betroffene Menschen und die the Convention on the Rights of Persons with Disabi-
sie vertretenden Verbände in politische Pro- lities, UN Doc. A/HRC/10/48 vom 26. 1. 2009; Uni-
ted Nations, From exclusion to equality. Realizing
the rights of persons with disabilities. Handbook for
❙25 Vgl. Heiner Bielefeldt, Zum Innovationspotenti- Parliamentarians on the Convention on the Rights of
al der UN-Behindertenrechtskonvention (3. aktuali- Persons with Disabilities and its Optional Protocol,
sierte und erweiterte Auflage), Berlin 2009. Geneva 2007, S. 51 ff.
APuZ 23/2010 17
18. teile entsprechen muss. Diese sind vom Gebot Prozess, der die Einhaltung und Umsetzung
zur progressiven Entwicklung ausgenommen. der Konvention begleitet und fördert.❙29 Men-
Als hinreichend bestimmt gelten das Diskri- schenrechtliches Monitoring ist darauf aus-
minierungsverbot oder auch die Abwehrkom- gerichtet, durch andere als rechtliche Mit-
ponente der Rechte sowie ihre unverfügba- tel darauf hinzuwirken, dass die staatlichen
ren Inhalte (die so genannten Kernbereiche). Verantwortungsträger die UN-BRK einhal-
Dazu gehört beispielsweise beim Recht auf ten und umsetzen. Monitoring ist Überzeu-
Bildung, dass Menschen mit Behinderungen gungsarbeit durch Beteiligung an politischen
nicht rechtlich wie praktisch gegen ihren Wil- Diskussionen, am fachwissenschaftlichen
len vom allgemeinen Bildungssystem ausge- Diskurs und an Entscheidungsprozessen.❙30
schlossen werden.❙27 Die Bundesländer müssen Es bedeutet die genaue sektor- und themen-
jetzt alles daran setzen, um im Einzelfall die bezogene Beobachtung der rechtlichen und
erforderlichen Maßnahmen zu treffen, sodass gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie das
ein sinnvolles individuelles Bildungsangebot Sammeln von Informationen und Fakten und
an einer allgemeinen Schule gemacht werden deren Bewertung im Lichte der UN-BRK.
kann. Man würde die Idee der Menschenrech- Hierauf aufbauend werden staatliche Aktivi-
te nicht hinreichend anerkennen und letzten täten konstruktiv und kritisch begleitet oder
Endes ihre Existenz in Frage stellen, würde neue Aktivitäten angestoßen. Der Monito-
man nicht von einem Kernbestand sofort zu ring-Prozess muss selbst diese Rechte, insbe-
realisierender Verpflichtungen ausgehen. sondere die Partizipationsrechte, beachten.
Neben dem Gebot der Einhaltung besteht Die Besonderheit der UN-BRK gegen-
die Verpflichtung zur schrittweisen Umset- über bisherigen menschenrechtlichen Verträ-
zung. Darunter ist ein zielgerichteter, vom gen liegt darin, dass sie den Staat verpflichtet,
Staat organisierter und angeleiteter Prozess dieses Monitoring auf innerstaatlicher Ebene
zu verstehen, an den die Konvention ihrerseits durch die Schaffung einer unabhängigen Stel-
bestimmte Anforderungen stellt. Beispiels- le dauerhaft sicherzustellen und zu gewähr-
weise bezieht sich diese Verpflichtung beim leisten (siehe Art. 33 Abs. 2 UN-BRK).❙31 In
Recht auf Bildung darauf, ein inklusives Bil- Deutschland heißt diese Monitoring-Stelle
dungssystems aufzubauen.❙28 Dieses Vorhaben und ist Teil des Deutschen Instituts für Men-
kann zwar nur schrittweise erreicht werden. schenrechte in Berlin.❙32
Nach dem Gebot zur progressiven Realisie-
rung muss der Staat damit kurz nach dem ❙29 Siehe den Vortrag von Valentin Aichele „Das In-
Inkrafttreten beginnen, indem er geeignete, novationspotential der UN-Behindertenrechtskon-
vention“, gehalten am 16. April 2008 auf der Fach-
zielführende und wirksame Maßnahmen un-
tagung „UN-Behindertenrechtskonvention über die
ter Einbeziehung der vorhandenen Mittel er- Rechte von Menschen mit Behinderungen zwischen
greift. Diese Prozesse sollen partizipativ und Alltag und Vision“ in Berlin.
transparent ablaufen. Die staatlichen Verant- ❙30 Vgl. United Nations, Monitoring the Convention
wortungsträger sind für ihr Handeln wie für on the Rights of Person with Disabilities. Guidance
etwaige Versäumnisse rechenschaftspflichtig. for Human Rights Monitors, New York-Geneva
2010; Manuel Guzman/Bert Verstappen, What is mo-
nitoring?, Versoix 2003.
❙31 OHCHR, Thematic study by the Office of the
Monitoring United Nations High Commissioner for Human
Rights on the structure and role of national mecha-
In Abgrenzung zu der Pflicht des Staates, die nisms for the implementation and monitoring of the
UN-BRK einzuhalten und umzusetzen, ob- Convention on the Rights of Persons with Disabili-
ties, UN Doc. A/HRc/13/29 vom 22. 12. 2009.
liegt nichtstaatlichen Akteuren eine andere
❙32 Das Deutsche Institut für Menschenrechte wurde
Aufgabe: das Monitoring (Art. 33 Abs. 2 und 3 im März 2001 auf Beschluss des Deutschen Bundes-
UN-BRK, Art. 34 ff UN-BRK). Die UN- tages vom Dezember 2000 als unabhängige Nationale
BRK versteht Monitoring (engl. to monitor – Menschenrechtsinstitution Deutschlands gegrün-
kontrollieren, überwachen) als einen notwen- det. Als solche ist es – so die Feststellung der Ver-
digen und zivilgesellschaftlich organisierten einten Nationen – für die Funktion des Monitoring
der UN-BRK prädestiniert. Zum Konzept der Na-
tionalen Menschenrechtsinstitutionen vgl. Valentin
❙27 Vgl. Art. 24 Abs. 2 a) UN-BRK. Aichele, Die Nationale Menschenrechtsinstitution.
❙28 Vgl. Art. 24 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 Eine Einführung, 2., überarbeitete und aktualisierte
UN-BRK. Auflage, Berlin 2009.
18 APuZ 23/2010