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APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
                                    23/2010 · 7. Juni 2010




 Menschen mit Behinderungen
                                         Katja de Bragança
    Mongolisch ist mongolisch und klingt so wie mongolisch

                                                Elsbeth Bösl
Die Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik

                                          Valentin Aichele
                          Behinderung und Menschenrechte

                                             Thomas Stöppler
             Ja zur Vielfalt (sonder-)pädagogischer Angebote

                                             Hans Wocken
       Über Widersacher der Inklusion und ihre Gegenreden

                             Lisa Pfahl · Justin J.W. Powell
            Draußen vor der Tür: Die Arbeitsmarktsituation
Editorial
  Noch bis in die 1970er Jahre wurde Behinderung als indivi-
duelles, funktionales Defizit aufgefasst, das die Erwerbsfähig-
keit einschränkt oder unmöglich macht. Allmähliche Fort-
schritte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Menschen
mit Behinderungen ließen sich zunächst daran festmachen, dass
sie als „Mit-Bürger“ angesprochen, sie also als mündig angese-
hen wurden. Behinderte Menschen riefen bald dazu auf, sich aus
dem Opferstatus zu befreien, und sprachen zunehmend für sich
selbst.

  Im Jahr 2006 wurde von den Vereinten Nationen die Konven-
tion über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verab-
schiedet. An ihr lässt sich der Wandel des Verständnisses von
einem Leben mit Behinderung ablesen: Behinderung wird
nicht mehr als „Defizit“ angesehen, sondern als Element der
menschlichen Vielfalt. Seit März 2009 ist die Konvention auch
in Deutschland in Kraft. Laut dem Koalitionsvertrag vom ver-
gangenen Herbst dient sie der Bundesregierung als Maßstab für
Entscheidungen in diesem Politikfeld. Die Konvention verbie-
tet jede Diskriminierung und verpflichtet die Vertragsstaaten,
Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben zu garantieren.

  Ungeachtet der breiten Zustimmung, welche die Konventi-
on erfahren hat, birgt sie großen politischen Zündstoff. So wer-
den etwa die detaillierten Vorgaben zu ihrer Umsetzung, die sie
unter anderem für den Bereich Bildung macht, unterschiedlich
interpretiert. Während in der englischen Originalfassung von
einem „inclusive education system“ die Rede ist, das die Ver-
tragsstaaten gewährleisten sollen, spricht die deutsche Über-
setzung von einem „integrativen Bildungssystem“. Kritiker der
deutschen Behindertenpolitik warfen den Kultusministern se-
mantische Tricksereien vor, um das bestehende Bildungssystem
zu erhalten. In einem inklusiven Schulsystem müssten sich die
schulischen Rahmenbedingungen den Bedürfnissen der Schüle-
rinnen und Schüler anpassen und nicht umgekehrt. Konsequent
umgesetzt, würde dies das gegliederte Schulsystem in Frage
stellen.

                                              Manuel Halbauer
Katja de Bragança          Woran merkst du, dass du das Down-Syn-
                                                           drom hast? Des hab i ned. (Lydia Bleibinger)
       Mongolisch ist                                      Weil ich bei Ohrenkuss mitmachen kann.
                                                           (Michael Häger)

mongolisch und klingt                                      Ich würde es sicher gar nicht merken, wenn
                                                           nicht andere davon sprechen würden. (Mar-
                                                           kus Hamm)
   so wie mongolisch                                       Ich kann kein Fahrrad fahren. (Juliane Büge)
                                                           Daran, dass ich etwas mehr Unterstützung

               Essay                                       als andere brauche. (Anna Schomburg)
                                                           Ja – ich bin ein Chinese. (Peter Keller)
                                                           Ich kann keine Reise organisieren./Ich kann
                                                           nicht selbstständig kochen./Schwierigkeiten

        S     ie sind einfach überall – denn jeder 600.
              Mensch hat das Down-Syndrom. Wie,
          Sie kennen niemanden, der das Down-Syn-
                                                           in Sachen Geld./Ich kann nicht alleine leben.
                                                           (Annja Nitsche)
                                                           Ich merke das nicht mehr. (Angela Fritzen)
                                    drom hat? Nach die-    Bei mir wurde ein Chromosomentest ge-
               Katja de Bragança sem Text können Sie       macht. (Carina Kühne)
          Dr. rer. nat., geb. 1959; mitreden. In diesem    Das Glotzen der anderen Menschen. Den
 Gründerin und Chefredakteurin Beitrag werden viele        Führerschein nicht machen zu können. (An-
der Zeitschrift „Ohrenkuss … da Fragen gestellt. Fra-      drea Wicke)
rein, da raus“, Friedrich-Breuer- gen zu dem Down-
         Straße 23, 53225 Bonn. Syndrom. Diese Fra-        Woran erkennt man einen Menschen mit
             info@ohrenkuss.de gen werden von Fach-        Down-Syndrom? Am Aussehen. (Hermine
              www.ohrenkuss.de leuten beantwortet.         Fraas)
                                    Also von erwachsenen
          Menschen, die das Down-Syndrom haben.            ❙1 Dies ist ein Text aus der Ohrenkuss-Redaktion, zu-
          Alle Antworten sind aus der „Ohrenkuss“-         sammengestellt von Katja de Bragança. Was ist ein Oh-
                                                           renkuss?! Man hört und liest so vieles. Fast alles geht
          Redaktion.❙1 Svenja Giesler ist eine junge
                                                           in den Kopf rein und sofort wieder raus. Und nur das
          Frau mit Down-Syndrom.❙2 Sie beschreibt          Wichtige bleibt drin, das ist dann ein Ohrenkuss. In
          ihre Situation in knappen und deutlichen         dem gleichnamigen Magazin schreiben nur Personen
          Worten: „Ich habe Down-Syndrom. Aber             mit dem Down-Syndrom mit. Sie schreiben ihre Texte
          ich stehe dazu und ich bin kein Alien, denn      selber. Mit der Hand oder auf dem Computer. Manche
          ich bin so wie ich bin und jeder soll es ver-    diktieren auch ihre Texte, weil es einfacher geht. Oder
                                                           weil sie das Schreiben nicht gelernt haben. Viele von ih-
          stehen und mich respektieren.“ Peter Rütti-
                                                           nen haben auf der Ohrenkuss-Seite ein Portrait, online:
          mann, ein Mann mit Down-Syndrom meint:           www.ohrenkuss.de/projekt/portraits (17. 5. 2010).
          „Ich bin auch behindert mit japanisch-chi-       ❙2 Personen mit einem Down-Syndrom haben (meis-
          nesischen Augen. Beim Nachtessen esse            tens) 47 statt 46 Chromosomen, bei ihnen ist das Chro-
          ich gerne mit Stäbchen, weil ich ein Chine-      mosom 21 mit dem Down-Syndrom dreimal in jeder
          se bin.“ Ein Mensch mit Down-Syndrom ist         Körperzelle vorhanden, daher auch die Bezeichnung
                                                           „Trisomie 21“. Die kognitiven Fähigkeiten von Men-
          also immer erkennbar – so glaubt man (wenn
                                                           schen mit Down-Syndrom sind häufig eingeschränkt,
          man zu denen gehört, die kein Down-Syn-          sie haben in manchen Dingen ein anderes Tempo.
          drom haben).❙3 Das stimmt nicht. Nicht der       ❙3 „Wie erleben Menschen mit Down-Syndrom die
          Mensch wird erkannt – sondern die Tatsa-         Welt – wie sieht die Welt Menschen mit Down-Syn-
          che, dass die betreffende Person das Down-       drom? Eine Gegenüberstellung.“ So lautete ein For-
          Syndrom hat.                                     schungsvorhaben aus dem Jahre 1998 am Medizin-
                                                           historischen Institut in Bonn, gefördert von der
                                                           Volkswagen-Stiftung. Aus dem zweijährigen For-
         Wieso heißt das Down-Syndrom eigentlich           schungsvorhaben entstand das Magazin „Ohrenkuss …
         Down-Syndrom? „Das Leiden kommt im-               da rein, da raus“. Im Herbst 2010 erscheint die 25. Aus-
         mer nur von außen. Das ist schade. Ich kann       gabe des Magazins zum Thema „Ich bin ein Mensch.“
         einiges über meine geistige Behinderung Er-       ❙4 Die Texte im Ohrenkuss werden nicht zensiert. Sie
         scheinungsform❙4 schreiben. Ich habe ein          werden eins zu eins wiedergegeben: ohne Anpassung
                                                           an die aktuelle Rechtschreibung, ohne Korrekturen
         Chromosom zuviel, das 21. Der Mann der
                                                           bei Grammatik oder Zeichensetzung. In dem vorlie-
         uns beschrieben hat heißt Langdon Down.           genden Text wurde jedoch eine Ausnahme gemacht.
         Der hat in England gelebt. Und ich sehe so        Damit die Texte besser lesbar sind, wurden Recht-
         wie ein Chinese aus.“ (Hermine Fraas)             schreibfehler verbessert.


                                                                                                  APuZ 23/2010         3
Können manchmal nicht gut reden, sind                ti Bolognese essen können ohne zu Zuneh-
    meistens langsam, sehen sich oft ähnlich.            men, warum kann man nicht soviel essen wie
    (Markus Hamm)                                        man will. Aber man nimmt dabei nicht zu. Das
    Am Gesicht, an der Bewegung. (Julia Bert-            würde ich gerne wissen, manchmal muss ich
    mann)                                                auf meine Lieblingsspeise verzichten, das ist
    Die sehen anderes aus und das ist schwer.            blöd und bescheuert. Keiner verzichtet freiwil-
    ( Julian Göpel)                                      lig auf eine Lieblingsspeise, auch wenn es die
    Man erkennt es an den Augen die geometrisch          Michaela Koenig ist. Wer macht das freiwillig,
    fast gleich stehen, an den Händen „Vierfinger-       da mache ich doch lieber Sport, damit ich mehr
    furche“ mit einer Linie durchzogenen Hand-           davon essen kann. Da gehe ich freiwillig laufen,
    fläche hat und die Körpergröße Durchschnitt-         damit ich mehr davon essen kann, das hört sich
    lich meistens klein ist. (Julia Keller)              sicher albern an, aber ich scheiße wirklich auf
    Ich habe aber schon als Kind mit den klei-           meinen niedrigen Grundumsatz. Der sich nie-
    nen Jungs gespielt und da war ich auch sehr          mals ändern wird, mir tut es sehr weh, daran
    glücklich darüber. Da habe ich mein Down-            zu denken.“ (Michael Koenig)
    Syndrom auch früher verschwiegen und sie
    nahmen mich so wie ich bin und da war ich            Es gibt in Deutschland kaum eine Person mit
    auch sehr glücklich drüber. (Hermine Fraas)          Down-Syndrom, die älter als 65 Jahre ist. Wa-
                                                         rum?❙5 „Wenn ich damals gelebt hätte, dann
    Stört es dich, dass du das Down-Syndrom              hätten die mich auch weggenommen, weil der
    hast? Nein eigentlich nicht, ich bleibe so ich es    Hitler keine behinderten Kinder gemocht hät-
    bin und so werde glücklich sein. (Judith Klier)      te. Der hätte mich dann auch getötet. Meine El-
    Ja, weil ich nicht richtig reden und schreiben       tern und ich waren miteinander im Kino, dann
    kann. (Michael Kohl)                                 haben wir diesen Film angeschaut, „Den Un-
    Schon – manchmal. Wenn jemand mich be-               tergang“. Da war mir auch ein bisschen blass.
    schuldigt, dass ich behindert bin. (Annja            Wir waren auch bei einer Führung in Nürn-
    Nitsche)                                             berg, da hat die im Museum erzählt, dass der
    Mich stört es wenn andere Leute mich angu-           Hitler kleine Kinder gestreichelt haben, weil
    cken und denken mit der kann ich mich doch           er gerne kleine Kinder mag.
    nicht sehen lassen die nicht normal ist. Diese       Aber er mochte keine behinderten Kinder.“
    Ungewissheit und die Blicke wie die mich an-         (Veronika Hammel)
    gucken stört mich ganz gewaltig. (Julia Keller)
    Nein, ich kann trotzdem vieles lernen. (Ca-          Menschen mit Down-Syndrom werden oft
    rina Kühne)                                          geärgert, weil sie anders aussehen. Wie fühlt
    Es stört mich sehr. Viele Menschen lachen            sich das an? „Man fühlt sich (darf ich ruhig
    mich aus. (Angela Fritzen)                           sagen) scheiße und allein gelassen. Ausge-
    Nein, ich kenne es nicht anders. (Claudia Feig)      grenzt. Man fühlt sich mies, man fühlt sich
    Ich will den Führerschein machen. Ich weiß           auch in Stich gelassen. Man möchte anerkannt
    ich kann es nicht, weil ich das Down-Syn-            werden. Ich möchte, dass die Menschen mich
    drom habe. (Andrea Wicke)                            respektieren. Die sehen nicht an mir, wie ich
    Ja, stört mich, ich möchte auch gerne Fahrrad        mich fühle. Dass es mir Angst einjagt und
    fahren können. Ich möchte rechnen können.            dass es sehr erschreckend für mich ist. Die
    (Juliane Büge)                                       sehen die Menschen nicht. Nur ein Beispiel:
    Ja, weil ich wäre gerne normal. Weil mit             Ich fahre mit meiner Mami in einem Bus. Es
    Down-Syndrom man einfach viel nicht ver-             sind mehrere Leute drin, teils stehend, teils
    steht. (Christian Janke)                             sitzend. Dann fangen die auf einmal an, mich
                                                         anzustarren und denken folgendes: ‚Wie sieht
    Warum sind manche Menschen mit Down-                 die denn aus? Ich habe noch nie im Leben eine
    Syndrom dick? „Meine Lieblingsspeise ist Spa-
    ghetti Bolognese, sie schmeckt mir leider sehr       ❙5 Dieser Text entstand, als die Ohrenkuss-Redaktion
    gut, ob wohl es ein Dickmacher ist. Da nimmt         2005 in der Gedenkstätte Buchenwald zu dem Thema
    man leider sehr viel zu, das sind leider sehr vie-   „Jenseits von Gut und Böse“ recherchierte. Vor 35 Jah-
                                                         ren, als die medizinischen Fachbücher mit Erklärun-
    le Kalorien enthalten, das ist ein großer Blöd-
                                                         gen zum Down-Syndrom erstellt wurden, war kein
    sinn, warum kann man nicht auf die Kalorien          Mensch mit Down-Syndrom in Deutschland älter als
    pfeifen. Scheiße auf meinen niedrigen Grund-         30 Jahre. Diese Beobachtung wurde nicht hinterfragt
    umsatz. Ich möchte gerne so viele Spaghet-           oder mit Angaben aus dem Ausland verglichen.


4    APuZ 23/2010
Behinderte gesehen. Wie sieht die denn aus?‘           Ich bin die Verlobte, da haben wir unsere Lo-
Und dann fühle ich mich scheiße und ich bin            bung gefeiert mit Sekt und Knabberzeug –
auch sehr traurig und in meinen Gefühlen               jetzt habe ich meinen eigenen Mann! Das ist
verletzt. Ich möchte, dass es aufhört mit die-         ja auch wichtig, die Liebe. Man muss alles
ser Anstarrerei. Wirklich! Ich möchte respek-          planen – dann kommt die Hochzeit und die
tiert werden – wie ich bin.“ (Svenja Giesler)          Namen austauschen und kommt es kirchlich
                                                       und als erstes kommt das Paar und dann die
Das Sprechen fällt manchmal schwer.❙6 Wa-              Gäste. (Christina Zehendner)
rum? „Ich bin auch etwas schüchtern, auch              Der Pastor, der sagt uns beide, Mann und
wenn ich mit Leuten reden soll. Dann bekom-            Frau: „Steht erstmal auf. Michael, Du kannst
me ich kein vernünftiges Wort raus, ich bin            die Frau nehmen.“ (Michael Häger)
halt so, jeder hat seine Schwächen und Gren-           Bei einer Verlobung ist die halbe Ehe ver-
zen die man auf eine andere Art und Weise              sprochen. Heute muss man nicht heiraten
zeigt. Ich bin halt so. Ich habe auch andere           das kostet zu viel. Man kann auch zusammen
Gefühle als ihr, nur ich zeige es nicht immer.         wohnen wie ein Ehepaar. Mein Partner und
Ich bin auch nur ein Mensch mit Fehlern, nur           ich wollen keine Kinder. (Andrea Wicke)
ich gebe meine Fehler nicht schnell zu. Ich            Warte auf den Richtigen – Sei nicht traurig.
bin keine Maschine, ich bin ein Mensch vom             (Romy Reißenweber)
Fleisch und Blut. Ich bin auch kein Spielzeug,
wie ihr wisst, sondern ich bin lebendig. Ihr           Wie sieht die Zukunft aus? Einmal möchte ich
sollt noch wissen das ich aus Haut und Kno-            heiraten und ein Kind haben. Oder Autorin,
chen bin, nicht das ihr glaubt, dass ich eine          Schriftstellerin, Chefin in einer Bibliothek,
Erfindung bin.“ (Michaela Koenig)                      Dirigentin, Pianistin, Falknerin, Sängerin,
                                                       Musikverlegerin, Naturforscherin, Organi-
Wie sieht es mit der Liebe aus? Liebe ist leich-       satorin bei Konzerten und Open Airs als Te-
te Sache zu schreiben, aber sagen oft peinlich.        lefonistin, Komponistin am Klavier, Arzthel-
Liebe heißt Küssen, auch Zungenkuss, Ge-               ferin im Krankenhaus werden. Ich möchte in
fühligkeit, geschmeichelt, Zärtlichkeit, sexy          diesen Bereichen studieren und praktizieren.
sein, nackt sein, Bett gehen, Sex machen.              Überhaupt ist meine Zukunft weit, weit weg
Mach ich vorher Musik an, nicht zu laut,               von mir. Eigentlich soll meine Zukunft sehr
bisschen laut, stöhnen ist auch gut, erotisch,         wunderschön und musikliebend, sehr nett,
Rock ’n’ Roll-Gefühligkeit von Musik, dann             lustig, nicht zu laut, bunt, romantisch, gemüt-
sagen: Ich liebe dich, ich liebe dich viel mehr.       lich, ruhig, abwechslungsreich, liebend.
So muss es sein, bisschen mehr trauen, bis             Außerdem möchte ich auch das Verhalten der
die Nachbarn hören: „Was ist los, ist heute            Vogelkunde studieren und auch praktizie-
Konzert da?“ (Der Autor von diesem Beitrag             ren. Ich würde gerne auch Medizin studie-
möchte seinen Namen nicht nennen. Er ist               ren und im Spital praktizieren in Bereich von
24 Jahre alt und möchte nicht, dass seine El-          Kopf wo die epileptischen Anfälle gesteuert
tern wissen, dass er sich für Sex interessiert.)       werden. Den Frieden natürlich auch für viele
                                                       Länder. Ein Buch schreiben und eine Schrift-
Und wie sieht es mit dem Heiraten aus?❙7 Die           stellerin, Autorin werden. Ladinische Spra-
Ehe schließe ich aus, das könnte ich nicht, die        che reden können, und auch französisch und
Feier ist so lang. (Achim Reinhardt)                   auch englisch reden können, aber auch hä-
                                                       meische Sprache. Natürlich auch italienisch,
                                                       griechisch. (Verena Elisabeth Turin)
❙6 Es fällt oft schwer, mit einem Menschen mit Down-
Syndrom so zu kommunizieren, wie man es „norma-
lerweise“ gewohnt ist. Man muss z. B. langsamer und
                                                       Was für eine Sprache sprechen die Mongo-
deutlich sprechen, eine einfache Sprache verwenden     len?❙8 Mongolisch ist mongolisch und klingt
und komplizierte Dinge erklären. Man sollte darauf     so wie mongolisch. (Tobias Wolf )
achten, dass die „Verbindung“ zum Gegenüber nicht
abreißt. Das erfordert Geduld und Konzentration,       ❙8 Die Ohrenkuss-Redaktion reiste 2005 in die Mon-
gesunde Neugier und die Offenheit für neue Sicht-      golei. Das löste eine angeregte öffentliche Diskussion
weisen und Fremdheit.                                  aus: Die Resonanz war positiv, die Verwendung des Be-
❙7 Natürlich können Menschen mit Down-Syndrom          griffs „Mongo“ und „mongoloid“ wurde diskutiert,
Nachwuchs bekommen. Die Wahrscheinlichkeit wie-        online: www.ohrenkuss-mongolei.de (19. 5. 2010).
der ein Kind mit 47 Chromosomen zu bekommen ist
erhöht.


                                                                                            APuZ 23/2010        5
Elsbeth Bösl        Behinderung als Objekt der Forschung
                                                                und sozial(politisch)es „Problem“
     Die Geschichte der
     Behindertenpolitik
                                                          Dieses individuelle, medizinische Defizitmo-
                                                          dell hat eine lange Geschichte. Es entstand im
                                                          19. Jahrhundert im medizinischen Fachdis-
     in der Bundesrepu-                                   kurs. Behinderung wurde biologistisch und
                                                          gänzlich unabhängig von Kultur und Ge-

       blik aus Sicht der
                                                          sellschaft definiert. Medizinisch konstatierte
                                                          „Andersheiten“ wurden als Defekt oder Stö-
                                                          rung gedeutet.

      Disability History                                    Verkörperte „Andersheiten“ waren im
                                                          19. Jahrhundert nicht nur Objekte der For-
                                                          schung, sondern vor allem auch Zielobjek-

        D       isability History erforscht, wie und in
                welchen sozialen und kulturellen Kon-
         texten Menschen auf der Basis bestimmter
                                                          te von Therapie und Präventionsversuchen –
                                                          dies gebot die im Zuge der Aufklärung
                                                          formulierte bürgerliche Sozialethik. Be-
                                  körperlicher, psychi-   hinderte Menschen – in der Diktion der
                    Elsbeth Bösl scher oder mentaler      Zeit als „verkrüppelt“, „missgebildet“ oder
   Dr. phil., geb. 1978; wissen- Merkmale den Katego-     „idiotisch“ bezeichnet – galten als sozia-
   schaftliche Mitarbeiterin am rien „behindert“ und      les Problem. Es sollte mit den Mitteln des
  Zentralinstitut für Geschichte „normal“ zugeordnet      entstehenden Sozialstaats und der privaten
 der Technik, TU München, c/o werden.❙1 Beeinträch-       Wohltätigkeit gelöst werden – zum Nutzen
Deutsches Museum, Museums- tigungen, Benachteili-         der Gesellschaft und des Individuums. Das
       insel 1, 80538 München. gungen und Ausgren-        Ziel war die weitgehende Anpassung der
elsbeth.boesl@mzwtg.mwn.de zungen, die mit der            als abweichend und defizitär klassifizierten
                                  Zuschreibung „Behin-    Menschen an die funktionalen Erwartungen
         derung“ verknüpft sind, werden dabei sowohl      der bürgerlichen, kapitalistisch verfassten
         als Konsequenzen materieller Kräfte und          Gesellschaft.
         Barrieren als auch als Produkte kulturel-
         ler Werte, Erwartungen und Praktiken ver-           Dort bildeten Leistungsfähigkeit und Pro-
         standen. „Behinderung“ oder „Normalität“         duktivität entscheidende soziale Bewertungs-
         sind demnach keine individuellen Eigen-          kriterien. Nutzbringende Erwerbsarbeit galt
         schaften, sondern Kategorien, die innerhalb      als Produktionsfaktor, Ausdruck menschlichen
         des Gesellschaftssystems in Abhängigkeit         Seins und Integrationsinstrument zugleich.
         voneinander hergestellt werden – in wis-         Medizinische, pädagogische und berufliche
         senschaftlichen und politischen Diskursen,       Maßnahmenkataloge wurden entwickelt, um
         in Bürokratie und Institutionen und in der       der Gesellschaft die ihr vermeintlich fern ste-
         Alltagswelt.                                     henden Menschen mit Behinderungen zu-
                                                          zuführen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg
           In der bundesdeutschen Behindertenpoli-        wurde dieser Rehabilitationsansatz institu-
        tik, um die es im Folgenden geht, wurde Be-       tionalisiert und in der gesetzlichen Unfall-
        hinderung bis in die 1970er Jahre hinein vor
        allem als individuelles, funktionales Defizit     Ich danke Anne Waldschmidt und Alexander Gall für
                                                          Kritik und konstruktive Anregungen.
        in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit und Pro-
                                                          ❙1 Vgl. Paul K. Longmore/Lauri Umansky, Disabili-
        duktivität einer Person verstanden.❙2 So auch     ty History: From the Margins to the Mainstream, in:
        in einer Definition des Bundesinnenministe-       dies. (eds.), The New Disability History: American
        riums aus dem Jahr 1958: „Als behindert gilt      Perspectives, New York-London 2001, S. 1–29.
        ein Mensch, der entweder aufgrund angebo-         ❙2 Vgl. zur Basis der folgenden Synthese mit weiteren
        rener Missbildung bzw. Beschädigung oder          Nachweisen Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisie-
                                                          rung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der
        durch Verletzung oder Krankheit (…) eine
                                                          Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009.
        angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann.         ❙3 Bundesministerium des Innern (BMI) Abt. Va1,
        Er ist mehr oder minder leistungsgestört          Schreiben an Abt. Va2, 12. 8. 1958, Bundesarchiv
        (lebensuntüchtig).“❙3                             (BArch) B 106 8414.


    6    APuZ 23/2010
versicherung auch erstmals sozialgesetzlich     ihre Beschädigung oft mit einem heroischen
      verankert. Auch die zumeist konfessionellen     Aufopferungstopos, der sich schlecht mit
      Einrichtungen der sogenannten Krüppelfür-       der ihnen bisweilen unterstellten Hilflosig-
      sorge begannen um 1900, ihre traditionellen     keit verbinden ließ. Sie seien keine „armseli-
      Kernaufgaben der Seelsorge, Erziehung und       gen Kreaturen“, protestierte ein Redner des
      Dauerpflege von Kindern und Jugendlichen        Verbands der Kriegsbeschädigten, Kriegs-
      mit Behinderungen um medizinische Thera-        hinterbliebenen und Sozialrentner Deutsch-
      pie und berufsvorbereitende Maßnahmen zu        lands e. V. (VdK) im Jahr 1963. Das Leben
      ergänzen. Im Ersten Weltkrieg schließlich       sei sehr wohl lebenswert, und mit einer Be-
      hielt das Rehabilitationsparadigma aufgrund     hinderung könne man sich durchaus aussöh-
      des Massenphänomens der Kriegsbeschädi-         nen. ❙4 Um jedoch Ansprüche vor den Sozi-
      gung auch im staatlichen Versorgungswesen       alleistungsträgern geltend zu machen und
      Einzug. Somit war lange vor 1949 das Prin-      Nachteilsausgleiche zu erlangen, mussten
      zip Rehabilitation in den drei Säulen des so-   sich behinderte Menschen immer wieder
      genannten Gegliederten Systems deutscher        der Legitimationskette „behindert – arm –
      Sozialstaatlichkeit – Fürsorge, Sozialversi-    hilfsbedürftig“ bedienen. Beschränkungen
      cherung und Versorgungswesen – zumindest        und „Störungen“ mussten in individuellen
      vorgezeichnet.                                  Gutachter- und Bemessungsverfahren, aber
                                                      auch von den Interessenorganisationen im-
                                                      mer wieder betont werden. Somit trugen die
Sozialleistungspolitik und                            Betroffenen zwangsläufig dazu bei, das defi-
Erwerbsarbeitsparadigma                               zitorientierte Denken über Behinderung zu
                                                      reproduzieren.
      Den konzeptionellen Kern der bundesdeut-
      schen Behindertenpolitik bildeten weiterhin        Den Agenturen der sozialen Sicherung
      medizinisches Defizitmodell, Normalisie-        schien das soziale „Problem“ Behinderung
      rungsziel und Rehabilitationsparadigma. Be-     durch funktionale Normalisierung über-
      hindertenpolitik blieb zunächst eine Politik    windbar, wenn nur ausreichende Sozial-
      der sozialen Sicherung. Bis zur Gleichstel-     leistungen entwickelt, Therapie- und Um-
      lungspolitik war es ein sehr weiter Weg. Un-    schulungsinfrastrukturen geschaffen und
      ter Rehabilitation verstanden Expertenschaft,   technische Hilfsmittel zur Verfügung ge-
      Politik und Verwaltung zunächst eine funk-      stellt wurden. An der Grundgesamtheit der
      tionale „Wiederherstellung“ durch medizi-       sozialstaatlichen Hilfen fällt dreierlei beson-
      nische Eingriffe einschließlich der Prothe-     ders auf: Behindertenpolitik und Rehabili-
      tik sowie die Befähigung zur Erwerbsarbeit      tation waren erstens auf einen Idealklienten
      in beruflichen Rehabilitationseinrichtungen.    hin zugeschnitten: den erwachsenen Mann,
      Erwerbsarbeit als ideales Kompensations-        der bereits einmal erwerbstätig gewesen war
      und Eingliederungsinstrument sollte behin-      und mit einer körperlichen Behinderung leb-
      derten Menschen helfen, über ihr „Schicksal“    te. Erst im Lauf der 1960er und 1970er Jahre
      hinwegzukommen. Behinderung wurde mit           „entdeckten“ Expertenschaft und Politik Be-
      Leid gleichgesetzt, das kaum Raum für ein       hinderungen anderer Art und Ursache. Men-
      erfülltes Leben zu lassen schien, wenn nicht    schen mit intellektuellen und seelischen Be-
      zumindest die Möglichkeit zur produktiven       einträchtigungen beispielsweise rückten sehr
      Tätigkeit bestand.                              langsam ins Bewusstsein der Akteure. Je wei-
                                                      ter dieser Prozess fortschritt, desto mehr Be-
         Menschen, die selbst mit Behinderungen       hinderungen wurden jedoch „produziert“.
      lebten, konnten in den öffentlichen und po-     Im Zuge des Ausbaus des Sonderschulwesens
      litischen Arenen kaum Einfluss auf diese        wurde beispielsweise die Kategorie „lernbe-
      Fremdzuschreibungen nehmen. Dies galt           hindert“ erst entwickelt.
      selbst für die Organisationen der Kriegs-
      beschädigten, die in den 1950er und 1960er        Zweitens wurden angesichts der wirt-
      Jahren eine vergleichsweise stimmkräftige       schaftlichen Erholung seit dem letzten Drit-
      und lobbystarke Gruppe unter den behin-
      derten Menschen darstellten. Viele litten da-   ❙4 Vgl. 1. Ohnhändertagung des VdK am 9. 2. 1963 in
      runter, dass ihr Leben als kaum lebenswert      Düsseldorf, Rede v. Ludwig Hönle, NRWHStA BR
      bezeichnet wurde. Zudem verknüpften sie         1134 594.


                                                                                         APuZ 23/2010       7
tel der 1950er Jahre und des expandierenden          erster Bundeskanzler in einer Regierungser-
    Sozialstaats gerade die Hilfen bei Behin-            klärung die Situation von behinderten Men-
    derung, ihre Infrastrukturen und Klientel-           schen explizit an. Die sozialdemokratischen
    kreise, Aktionsradien und Maßnahmenka-               Schlagworte „Demokratisierung“, „Lebens-
    taloge systematisch erweitert. Dort, wo der          qualität“ und „Humanisierung“ sollten die
    Rehabilitationsgedanke noch nicht vorgese-           Behindertenpolitik in Konzeption und Um-
    hen war, wurde er gesetzlich verankert, so           setzung prägen. Gelang es, Menschen mit Be-
    etwa 1959 in der Rentenversicherung und              hinderungen ein gleichberechtigtes Leben in
    1974 in der Krankenversicherung. Der be-             der Gemeinschaft zu erschließen, hatte sich
    reits 1957 eingeführte Rehabilitationsauftrag        die demokratische Gesellschaft an ihnen be-
    der Bundesanstalt für Arbeit (bis 1969 Bun-          wiesen: „Die Qualität des Lebens für die
    desanstalt für Arbeitsvermittlung und Ar-            Behinderten in unserer Gesellschaft ist ein
    beitslosenversicherung) wurde 1969 durch             Spiegel der Qualität der Gesellschaft“,❙6 ver-
    das Arbeitsförderungsgesetz erweitert und            kündete 1974 Bundesarbeitsminister Walter
    machte die Bundesanstalt zu einem der wich-          Arendt (SPD). Insbesondere über das Sozial-
    tigsten Rehabilitationsträger. Die Aufnahme          leistungsrecht sollte „Chancengleichheit“,
    von Studierenden, Schülern und Kindergar-            ein weiteres Schlagwort der Koalition, her-
    tenkindern in den Geltungsbereich der Un-            gestellt werden. Da die skizzierten Ungleich-
    fallversicherung 1970 verdeutlicht die Aus-          heitslagen mit diesem Anspruch nicht mehr
    weitung der Adressatenkreise.                        vereinbar waren, wurde 1974 mit einem Re-
                                                         formpaket, dessen Kern das Rehabilitations-
       Drittens: Das sogenannte Gegliederte Sys-         angleichungsgesetz bildete, der Versuch un-
    tem betraf alle sozialstaatlichen Hilfen bei         ternommen, die finale Betrachtungsweise
    Behinderung. Es umfasste die Leistungs-              gesetzlich zu verankern. Die sozialen Un-
    bereiche Sozialversicherung, Versorgungs-            gleichheiten wurden zumindest ansatzwei-
    wesen und öffentliche Fürsorge/Sozialhilfe.          se begradigt, das Gegliederte System selbst
    Diese hatten jeweils unterschiedliche gesetz-        blieb unangetastet.
    liche Grundlagen, Kompetenzen, finanzielle
    und infrastrukturelle Möglichkeiten. Behin-            Reformbedürftig erschien auch die behin-
    derte Menschen wurden ihnen je nach Ursa-            dertenpolitische Beschränkung auf Wieder-
    che der Behinderung und ihrem Erwerbssta-            herstellung und Eingliederung in den Ar-
    tus zugeordnet. Diese als Kausales Prinzip           beitsmarkt. Immer mehr Vertreterinnen und
    bezeichnete Vorgehensweise erwies sich in            Vertreter der Ministerialbürokratie, Politik
    der Praxis als problematisch: Das System war         und der Expertenschaft forderten nun bei-
    unübersichtlich, Umfang und Qualität der             spielsweise den Abbau von Hindernissen
    Sozialleistungen divergierten. Erhebliche            in der gebauten Umwelt als eigenes Aufga-
    soziale Ungleichheiten waren die Folge. Ab           bengebiet der Rehabilitation. Behinderten-
    Mitte der 1960er Jahre schlugen deshalb Kri-         politik sollte nicht mehr nur am Individu-
    tiker vor, die Hilfen bei Behinderung am so-         um, sondern gezielt an der Gesellschaft und
    genannten Finalen Prinzip auszurichten: Im           ihren Bedingungen ansetzen. Zwar wur-
    Mittelpunkt sollte das jeweilige Rehabilita-         de das eigentliche Problem weiterhin in den
    tionsziel stehen, Behinderungsursache und            „nicht normalen“ Körpern verortet, die Lö-
    Erwerbsstatus hingegen sollten keinen Un-            sung schien nun jedoch darin zu bestehen,
    terschied mehr machen.                               die Umwelt umzugestalten. Bislang hatte die
                                                         Ansicht geherrscht, dass manche Menschen
      Die seit 1969 amtierende sozialliberale            aufgrund ihres „Andersseins“ naturgemäß
    Bundesregierung setzte hier einen Reform-            an den „normalen“ Bedingungen der Umwelt
    prozess in Gang. Sie war mit großen Zie-             scheitern mussten. Demgegenüber klang nun
    len an die Behindertenpolitik herangetreten,         in den 1970er Jahren – oftmals in gedankli-
    hatte ein „Jahrzehnt der Rehabilitation“ an-
    gekündigt.❙5 Willy Brandt (SPD) sprach als
                                                         ❙6 Walter Arendt, Wege zur Chancengleichheit
                                                         der Behinderten, in: Kurt-Alphons Jochheim u. a.
    ❙5 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozial-     (Hrsg.), Wege zur Chancengleichheit der Behinder-
    ordnung (BMA) Walter Arendt, Rede zur Gründung       ten. Bericht über den 25. Kongress der DeVg e. V.
    des Vereins Haus der Behinderten Bonn e. V., Manu-   in Bad Wiessee, 10.–12. 10. 1973, Heidelberg 1974,
    skript, 29. 10. 1973, BArch B 189 28091.             S. 11–21, hier S. 20.


8    APuZ 23/2010
cher Verbindung zur Stadtkritik – vor allem              nister Arendt und anderen gerieten um 1970
      in der Expertenschaft Kritik an dem an, was              Menschen mit Behinderungen zu „behinder-
      in der Gesellschaft als „normal“ galt. All-              ten Mit-Bürgern“.❙8 Zwar lässt sich einwen-
      tägliche urbane Mobilitäts- und Flexibili-               den, dass das „Mit-“ letztlich eine Teilqua-
      tätsanforderungen wurden beispielsweise                  lifikation beinhaltet, jedoch markierte der
      dafür kritisiert, dass sie weitgehend auf die            Begriff durchaus eine Aufwertung. Erst-
      begrenzte Gruppe von Menschen hin ausge-                 mals wurden Menschen mit Behinderungen
      richtet seien, die beweglich, motorisiert und            als Bürger – nie als Bürgerinnen – angespro-
      finanziell gut gestellt seien. Die Bundesregie-          chen. Bürger oder Bürgerin zu sein steht für
      rung wollte Diversitätsfolgen kompensieren,              Mündigkeit und konstituiert sich in Rechten
      indem sie den Hindernisabbau ideell und                  und Pflichten, unter anderem in denen von
      materiell förderte. Aufgrund beschränkter                Steuerzahlerin nen und Steuerzahlern, Wäh-
      Kompetenzspielräume konzentrierte sie sich               lerinnen und Wählern. Zuvor waren behin-
      vor allem darauf, zwei DIN-Normen❙7 zum                  derte Menschen vorrangig als Empfängerin-
      hindernisfreien Bauen zu initiieren. Hinder-             nen und Empfänger von Hilfen betrachtet
      nisabbau und „behindertengerechtes“ Bauen                worden. Bürger dagegen konsumieren und
      blieben dabei mit Rehabilitation und funk-               partizipieren. Der Begriff markiert einen
      tionaler Anpassung verknüpft. Behinderung                Öffnungs- und Umdenkprozess und zeigt,
      galt jedoch weiterhin als individuelles Pro-             dass behinderten Menschen – vor allem Män-
      blem, das mit instrumenteller Hilfe gelöst               nern – neue soziale Orte in der Gesellschaft
      werden konnte und musste. Integration wur-               zugedacht wurden.
      de als Bemühung verstanden, Menschen in
      die Gesellschaft hereinzuholen, der sie bis-                Feststellen lässt sich zudem, dass Spre-
      her scheinbar fern standen.                              cherpositionen im politischen Diskurs neu
                                                               verteilt wurden. Wenngleich noch immer
                                                               nicht behinderte Funktionäre und Funkti-
Anfänge des kategorialen Wandels                               onärinnen das Feld dominierten, begannen
in den 1970er Jahren                                           allmählich Menschen, die mit Behinderun-
                                                               gen lebten, für sich selbst zu sprechen. Über
      Dennoch – und trotz aller Divergenzen zwi-               unterschiedlichste Selbsthilfe- und Akti-
      schen Theorie und Praxis dieser Reformpha-               onsbündnisse und die entstehende Eman-
      se – lässt sich der Beginn eines Politik- und            zipationsbewegung steigerten sie ihre po-
      Denkwandels ausmachen. Impulse kamen                     litische Sichtbarkeit. Noch kaum jedoch
      aus dem in den 1960er Jahren einsetzenden                erhielten sie Zugang zu den wissenschaftli-
      allgemeinen Wandel von Werten und der                    chen Diskussionsarenen: Behinderten Men-
      wachsenden politischen und sozialen Sen-                 schen, die dort auftraten, gehörten meist
      sibilisierung der Gesellschaft. Verschiedene             selbst den Rehabilitationsprofessionen an
      gesellschaftliche Akteure, erstmals verstärkt            und verfügten so bereits über den Status
      auch die Medien, stellten sich die Frage, wel-           und die Glaubwürdigkeit von Experten.
      chen Platz und welche Rollen Menschen mit                Als „Experten ihrer selbst“ erreichten be-
      Behinderungen in der Gesellschaft einneh-                hinderte Menschen die wissenschaftlichen
      men sollten. Bisher schien dieser Platz qua              Foren selten.
      Biologie und Schicksal vorgezeichnet zu
      sein. Nun wurde er verhandelbar. Bemerkbar                 Dennoch wurde im wissenschaftlichen Be-
      machte sich dies zum Beispiel in den Sprach-             hinderungsdiskurs die hegemoniale Stellung
      regelungen der Politik: Bei Bundespräsident              der Ärzte durchbrochen: Vor allem Sozialwis-
      Gustav Heinemann (SPD), Bundesarbeitsmi-                 senschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler,
                                                               die Behinderung als Forschungsgegenstand
                                                               für sich entdeckten, schufen Gegengewich-
      ❙7 DIN 18025 Wohnungen für Schwerbehinderte,             te zur individuell-medizinischen Erklärung
      Planungsgrundlagen, Bl. 1: Wohnungen für Roll-           von Behinderung. Schritt für Schritt speis-
      stuhlbenutzer (1972), Bl. 2: Wohnungen für Blin-
      de und wesentlich Sehbehinderte (1974); DIN 18024
      Bauliche Maßnahmen für Behinderte und alte Men-          ❙8 Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Ap-
      schen im öffentlichen Bereich. Planungsgrundlagen,       pell an Solidarität und Bürgermut, in: Bulletin des
      Bl. 1: Straßen, Plätze und Wege (1974), Bl. 2: Öffent-   Presse- und Informationsamts der Bundesregierung,
      lich zugängliche Gebäude (1976).                         28. 12. 1971, S. 2090.


                                                                                                  APuZ 23/2010       9
ten sie ein Moment der sozialen Bedingtheit                 Protest und Selbstbestimmung:
     in die Erklärungsmodelle von Behinderung
     ein.❙9 Über die Fachtagungen der Professi-
                                                          Emanzipationsbestrebungen behinderter
     onsverbände und die bei den Ministerien an-                Menschen seit den 1980er Jahren
     gesiedelten Expertengremien beispielswei-
     se gelangten diese veränderten Sichtweisen           Bilder von unterdrückten und bevormun-
     in den politischen Raum. Gesellschaftskriti-         deten Opfern produzierte auch die seit dem
     sche Autoren beispielsweise beschrieben nun          Ende der 1970er Jahre entstehende Emanzi-
     behindernde Umweltgestaltungen als augen-            pationsbewegung.❙12 Am provokantesten ta-
     scheinliche Konsequenzen eines ausgren-              ten dies die seit 1977 entstehenden „Krüppel-
     zenden Verhaltens der „Produktiven“ und              gruppen“. Bewusst kämpferisch wählten sie
     „Normalen“. Auf der Basis der herrschafts-           die provokante Selbstbezeichnung „Krüp-
     soziologischen These von der sozialen Diszi-         pel“, um sich von den Integrations- und Nor-
     plinierung und Entmündigung des „betreu-             malisierungserwartungen der Behinderten-
     ten Menschen“ durch seine Betreuer❙10 fragte         politik zu befreien; sie forderten behinderte
     sich eine kritische Generation von in der Re-        Menschen dazu auf, sich aus ihrem Opfer-
     habilitation tätigem Fachpersonal, ob sie das        status zu befreien.❙13 Möglich schien dies nur
     Problem, das sie lösen wollte, nicht selbst ge-      auf dem Weg der radikalen Konfrontation
     schaffen hatte.❙11                                   mit und der Abgrenzung von den vermeint-
                                                          lich „Normalen“. Hingegen setzten die seit
        Doch fällt die Bilanz des Umdenkens am-           1968 vielerorts entstehenden Clubs Behin-
     bivalent aus. Erstens machte sich deutlich           derter und ihrer Freunde e. V. auf Koopera-
     eine Kluft zwischen Theorie und Praxis be-           tion und die Bündelung von Kräften, insbe-
     merkbar. Zweitens wurden Menschen, die               sondere beim Abbau von Alltagsbarrieren auf
     mit Behinderungen lebten, wiederum ge-               lokaler Ebene. Ähnlich orientierten sich Gus-
     danklich zu Opfern – nun der Gesellschaft –          ti Steiner (1938–2004) und Ernst Klee (geb.
     degradiert. Sie waren erneut Gegenstand von          1942), der nicht mit einer Behinderung leb-
     Narrativen des Scheiterns und der Unter-             te. Sie boten 1974 erstmals an der Volkshoch-
     drückung, allerdings mit dem Unterschied,            schule Frankfurt/M. den Kurs „Bewältigung
     dass sie nun nicht mehr primär Schicksal             der Umwelt“ an. Darin und in vielen weiteren
     und Biologie ausgeliefert zu sein schienen,          Aktionen setzten sie auf Satire und Provoka-
     sondern der Brutalität und Ignoranz einer            tion als Ausdrucks- und Aufklärungsmittel,
     Gesellschaft, die sich nicht nur in Ausgren-         um mediale Aufmerksamkeit für Hindernis-
     zung und Diskriminierung, sondern auch in            se zu schaffen, auf die vor allem Rollstuhl-
     Bevormundung und Abhängigkeit manifes-               nutzerinnen und -nutzer täglich stießen.
     tierte.
                                                            1980 gelang es einer gemeinsamen Protest-
                                                          veranstaltung von Krüppelgruppen, Clubs
                                                          Behinderter und ihrer Freunde e. V. und ande-
     ❙9 Vgl. beispielsweise Walter Thimm, Soziologie      ren Organisationen, größeres mediales Echo
     der Behinderten, Neuburgweiler 1972 3; Aiga Sey-
                                                          hervorzurufen, ja mit ihrem Anliegen so-
     wald, Körperliche Behinderung. Grundfragen einer
     Soziologie der Benachteiligungen, Frankfurt/M.–      gar die „Tagesschau“ der ARD zu erreichen:
     New York 1977; Gerd W. Jansen, Die Einstellung der   Sie fanden sich in Frankfurt zusammen, um
     Gesellschaft zu Körperbehinderten. Eine psycholo-    gegen das Urteil des dortigen Landgerichts
     gische Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen      zu demonstrieren, das einer Urlauberin die
     aufgrund empirischer Untersuchungen, Neuburg-        Minderung des Reisepreises mit der Begrün-
     weiler 19742; Wolfgang Jantzen, Sozialisation und
                                                          dung zugestanden hatte, ihr Urlaubsgenuss
     Behinderung. Studien zu sozialwissenschaftlichen
     Grundfragen der Behindertenpädagogik, Gießen         sei durch die Anwesenheit von behinder-
     1974.                                                ten Jugendlichen maßgeblich beeinträchtigt
     ❙10 Vgl. Helmut Schelsky, Die neuen Formen der
     Herrschaft: Belehrung, Betreuung, Beplanung, in:
     Hermann Glaser (Hrsg.), Fluchtpunkt Jahrhundert-     ❙12 So u. a. Udo Sierck/Nati Radtke, Die WohlTÄ-
     wende. Ursprünge und Aspekte einer zukünftigen       TER-Mafia. Vom Erbgesundheitsgericht zur Hu-
     Gesellschaft, Bonn 1979, S. 135–143.                 mangenetischen Beratung, Hamburg 1984.
     ❙11 Vgl. Andrea Buch u. a., An den Rand gedrängt.    ❙13 Vgl. Krüppelgruppe Bremen, Krüppelunterdrü-
     Was Behinderte daran hindert, normal zu leben,       ckung und Krüppelgegenwehr, in: Psychologie und
     Hamburg 1980, S. 12.                                 Gesellschaftskritik, 4 (1980) 3, S. 4–8, hier S. 4, 6, 8.


10    APuZ 23/2010
worden.❙14 Einen weiteren Höhepunkt erleb-             gesetze auf Bundes- und Länderebene zu ver-
te die Bewegung in den Protesten gegen das             abschieden. 1994 wurde der Satz „Niemand
International Year of Disabled Persons, das            darf wegen seiner Behinderung benachtei-
die UNO-Vollversammlung ausgerufen hatte               ligt werden“ in Artikel 3 des Grundgesetzes
und das auch in der Bundesrepublik began-              aufgenommen. Behinderte Menschen sind
gen wurde. Kritisiert wurde, dass behinderte           seither explizit als Trägerinnen und Träger
Menschen kaum an der Planung der Veran-                von Grundrechten beschrieben. Damit die-
staltungen beteiligt bzw. auf diesen wiederum          ses Benachteiligungsverbot im Alltag Wir-
zu passiven und dankbaren Hilfsempfängern              kung zeigen konnte, bedurfte es gesetzlicher
eines fürsorglichen Sozialwesens abgewertet            Konkretisierungen. Eine Allianz zwischen
wurden. Um dieser Kritik Ausdruck zu ver-              Interessenverbänden und Aktion Sorgen-
leihen, bildete sich die Aktionsgruppe gegen           kind e. V. (heute Aktion Mensch e. V.) weckte
das UNO-Jahr der Behinderten. Ihre öffent-             1997 mediale Aufmerksamkeit für das The-
lichkeitswirksamen Aktionen gipfelten im               ma und erreichte, dass die Verabschiedung
„Krüppeltribunal“ in Dortmund.❙15 Das Tri-             eines Behindertengleichstellungsgesetzes des
bunal klagte Menschenrechtsverletzungen in             Bundes 1998 in die Koalitionsvereinbarung
Dauerpflegeeinrichtungen, Strukturen der               einging. Das 2002 in Kraft getretene Gesetz
Aussonderung und Mobilitätsbeschränkun-                zur Gleichstellung von Menschen mit Behin-
gen an und deckte als neues Thema die sexu-            derungen gibt den Dienststellen des Bundes
elle Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit               Rahmenbedingungen vor, die vor Benach-
Behinderungen auf.                                     teiligungen schützen sollen. Kernanliegen
                                                       ist eine umfassend verstandene Barrierefrei-
  In der Folge des Protestjahres differen-             heit, die sich nicht auf die Beseitigung bau-
zierte sich die Emanzipationsbewegung aus.             lich-technischer Barrieren beschränkt. Men-
Auf lokaler Ebene engagierten sich viele im            schen mit Behinderungen sollen vielmehr alle
Abbau von Alltagshindernissen und ver-                 Lebensbereiche in allgemein üblicher Wei-
schafften sich schrittweise Zugang zur Kom-            se, ohne besondere Erschwernisse und ohne
munalpolitik. Andere Gruppen kämpften,                 fremde Hilfe zugänglich gemacht werden.
zunächst unter dem Dach der politischen                Erstmals in der Geschichte der bundesdeut-
Partei Die Grünen, später überparteilich, für          schen Behindertenpolitik waren über das Fo-
die Gleichstellungs- und Antidiskriminie-              rum behinderter Juristinnen und Juristen
rungsgesetzgebung und griffen aktiv in Eu-             behinderte Menschen direkt und ohne die
genik- und Bioethikdiskurse ein. Wichtige              Vorschaltung von Verbänden in die für den
Impulse gingen dabei vom 1990 in den USA               Gesetzentwurf zuständige Arbeitsgruppe des
verabschiedeten Antidiskriminierungsgesetz             Bundesministeriums für Arbeit und Sozial-
(Americans with Disabilities Act) und den              ordnung integriert worden. Nötig war aber
1993 von der Generalversammlung der Ver-               auch ein Antidiskriminierungsgesetz für den
einten Nationen angenommenen Rahmenbe-                 zivilrechtlichen Geltungsbereich. Erst 2006
stimmungen über die Chancengleichheit für              konnte das Allgemeine Gleichbehandlungs-
Menschen mit Behinderungen aus. Letztere               gesetz in Kraft treten.
verpflichteten die Staaten, Diskriminierun-
gen auf gesetzlichem Weg zu beseitigen und               In dem skizzierten Ausdifferenzierungs-
einen rechtlichen Rahmen für die Gleichstel-           prozess seit den 1980er Jahren nahm, nach
lung von Menschen mit Behinderungen zu                 angelsächsischem Vorbild, auch die Selbstbe-
schaffen.                                              stimmt-Leben-Bewegung ihren Ausgang. Ihr
                                                       Hauptaugenmerk liegt auf der autonomen
  In der Bundesrepublik drängte der soge-              Gestaltung von Leben und Wohnen bei weit-
nannte Initiativkreis Gleichstellung Behin-            gehender Unabhängigkeit von fremder Hil-
derter erfolgreich darauf, das Grundgesetz             fe bzw. auf der selbstbestimmten Wahl und
entsprechend zu ändern und Gleichstellungs-            Gestaltung der Hilfen.❙16 Das erste Zentrum
                                                       für Selbstbestimmtes Leben entstand 1986
                                                       in Bremen. 1990 wurde die Interessenver-
❙14 Vgl. Carol Poore, Disability in Twentieth-Centu-
ry German Culture, Ann Arbor 2007, S. 277 f.
❙15 Vgl. Susanne von Daniels u. a. (Hrsg.), Krüppel-   ❙16 Vgl. Vereinigung Integrationsförderung e. V.
Tribunal. Menschenrechtsverletzungen im Sozial-        (Hrsg.), Behindert ist, wer Hilfe braucht – Integra-
staat, Köln 1983, S. 9–10.                             tion – ein praktisches Problem, München 1981, S. 12.


                                                                                           APuZ 23/2010       11
tretung Selbstbestimmt Leben e. V. gegrün-                senheit auf Technologien einhergeht und Be-
       det, um praxisorientierte Beratungsarbeit                 hinderung dadurch tendenziell weiterhin
       und politische Lobbyarbeit zu verbinden. Sie              individualisiert, statt sie zu vergemeinschaf-
       hatte wesentlichen Anteil daran, dass sich in             ten.❙18 Wenngleich der Anpassungsdruck an
       der Behindertenpolitik allmählich eine neue               funktionale Normalitätserwartungen und
       Sichtweise auf den Abbau von Hindernissen                 präskriptive Normen gesunken sein mag, lau-
       etablierte. Das Konzept der Barrierefreiheit              tet das behindertenpolitische Ideal weiterhin,
       löste im Lauf der 1990er Jahre allmählich die             „normal“ zu leben. In der Umsetzung ge-
       ältere Vorstellung ab, nach der durch „behin-             wannen viele behinderte Menschen an Hand-
       dertengerechtes“ Planen und Bauen Sonder-                 lungs- und Teilhabeoptionen, jedoch lässt das
       maßnahmen geschaffen werden mussten, um                   Normalitätsideal die Einsicht vermissen, dass
       eine als nicht „normal“ empfundene Gruppe                 Leben nicht „normal“ sein muss❙19 und dass
       in die Welt der „Normalen“ zu integrieren.                gerade die Umwelt offen für die Pluralität
       Nun lautete die neue Lesart, dass Barrieren               von Zugangs- und Nutzungswegen und eine
       in der gebauten Umwelt Menschen mit Be-                   Vielfalt von Aneignungsmöglichkeiten ge-
       hinderungen, aber auch viele andere in ihrer              staltet werden kann. Nicht „Andersheit“ ist
       Selbstständigkeit und -bestimmtheit, gesell-              das Problem, sondern Benachteiligung.
       schaftlichen Partizipation und Bewegungs-
       freiheit einschränkten und daher abgeschafft
       werden sollten.                                                                          Schlussbemerkungen
                                                                 Mit derlei Fragen beschäftigt sich gegenwär-
Inklusion und Normalitätserwartungen                             tig Disability History. Sie ist Teil des eman-
seit den 1990er Jahren                                           zipatorischen Projekts der Disability Studies.
                                                                 Im Gegensatz zur „klassischen“ Behinde-
       Inklusion ersetzte als Ziel und Methode nun               rungsforschung in Medizin oder Rehabilitati-
       zunehmend Integration: Statt Menschen einer               onswissenschaft haben die Disability Studies
       Gesellschaft zuzuführen, der sie vermeint-                keine interventionistische oder praxisorien-
       lich nicht angehören, bedeutet Inklusion,                 tierte Motivation. Sie wollen vielmehr tradi-
       eine von Geburt an bestehende Zugehörig-                  tionelle Sicht- und Denkweisen über Men-
       keit aufrecht zu erhalten. An die Stelle von              schen mit Behinderungen überwinden.
       Defizitorientierung sollte die Förderung                  Einerseits soll eine Forschungscommunity
       von Fähigkeiten rücken. Propagiert wurde                  von Menschen mit Behinderungen entstehen,
       ein Normalisierungsverständnis, demzufol-                 andererseits sollen die Sozial-, Kultur- und
       ge die Lebens-, Wohn- und Konsumformen                    Geisteswissenschaften für eine konstrukti-
       in der Gesellschaft so zu verändern sind, dass            vistische Sicht auf Behinderung interessiert
       sie Menschen mit und ohne Behinderungen                   werden. Aus kulturalistischer Perspektive
       gleichermaßen in Anspruch nehmen können.                  lassen sich – unter anderem am Beispiel der
       Barrierefreie Technologien galten nun als                 Behindertenpolitik – die hinter Behinderung
       Garanten von Unabhängigkeit und Selbstbe-                 stehenden Prozesse der Benennung und Ka-
       stimmung. Dahinter verbarg sich die Vorstel-              tegorisierung und ihre soziokulturellen Wur-
       lung, dass die Umwelt durch technische Maß-               zeln aufzeigen.
       nahmen universell zugänglich und nutzbar
       gemacht werden könnte. Gelänge dies, gäbe
       es, so die Erwartung, keine Benachteiligun-
       gen mehr, weil behinderte Menschen nicht
                                                                 ❙18 Vgl. Sally French, What’s so great about indepen-
       mehr ausgeschlossen oder auf diskriminie-
                                                                 dence?, in: John Swain u. a. (eds.), Disabling Barriers
       rende Weise auf Sondernutzungen und Son-                  – Enabling Environments, London-Newbury Park-
       derwege verwiesen würden.❙17                              New Delhi 1993, S. 44–48.
                                                                 ❙19 Vgl. Anne Waldschmidt, Ist Behindertsein nor-
        Selten wurde dabei darauf aufmerksam ge-                 mal? Behinderung als flexibelnormalistisches Dis-
       macht, dass dies mit einer neuen Angewie-                 positiv, in: Günther Cloerkes (Hrsg.), Wie man be-
                                                                 hindert wird. Texte zur Konstruktion einer sozialen
                                                                 Rolle und zur Lebenssituation betroffener Menschen,
       ❙17 Vgl. z. B. Europäisches Institut Design für Alle in   Heidelberg 2003, S. 83–101, hier S. 98.
       Deutschland, European Concept für Accessibility/
       ECA für Verwaltungen, Berlin 2008.


  12    APuZ 23/2010
Valentin Aichele         tionen, Medienberichten und fachpolitischen
                                                             Stellungnahmen breit diskutiert.❙5
      Behinderung und
                                                                                         Entstehungsgeschichte
       Menschenrechte:                                       Die Konvention ist im Rahmen der Verein-
   Die UN-Konvention                                         ten Nationen entwickelt worden.❙6 Nach
                                                             Abschluss der nur vier Jahre dauernden in-

        über die Rechte                                      ternationalen Vorbereitung nahm die Gene-
                                                             ralversammlung der Vereinten Nationen die

         von Menschen
                                                             Konvention im Dezember 2006 an. Internati-
                                                             onal ist sie bereits seit 2007 als völkerrechtli-
                                                             ches Vertragswerk in Kraft. Ihr erfolgreicher
    mit Behinderungen                                        Entstehungsprozess erklärt sich durch die
                                                             aktive Mitwirkung von Menschen mit Be-
                                                             hinderungen und ihren Verbänden, die ihre


         D       ie UN-Konvention über die Rechte von
                 Menschen mit Behinderungen (UN-
           BRK), seit dem 26. März 2009 in Kraft, ist
                                                             ❙1 Siehe das Gesetz zu dem Übereinkommen der
                                                             Vereinten Nationen vom 13. 12. 2006 über die Rech-
                                                             te von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem
                                    in Deutschland ange-     Fakultativprotokoll vom 13. 12. 2006 zum Überein-
                  Valentin Aichele kommen.❙1 Ihre Bedeu-     kommen der Vereinten Nationen über die Rechte
                                                             von Menschen mit Behinderungen, BGBl. 2008 II,
    Dr. iur., geb. 1970; Leiter der tung für die Lebenssi-
                                                             S. 1419 ff.
        Monitoring-Stelle zur UN- tuation von Menschen       ❙2 Vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
  Behindertenrechtskonvention, mit Behinderungen ist         FDP für die 17. Legislaturperiode vom 11. 11. 2009
            Deutsches Institut für kaum zu überschät-        „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“, S. 83/132.
       Menschenrechte, Zimmer- zen. Die Konvention           ❙3 Vgl. die Pressemitteilung des Beauftragten der
      straße 26/27, 10969 Berlin. steht zu Recht für ei-     Bundesregierung für die Belange behinderter Men-
                                                             schen vom 25. 3. 2010: „Neuer Behindertenbeauf-
                         aichele@ nen Wechsel von einer
                                                             tragter zeigt Schwerpunkte seiner Arbeit beim ersten
institut-fuer-menschenrechte.de Politik der Fürsorge         Jahresempfang auf“.
                                    hin zu einer Politik     ❙4 Vgl. die Pressemitteilung des Bundesministeriums
           der Rechte. Sie ist der neue Rechtsrahmen für     für Arbeit und Soziales vom 22. 4. 2010: „Umsetzung
           die Behindertenpolitik in Deutschland und         der Behindertenrechtskonvention. BMAS setzt auf
                                                             breite Beteiligung“; in Rheinland-Pfalz liegt bereits
           erhebt die Rechte von Menschen mit Behin-
                                                             ein Aktionsplan vor. In anderen Bundesländern sind
           derungen zur Grundlage und zum Maßstab            von den Landtagen Beschlüsse gefasst worden, Maß-
           politischen Handelns. In Bezug auf viele Po-      nahmenpläne zu entwickeln, so etwa in Bayern, Hes-
           litikfelder macht die UN-BRK konkrete Vor-        sen und Thüringen.
           gaben, die bereits heute für eine Umsetzung       ❙5 Vgl. u. a. Die Beauftragte der Bundesregierung
           eine klare Handlungsorientierung bieten.          für die Belange behinderter Menschen (Hrsg.), alle
                                                             inklusive! Die neue UN-Konvention … und ihre
                                                             Handlungsaufträge. Ergebnisse der Kampagne alle
            Der Zuspruch, den dieses Übereinkom-             inklusive!, Berlin 2009; Bezüge zur UN-Behinder-
         men erfährt, ist enorm. Zahlreiche Stimmen          tenrechtskonvention weisen die Stellungnahmen der
         aus Staat und Gesellschaft beziehen sich auf        Sachverständigen auf, siehe Deutscher Bundestag/
         sie. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundes-        Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdruck-
         regierung bekräftigt sie als Maßstab für je-        sache 17(11)128 vom 27. 4. 2010.
                                                             ❙6 Zur Entstehungshintergrund siehe Don MacKay,
         des staatliche Handeln.❙2 Der Beauftragte der
                                                             The United Nations Convention on the Rights of Per-
         Bundesregierung für die Belange behinderter         sons with Disabilities, in: Syracuse Journal of Inter-
         Menschen hat die Konvention zum Schwer-             national Law and Commerce, 34 (2007) 2, S. 323–331;
         punkt seiner Amtszeit erklärt.❙3 Die Bundes-        Antje Welke, Das Internationale Übereinkommen
         regierung und einige Bundesländer arbeiten          über die Rechte von Menschen mit Behinderungen,
         an Aktionsplänen zur Umsetzung ihrer Vor-           in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen
                                                             Arbeit, (2007) 1, S. 60–72; Theresia Degener, Men-
         gaben.❙4 Die erforderlichen Veränderungen
                                                             schenrechtsschutz für behinderte Menschen: Vom
         und Konsequenzen, die aus der Konvention            Entstehen einer neuen Menschenrechtskonventi-
         abgeleitet werden können, werden in unzäh-          on der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen,
         ligen öffentlichen Veranstaltungen, Publika-        (2006) 2, S. 104–110.


                                                                                                  APuZ 23/2010        13
Erfahrungen und Perspektiven einbringen                 Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie er-
        konnten.❙7 Die seither wachsende internatio-            kennt eine Behinderung dort, wo die Wech-
        nale Anerkennung der UN-BRK übersteigt                  selwirkung zwischen einer Beeinträchtigung
        gerade in Anbetracht der hohen Anforde-                 und einer gesellschaftlichen Barriere dazu
        rungen, die sie an ihre innerstaatliche Umset-          führt, dass Menschen mit Behinderungen an
        zung stellt, alle Erwartungen. So haben sich            der vollen, wirksamen und gleichberechtig-
        bereits 85 Staaten an die Konvention gebun-             ten Teilhabe an der Gesellschaft gehindert
        den (Stand: Mai 2010). Mehr als 50 Staaten              werden (siehe Art. 1 Unterabs. 2 UN-BRK).
        haben das Beschwerdeverfahren nach dem                  Die Konvention verlagert damit das Problem
        Fakultativprotokoll akzeptiert. Die Zahl der            „Behinderung“ von der individuellen Sphä-
        Vorbehalte bleibt erfreulich gering.❙8                  re zu den Bereichen der gesellschaftlichen
                                                                Strukturen und unseres Denkens.

Ziel der Konvention
                                                                                                        Die Rechte
        Menschen mit Behinderungen sollen von den
        Menschenrechten Gebrauch machen können,                 Spektrum der verankerten Rechte: Die Kon-
        und zwar gleichberechtigt mit anderen, das              vention deckt das gesamte Spektrum men-
        heißt in gleichem Maße wie nichtbehinder-               schenrechtlich geschützter Lebensbereiche
        te Menschen (Art. 1 Unterabs. 1 UN-BRK).                ab. Dem Grundsatz der Unteilbarkeit ver-
        Dieses ausdrücklich erklärte Ziel der Kon-              pflichtet, integriert sie wie kein Überein-
        vention fußt auf der Erkenntnis, dass Men-              kommen vor ihr bürgerliche und politische
        schen wegen einer Beeinträchtigung stärker              Rechte sowie wirtschaftliche, soziale und
        in der Wahrnehmung ihrer Rechte einge-                  kulturelle Rechte. Die Konvention listet die
        schränkt sein können als Menschen ohne Be-              Rechte der Menschen mit Behinderungen im
        hinderungen.                                            Einzelnen auf.

          Verständnis von Behinderung Die Konven-                 Dazu gehören das Recht auf Leben
        tion nimmt sehr vielfältige Lebenssituationen           (Art. 10), das Recht auf gleiche Anerkennung
        in den Blick. Sie fokussiert die Lebenslagen            vor dem Recht und Schutz der Rechts- und
        der Menschen, die langfristige körperliche,             Handlungsfähigkeit (Art. 12), das Recht auf
        seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchti-            Zugang zur Justiz (Art. 13), das Recht auf
        gungen haben (vgl. Art. 1 Unterabs. 2 UN-               Freiheit und Sicherheit (Art. 14), Freiheit von
        BRK). Dazu gehören nicht nur Menschen,                  Folter (Art. 15), Freiheit vor Ausbeutung,
        die herkömmlich mit einer „Behinderung“                 Gewalt und Missbrauch (Art. 16), das Recht
        assoziiert werden, wie etwa Menschen mit                auf körperliche und seelische Unversehrtheit
        körperlichen Einschränkungen, blinde oder               (Art. 17), Freizügigkeit (Art. 18), das Recht
        gehörlose Menschen, sondern auch Men-                   auf Staatsangehörigkeit (Art. 18), das Recht
        schen mit einer sogenannten geistigen Be-               auf unabhängige Lebensführung und Ein-
        hinderung, Menschen mit seelischen Schwie-              beziehung in die Gesellschaft (Art. 19), das
        rigkeiten oder psychischen Erkrankungen,                Recht auf persönliche Mobilität (Art. 20), das
        Menschen mit Autismus oder auch pflegebe-               Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 21),
        dürftige alte Menschen.                                 das Recht auf Zugang zu Informationen
                                                                (Art. 21), Achtung der Privatsphäre (Art. 22),
          Als „Behinderung“ versteht die Konventi-              Achtung der Wohnung (Art. 23), Familie
        on die strukturell bedingte und im Vergleich            und Familiengründung (Art. 23), das Recht
        zu nichtbehinderten Menschen größere Ein-               auf Bildung (Art. 24) und auf Gesundheit
        schränkung der individuellen Rechte von                 (Art. 25), das Recht auf Arbeit und Beschäfti-
                                                                gung (Art. 27), das Recht auf einen angemes-
        ❙7 Vgl. Jochen von Bernstorff, Menschenrechte und       senen Lebensstandard (Art. 28), Teilhabe am
        Betroffenenrepräsentation: Entstehung und Inhalt        politischen und öffentlichen Leben (Art. 29),
        eines UN-Antidiskriminierungsübereinkommens             Teilhabe am kulturellen Leben sowie auf Er-
        über die Rechte von behinderten Menschen, in: Zeit-
                                                                holung, Freizeit und Sport (Art. 30).
        schrift für ausländisches öffentliches Recht und Völ-
        kerrecht, 67 (2007) 4, S. 1041–1063.
        ❙8 Vgl. zum aktuellen Ratifikationsstand oder Vorbe-      Konkretisierung bestehender Menschen-
        halten online: http://treaties.un.org (1. 5. 2010).     rechte: Es handelt sich bei den „Rechten

   14    APuZ 23/2010
von Menschen mit Behinderungen“ gemäß                  zen.❙12 Wesentlich sind Wortlaut, Systematik
der Konvention um ein und dieselben Rech-              und Ziel der Konvention. In die Sinndeutung
te, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der           der Rechte einzubeziehen sind auch die soge-
Menschenrechte von 1948, dem Internatio-               nannten Allgemeinen Bemerkungen der UN-
nalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und           Fachausschüsse.❙13 Auch die Grundsätze,
kulturelle Rechte von 1966 und dem Inter-              welche die Konvention bestimmt, etwa der
nationalen Pakt über bürgerliche und politi-           Grundsatz der sozialen Inklusion, assistier-
sche Rechte von 1966 niedergelegt sind. Sie            te Selbstbestimmung oder die Gleichheit von
ist keine Spezialkonvention, die Sonderrech-           Frau und Mann, sind ebenfalls für die Ausle-
te oder Privilegien für Menschen mit Behin-            gung der einzelnen Rechte von großer Wich-
derungen formuliert. Die Leistung und der              tigkeit (siehe dazu Art. 3 UN-BRK). Ihre
Gewinn der Konvention sind darin zu er-                Ziele verstärken die Ausrichtung der einzel-
kennen, dass sie die universellen Rechte aus           nen Rechte und erlauben, eine entsprechende
der Perspektive von Menschen mit Behin-                Auslegung zu begründen.
derungen präzisiert und im selben Zuge die
staatlichen Verpflichtungen für ihren Schutz              Zum Beispiel: Das Recht auf inklusive Bil-
konkretisiert.❙9                                       dung. Die Konkretisierungsleistung der Kon-
                                                       vention sei hier anhand des Rechts auf inklu-
  Zum Beispiel haben die Staaten der Ver-              sive Bildung im Sinne von Art. 24 UN-BRK
einten Nationen im Bereich des Diskrimi-               kurz dargestellt. Das Recht auf Bildung als
nierungsschutzes seit Gründungszeiten Ver-             Menschenrecht ist bereits in der Allgemeinen
bote, etwa in Bezug auf Geschlecht, Sprache            Erklärung der Menschenrechte und im UN-
und Religion angenommen.❙10 „Behinderung“              Pakt über wirtschaftliche, soziale und kultu-
jedoch war weder in der Allgemeinen Erklä-             relle Menschenrechte anerkannt worden.❙14
rung der Menschenrechte von 1948 noch in               1999 hat der UN-Fachausschuss für die wirt-
den beiden Pakten von 1966 ausdrücklich                schaftlichen, sozialen und kulturellen Rech-
als Verbotsmerkmal anerkannt worden. Die               te den Inhalt und die damit verbundene Ver-
menschenrechtliche Relevanz des Phäno-                 pflichtungsstruktur des Rechts auf Bildung
mens Behinderung wurde damals schlicht-                dargelegt. Dieser Kommentar ist auch für
weg verkannt. Aufgrund ihrer präg nanten               das Verständnis von Art. 24 UN-BRK lei-
Ausgestaltung stellt die UN-BRK nunmehr                tend.❙15 Danach steht das Recht auf Bildung
ausdrücklich klar, dass auch „Behinderung“             für eine individuelle Rechtsposition. Sie ge-
zu den Lebenslagen gehört, die in den Be-              währleistet jedem Menschen altersunabhän-
reich des Diskriminierungsschutzes fallen.             gig die Freiheit auf lebenslanges Lernen.❙16
Die Konvention konkretisiert damit das be-             Es gilt als wichtiges Mittel für die Verwirk-
stehende menschenrechtliche Diskriminie-               lichung anderer Menschenrechte. Mit dem
rungsverbot.
                                                       ❙12 Siehe hierzu Meinhard Hilf, Die Auslegung mehr-
  Das bedeutet auch, dass die Bestimmun-               sprachiger Verträge. Eine Untersuchung zum Völ-
gen der Konvention unter Anwendung be-                 kerrecht und zum Staatsrecht der Bundesrepublik
                                                       Deutschland, Berlin 1973, S. 187 ff., S. 191 f.
stimmter Methoden und Quellen ausgelegt
                                                       ❙13 Vgl. Philip Alston, The historical origins of the
werden können und sollen, will man ihren               concept of „general comments“ in human rights law,
Inhalt sinnvoll erschließen. Eine fachgerech-          in: Liber Amicorum Georges Abi-Saab, Den Haag
te Auslegung muss sich etwa der Interpreta-            2001, S. 763–776.
tionsstandards der Wiener Vertragsrechts-              ❙14 Vgl. Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Men-
konvention bedienen❙11 und immer an den                schenrechte, Art. 13 des UN-Paktes über wirtschaft-
                                                       liche, soziale und kulturelle Rechte und Art. 28
authentischen Sprachfassungen – zu denen
                                                       und 29 des Übereinkommens über die Rechte des
die deutsche Fassung nicht gehört – anset-             Kindes.
                                                       ❙15 Vgl. UN-Ausschuss für wirtschaftliche, sozia-
❙9 Vgl. Valentin Aichele, Die UN-Behindertenrechts-    le und kulturelle Rechte, Allgemeine Bemerkung,
konvention und ihr Zusatzprotokoll. Ein Beitrag zur    Nr. 13, UN Doc. E/C.12/1999/10 vom 8. 12. 1999;
Ratifikationsdebatte, Berlin 2008, S. 5.               vgl. in deutscher Übersetzung Deutsches Institut für
❙10 Vgl. Art. 1 Nr. 3 Charta der Vereinten Nationen    Menschenrechte (Hrsg.), Die „General Comments“ zu
von 1945.                                              den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Über-
❙11 Vgl. Art. 31–33 der Wiener Übereinkommen           setzung und Kurzeinführung, Baden-Baden 2005,
über das Recht der Verträge von 1969, BGBl. 1985 II,   S. 263–284.
S. 926.                                                ❙16 Vgl. UN Doc. (Anm. 15), Ziffer 4.

                                                                                           APuZ 23/2010        15
Recht verbinden sich staatliche Verpflichtun-              Grundsätze und Querschnittsaufgaben
     gen auf verschiedenen Ebenen (Achtungs-,
     Schutz- und Gewährleistungsverpflichtun-                  Die UN-BRK formuliert zu den einzelnen
     gen).❙17 Die Verpflichtungen beziehen sich auf            Rechten übergreifende, grundlegende Anlie-
     Fragen der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit,                 gen, die in Bezug auf die Verwirklichung na-
     Angemessenheit und Adaptierbarkeit von                    hezu aller Rechte von Menschen mit Behin-
     Bildungseinrichtungen und Diensten im Be-                 derungen von wesentlicher Bedeutung sind.
     reich Bildung.❙18                                         Das ist nicht nur von theoretischer Bedeu-
                                                               tung, sondern hat praktische Konsequenzen:
       Geleitet vom Grundsatz der Inklusion,                   Während sich etwa in der Vergangenheit Be-
     entwickelt die Konvention das Recht auf Bil-              hindertenpolitik auf sozialpolitische Fragen
     dung zu einem Recht auf inklusive Bildung                 konzentriert hat, unterstreicht die Konven-
     fort.❙19 Behinderte und nichtbehinderte Men-              tion, dass Behinderung in allen Politikberei-
     schen haben demnach ein Recht darauf, ge-                 chen relevant sein kann.
     meinsam zu lernen. Kinder und Jugendliche
     mit Behinderungen haben das Recht auf ei-                   Diskriminierungsschutz: Relevant für alle
     nen diskriminierungsfreien Zugang zu ei-                  Rechte in der Konvention ist der menschen-
     ner ortsnahen Regelschule.❙20 Die mit dem                 rechtliche Diskriminierungsschutz (siehe dazu
     Recht auf Bildung verbundenen Ziele sind                  die Art. 2, 3 und 5 UN-BRK). Das Nichtdis-
     durch die UN-Konvention ebenfalls präzi-                  kriminierungsprinzip dient dazu, den gleich-
     siert worden, etwa dass Bildung die Achtung               berechtigten Gebrauch der Freiheit von Men-
     vor der menschlichen Vielfalt stärken soll.❙21            schen mit Behinderungen abzusichern. Die
     Außerdem konkretisiert die Konvention die                 Konvention verbietet gleichermaßen direk-
     staatlichen Verpflichtungen, indem sie dar-               te und indirekte Diskriminierung. Besondere
     legt, wie das Bildungswesen in Bezug auf                  Bestimmungen zum Schutz vor Diskriminie-
     die Bereiche Verfügbarkeit, Zugänglichkeit,               rung enthält sie in Bezug auf Frauen und Mäd-
     Angemessenheit und Adaptierbarkeit weiter                 chen (Art. 6 UN-BRK).
     ausgestaltet werden soll.❙22 Die Konvention
     etabliert in diesem Zuge auch die staatliche                 Als innovatives Element des Diskriminie-
     Verpflichtung, schrittweise ein „inklusives               rungsschutzes führt die UN-BRK das Kon-
     Bildungssystem“ (inclusive education system)              zept der angemessenen Vorkehrungen ein
     aufzubauen und zu unterhalten, weil sie da-               (Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK). Darunter sind
     von ausgeht, dass das Recht auf Bildung nur               die individuell erforderlichen Anpassungen
     in einem inklusiven System gewährleistet                  von Gegebenheiten zu verstehen, die gewähr-
     werden kann.❙23                                           leisten, dass Menschen mit Behinderungen
                                                               ihr Recht gleichberechtigt mit anderen wahr-
                                                               nehmen können. Beispielsweise gehören dazu
     ❙17 Vgl. ebd., Ziffer 43 ff.                              Veränderungen der Schulsituation in der Re-
     ❙18 Vgl. ebd., Ziffer 6 ff.                               gelschule, damit ein Kind mit Behinderung
     ❙19 Vgl. OHCHR, Thematic study by the Office of           dort sinnvoll und individuell – etwa durch
     the High Commissioner for Human Rights on en-
                                                               zieldifferenten Unterricht – unterrichtet wer-
     hancing awareness and understanding of the Con-
     vention on the Rights of Persons with Disabilities,       den kann. Die Konvention macht angemesse-
     UN Doc. A/HRC/10/48 vom 26. 1. 2009, Ziffer 52 f.;        ne Vorkehrungen zum integralen Bestandteil
     United Nations, The right to education of persons         einzelner Rechte, etwa beim Recht auf inklu-
     with disabilities. Report of the Special Rapporteur on    sive Bildung.❙24
     the right to education; UN Doc. A/HRC/4/29 vom
     19. 2. 2007.
                                                                 Inklusion: Der Gedanke der sozialen In-
     ❙20 Vgl. Eibe Riedel, Gutachten zur Wirkung der in-
     ternationalen Konvention über die Rechte von Men-         klusion ist ein tragender Grundsatz und Leit-
     schen mit Behinderungen und ihres Fakultativpro-          begriff der Konvention (Art. 3 UN-BRK).
     tokolls auf das deutsche Schulsystem. Erstattet der       Inklusion steht für die Offenheit eines ge-
     Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben, ge-            sellschaftlichen Systems in Bezug auf sozia-
     meinsam lernen Nordrhein-Westfalen (LAG GL),              le Vielfalt, die selbstverständlich Menschen
     Mannheim-Genf 2010.
                                                               mit Behinderungen einschließt. Der Begriff
     ❙21 Vgl. Art. 24 Abs. 1 a) UN-BRK.
     ❙22 Vgl. Art. 24 Abs. 1 a) bis c) UN-BRK.                 im Sinne der Konvention geht über das hi-
     ❙23 Vgl. Art. 24 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2
     UN-BRK.                                                   ❙24 Vgl. Art. 24 Abs. 2 c) UN-BRK.

16    APuZ 23/2010
naus, was traditionell mit „Integration“ ge-          zesse eingebunden sind. Erforderlich ist nach
meint ist. Es geht nicht nur darum, innerhalb         der Konvention die Partizipation vor allem in
bestehender Strukturen auch für Menschen              Bezug auf die Ausarbeitung und Umsetzung
mit Behinderungen Raum zu schaffen, son-              von Rechtsvorschriften und politischen Pro-
dern darum, die gesellschaftlichen Struktu-           grammen, die zur Umsetzung der UN-BRK
ren so zu gestalten, dass sie der realen Vielfalt     beitragen (Art. 4 Abs. 3 UN-BRK).
menschlicher Lebenslagen – gerade auch von
Menschen mit Behinderungen – von vornhe-                Ausbau von Kenntnissen: In einigen Berei-
rein gerecht werden.❙25                               chen sind die Lebenslagen von Menschen mit
                                                      Behinderungen und die damit verbundenen
  Bewusstseinsbildung: Große Bedeutung                Schwierigkeiten in Bezug auf ihre Rechtsaus-
misst die Konvention der allgemeinen und              übung hinreichend bekannt. Das trifft nicht
individuellen Bewusstseinsbildung bei (sie-           auf alle Lebensbereiche oder auf alle Gruppen
he Art. 8 UN-BRK). Die von der UN-Kon-                von behinderten Menschen zu. Als Grundla-
vention angeleitete Bewusstseinsbildung hat           ge für politische Konzepte und Programme
das Ziel, etwa das an „Defiziten“ orientier-          erkennt die Konvention deshalb die Notwen-
te Denken zu überwinden. Dagegen fördert              digkeit, dass ein Staat geeignete Informationen
sie die Wertschätzung von Menschen mit Be-            einschließlich statistischer Angaben und For-
hinderungen und die Sichtweise, Behinde-              schungsdaten sammelt (Art. 31 UN-BRK).
rung als Beitrag zur menschlichen Vielfalt
anzuerkennen. Zur Unterstützung eines ge-
sellschaftlichen Bewusstseinswandels ver-                               Umsetzungsverpflichtungen
pflichtet die Konvention den Staat, sofortige
wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um etwa              Mit der Ratifikation hat sich Deutschland ge-
in der gesamten Gesellschaft, einschließlich          genüber der internationalen Gemeinschaft,
der Ebene der Familien, das Bewusstsein für           aber auch gegenüber den in Deutschland le-
Menschen mit Behinderungen zu schärfen                benden Menschen verpflichtet, die Konventi-
und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Wür-           on einzuhalten und umzusetzen (siehe Art. 4
de zu fördern. Zu diesen geeigneten Maßnah-           Abs. 1 und 2 UN-BRK).❙26 Die Verpflichtun-
men gehören auch öffentliche Kampagnen.               gen, die aus der UN-BRK erwachsen, rich-
                                                      ten sich primär an die Träger staatlicher Ge-
  Barrierefreiheit: Neben den mentalen Bar-           walt. Die Adressaten in Deutschland sind die
rieren problematisiert die Konvention die             Parlamente auf der Ebene von Bund und Län-
Barrieren aus dem Bereich der Umwelt (etwa            dern, welche die Konvention im Rahmen der
in Bezug auf Transportmittel, Information,            verfassungsgemäßen Ordnung umzusetzen
Kommunikation, Dienste), die Menschen                 haben. Neben den Parlamenten sind Behör-
wegen einer Beeinträchtigung am gleichbe-             den und Gerichte sowie die Körperschaften
rechtigten Rechtsgebrauch hindern (Art. 9             öffentlichen Rechts ebenfalls Adressaten der
UN-BRK). Die Konvention verpflichtet dazu,            Normen, da diese an Gesetz und Recht ge-
Barrieren systematisch zu identifizieren und          bunden sind. Die Bundesländer sind im Rah-
schrittweise, aber konsequent abzubauen, die          men ihrer Zuständigkeiten für die Umset-
Menschen mit Behinderungen eine selbstän-             zung der Konvention verantwortlich.
dige Lebensführung und eine volle Teilhabe
versperren.                                             „Einhaltung der Konvention“ meint, dass
                                                      der Staat bestimmten Vorgaben ohne jeden
  Partizipation: Politik für Menschen mit Be-         Zeitaufschub in Bezug auf bestimmte Bestand-
hinderungen kann nur gelingen, wenn diese
selbst mitwirken. Die Konvention verpflich-           ❙26 Vgl. zur Umsetzung OHCHR, Thematic study
tet daher die Staaten, die unterschiedlichen          by the Office of the High Commissioner for Human
Perspektiven behinderter Menschen einzube-            Rights on enhancing awareness and understanding of
ziehen, indem betroffene Menschen und die             the Convention on the Rights of Persons with Disabi-
sie vertretenden Verbände in politische Pro-          lities, UN Doc. A/HRC/10/48 vom 26. 1. 2009; Uni-
                                                      ted Nations, From exclusion to equality. Realizing
                                                      the rights of persons with disabilities. Handbook for
❙25 Vgl. Heiner Bielefeldt, Zum Innovationspotenti-   Parliamentarians on the Convention on the Rights of
al der UN-Behindertenrechtskonvention (3. aktuali-    Persons with Disabilities and its Optional Protocol,
sierte und erweiterte Auflage), Berlin 2009.          Geneva 2007, S. 51 ff.


                                                                                          APuZ 23/2010        17
teile entsprechen muss. Diese sind vom Gebot              Prozess, der die Einhaltung und Umsetzung
       zur progressiven Entwicklung ausgenommen.                 der Konvention begleitet und fördert.❙29 Men-
       Als hinreichend bestimmt gelten das Diskri-               schenrechtliches Monitoring ist darauf aus-
       minierungsverbot oder auch die Abwehrkom-                 gerichtet, durch andere als rechtliche Mit-
       ponente der Rechte sowie ihre unverfügba-                 tel darauf hinzuwirken, dass die staatlichen
       ren Inhalte (die so genannten Kernbereiche).              Verantwortungsträger die UN-BRK einhal-
       Dazu gehört beispielsweise beim Recht auf                 ten und umsetzen. Monitoring ist Überzeu-
       Bildung, dass Menschen mit Behinderungen                  gungsarbeit durch Beteiligung an politischen
       nicht rechtlich wie praktisch gegen ihren Wil-            Diskussionen, am fachwissenschaftlichen
       len vom allgemeinen Bildungssystem ausge-                 Diskurs und an Entscheidungsprozessen.❙30
       schlossen werden.❙27 Die Bundesländer müssen              Es bedeutet die genaue sektor- und themen-
       jetzt alles daran setzen, um im Einzelfall die            bezogene Beobachtung der rechtlichen und
       erforderlichen Maßnahmen zu treffen, sodass               gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie das
       ein sinnvolles individuelles Bildungsangebot              Sammeln von Informationen und Fakten und
       an einer allgemeinen Schule gemacht werden                deren Bewertung im Lichte der UN-BRK.
       kann. Man würde die Idee der Menschenrech-                Hierauf aufbauend werden staatliche Aktivi-
       te nicht hinreichend anerkennen und letzten               täten konstruktiv und kritisch begleitet oder
       Endes ihre Existenz in Frage stellen, würde               neue Aktivitäten angestoßen. Der Monito-
       man nicht von einem Kernbestand sofort zu                 ring-Prozess muss selbst diese Rechte, insbe-
       realisierender Verpflichtungen ausgehen.                  sondere die Partizipationsrechte, beachten.

         Neben dem Gebot der Einhaltung besteht                     Die Besonderheit der UN-BRK gegen-
       die Verpflichtung zur schrittweisen Umset-                über bisherigen menschenrechtlichen Verträ-
       zung. Darunter ist ein zielgerichteter, vom               gen liegt darin, dass sie den Staat verpflichtet,
       Staat organisierter und angeleiteter Prozess              dieses Monitoring auf innerstaatlicher Ebene
       zu verstehen, an den die Konvention ihrerseits            durch die Schaffung einer unabhängigen Stel-
       bestimmte Anforderungen stellt. Beispiels-                le dauerhaft sicherzustellen und zu gewähr-
       weise bezieht sich diese Verpflichtung beim               leisten (siehe Art. 33 Abs. 2 UN-BRK).❙31 In
       Recht auf Bildung darauf, ein inklusives Bil-             Deutschland heißt diese Monitoring-Stelle
       dungssystems aufzubauen.❙28 Dieses Vorhaben               und ist Teil des Deutschen Instituts für Men-
       kann zwar nur schrittweise erreicht werden.               schenrechte in Berlin.❙32
       Nach dem Gebot zur progressiven Realisie-
       rung muss der Staat damit kurz nach dem                   ❙29 Siehe den Vortrag von Valentin Aichele „Das In-
       Inkrafttreten beginnen, indem er geeignete,               novationspotential der UN-Behindertenrechtskon-
                                                                 vention“, gehalten am 16. April 2008 auf der Fach-
       zielführende und wirksame Maßnahmen un-
                                                                 tagung „UN-Behindertenrechtskonvention über die
       ter Einbeziehung der vorhandenen Mittel er-               Rechte von Menschen mit Behinderungen zwischen
       greift. Diese Prozesse sollen partizipativ und            Alltag und Vision“ in Berlin.
       transparent ablaufen. Die staatlichen Verant-             ❙30 Vgl. United Nations, Monitoring the Convention
       wortungsträger sind für ihr Handeln wie für               on the Rights of Person with Disabilities. Guidance
       etwaige Versäumnisse rechenschaftspflichtig.              for Human Rights Monitors, New York-Geneva
                                                                 2010; Manuel Guzman/Bert Verstappen, What is mo-
                                                                 nitoring?, Versoix 2003.
                                                                 ❙31 OHCHR, Thematic study by the Office of the
Monitoring                                                       United Nations High Commissioner for Human
                                                                 Rights on the structure and role of national mecha-
       In Abgrenzung zu der Pflicht des Staates, die             nisms for the implementation and monitoring of the
       UN-BRK einzuhalten und umzusetzen, ob-                    Convention on the Rights of Persons with Disabili-
                                                                 ties, UN Doc. A/HRc/13/29 vom 22. 12. 2009.
       liegt nichtstaatlichen Akteuren eine andere
                                                                 ❙32 Das Deutsche Institut für Menschenrechte wurde
       Aufgabe: das Monitoring (Art. 33 Abs. 2 und 3             im März 2001 auf Beschluss des Deutschen Bundes-
       UN-BRK, Art. 34 ff UN-BRK). Die UN-                       tages vom Dezember 2000 als unabhängige Nationale
       BRK versteht Monitoring (engl. to monitor –               Menschenrechtsinstitution Deutschlands gegrün-
       kontrollieren, überwachen) als einen notwen-              det. Als solche ist es – so die Feststellung der Ver-
       digen und zivilgesellschaftlich organisierten             einten Nationen – für die Funktion des Monitoring
                                                                 der UN-BRK prädestiniert. Zum Konzept der Na-
                                                                 tionalen Menschenrechtsinstitutionen vgl. Valentin
       ❙27 Vgl. Art. 24 Abs. 2 a) UN-BRK.                        Aichele, Die Nationale Menschenrechtsinstitution.
       ❙28 Vgl. Art. 24 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2   Eine Einführung, 2., überarbeitete und aktualisierte
       UN-BRK.                                                   Auflage, Berlin 2009.


  18    APuZ 23/2010
Politische bildung behinderung
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Politische bildung behinderung

  • 1. APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 23/2010 · 7. Juni 2010 Menschen mit Behinderungen Katja de Bragança Mongolisch ist mongolisch und klingt so wie mongolisch Elsbeth Bösl Die Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Valentin Aichele Behinderung und Menschenrechte Thomas Stöppler Ja zur Vielfalt (sonder-)pädagogischer Angebote Hans Wocken Über Widersacher der Inklusion und ihre Gegenreden Lisa Pfahl · Justin J.W. Powell Draußen vor der Tür: Die Arbeitsmarktsituation
  • 2. Editorial Noch bis in die 1970er Jahre wurde Behinderung als indivi- duelles, funktionales Defizit aufgefasst, das die Erwerbsfähig- keit einschränkt oder unmöglich macht. Allmähliche Fort- schritte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen ließen sich zunächst daran festmachen, dass sie als „Mit-Bürger“ angesprochen, sie also als mündig angese- hen wurden. Behinderte Menschen riefen bald dazu auf, sich aus dem Opferstatus zu befreien, und sprachen zunehmend für sich selbst. Im Jahr 2006 wurde von den Vereinten Nationen die Konven- tion über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verab- schiedet. An ihr lässt sich der Wandel des Verständnisses von einem Leben mit Behinderung ablesen: Behinderung wird nicht mehr als „Defizit“ angesehen, sondern als Element der menschlichen Vielfalt. Seit März 2009 ist die Konvention auch in Deutschland in Kraft. Laut dem Koalitionsvertrag vom ver- gangenen Herbst dient sie der Bundesregierung als Maßstab für Entscheidungen in diesem Politikfeld. Die Konvention verbie- tet jede Diskriminierung und verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu garantieren. Ungeachtet der breiten Zustimmung, welche die Konventi- on erfahren hat, birgt sie großen politischen Zündstoff. So wer- den etwa die detaillierten Vorgaben zu ihrer Umsetzung, die sie unter anderem für den Bereich Bildung macht, unterschiedlich interpretiert. Während in der englischen Originalfassung von einem „inclusive education system“ die Rede ist, das die Ver- tragsstaaten gewährleisten sollen, spricht die deutsche Über- setzung von einem „integrativen Bildungssystem“. Kritiker der deutschen Behindertenpolitik warfen den Kultusministern se- mantische Tricksereien vor, um das bestehende Bildungssystem zu erhalten. In einem inklusiven Schulsystem müssten sich die schulischen Rahmenbedingungen den Bedürfnissen der Schüle- rinnen und Schüler anpassen und nicht umgekehrt. Konsequent umgesetzt, würde dies das gegliederte Schulsystem in Frage stellen. Manuel Halbauer
  • 3. Katja de Bragança Woran merkst du, dass du das Down-Syn- drom hast? Des hab i ned. (Lydia Bleibinger) Mongolisch ist Weil ich bei Ohrenkuss mitmachen kann. (Michael Häger) mongolisch und klingt Ich würde es sicher gar nicht merken, wenn nicht andere davon sprechen würden. (Mar- kus Hamm) so wie mongolisch Ich kann kein Fahrrad fahren. (Juliane Büge) Daran, dass ich etwas mehr Unterstützung Essay als andere brauche. (Anna Schomburg) Ja – ich bin ein Chinese. (Peter Keller) Ich kann keine Reise organisieren./Ich kann nicht selbstständig kochen./Schwierigkeiten S ie sind einfach überall – denn jeder 600. Mensch hat das Down-Syndrom. Wie, Sie kennen niemanden, der das Down-Syn- in Sachen Geld./Ich kann nicht alleine leben. (Annja Nitsche) Ich merke das nicht mehr. (Angela Fritzen) drom hat? Nach die- Bei mir wurde ein Chromosomentest ge- Katja de Bragança sem Text können Sie macht. (Carina Kühne) Dr. rer. nat., geb. 1959; mitreden. In diesem Das Glotzen der anderen Menschen. Den Gründerin und Chefredakteurin Beitrag werden viele Führerschein nicht machen zu können. (An- der Zeitschrift „Ohrenkuss … da Fragen gestellt. Fra- drea Wicke) rein, da raus“, Friedrich-Breuer- gen zu dem Down- Straße 23, 53225 Bonn. Syndrom. Diese Fra- Woran erkennt man einen Menschen mit info@ohrenkuss.de gen werden von Fach- Down-Syndrom? Am Aussehen. (Hermine www.ohrenkuss.de leuten beantwortet. Fraas) Also von erwachsenen Menschen, die das Down-Syndrom haben. ❙1 Dies ist ein Text aus der Ohrenkuss-Redaktion, zu- Alle Antworten sind aus der „Ohrenkuss“- sammengestellt von Katja de Bragança. Was ist ein Oh- renkuss?! Man hört und liest so vieles. Fast alles geht Redaktion.❙1 Svenja Giesler ist eine junge in den Kopf rein und sofort wieder raus. Und nur das Frau mit Down-Syndrom.❙2 Sie beschreibt Wichtige bleibt drin, das ist dann ein Ohrenkuss. In ihre Situation in knappen und deutlichen dem gleichnamigen Magazin schreiben nur Personen Worten: „Ich habe Down-Syndrom. Aber mit dem Down-Syndrom mit. Sie schreiben ihre Texte ich stehe dazu und ich bin kein Alien, denn selber. Mit der Hand oder auf dem Computer. Manche ich bin so wie ich bin und jeder soll es ver- diktieren auch ihre Texte, weil es einfacher geht. Oder weil sie das Schreiben nicht gelernt haben. Viele von ih- stehen und mich respektieren.“ Peter Rütti- nen haben auf der Ohrenkuss-Seite ein Portrait, online: mann, ein Mann mit Down-Syndrom meint: www.ohrenkuss.de/projekt/portraits (17. 5. 2010). „Ich bin auch behindert mit japanisch-chi- ❙2 Personen mit einem Down-Syndrom haben (meis- nesischen Augen. Beim Nachtessen esse tens) 47 statt 46 Chromosomen, bei ihnen ist das Chro- ich gerne mit Stäbchen, weil ich ein Chine- mosom 21 mit dem Down-Syndrom dreimal in jeder se bin.“ Ein Mensch mit Down-Syndrom ist Körperzelle vorhanden, daher auch die Bezeichnung „Trisomie 21“. Die kognitiven Fähigkeiten von Men- also immer erkennbar – so glaubt man (wenn schen mit Down-Syndrom sind häufig eingeschränkt, man zu denen gehört, die kein Down-Syn- sie haben in manchen Dingen ein anderes Tempo. drom haben).❙3 Das stimmt nicht. Nicht der ❙3 „Wie erleben Menschen mit Down-Syndrom die Mensch wird erkannt – sondern die Tatsa- Welt – wie sieht die Welt Menschen mit Down-Syn- che, dass die betreffende Person das Down- drom? Eine Gegenüberstellung.“ So lautete ein For- Syndrom hat. schungsvorhaben aus dem Jahre 1998 am Medizin- historischen Institut in Bonn, gefördert von der Volkswagen-Stiftung. Aus dem zweijährigen For- Wieso heißt das Down-Syndrom eigentlich schungsvorhaben entstand das Magazin „Ohrenkuss … Down-Syndrom? „Das Leiden kommt im- da rein, da raus“. Im Herbst 2010 erscheint die 25. Aus- mer nur von außen. Das ist schade. Ich kann gabe des Magazins zum Thema „Ich bin ein Mensch.“ einiges über meine geistige Behinderung Er- ❙4 Die Texte im Ohrenkuss werden nicht zensiert. Sie scheinungsform❙4 schreiben. Ich habe ein werden eins zu eins wiedergegeben: ohne Anpassung an die aktuelle Rechtschreibung, ohne Korrekturen Chromosom zuviel, das 21. Der Mann der bei Grammatik oder Zeichensetzung. In dem vorlie- uns beschrieben hat heißt Langdon Down. genden Text wurde jedoch eine Ausnahme gemacht. Der hat in England gelebt. Und ich sehe so Damit die Texte besser lesbar sind, wurden Recht- wie ein Chinese aus.“ (Hermine Fraas) schreibfehler verbessert. APuZ 23/2010 3
  • 4. Können manchmal nicht gut reden, sind ti Bolognese essen können ohne zu Zuneh- meistens langsam, sehen sich oft ähnlich. men, warum kann man nicht soviel essen wie (Markus Hamm) man will. Aber man nimmt dabei nicht zu. Das Am Gesicht, an der Bewegung. (Julia Bert- würde ich gerne wissen, manchmal muss ich mann) auf meine Lieblingsspeise verzichten, das ist Die sehen anderes aus und das ist schwer. blöd und bescheuert. Keiner verzichtet freiwil- ( Julian Göpel) lig auf eine Lieblingsspeise, auch wenn es die Man erkennt es an den Augen die geometrisch Michaela Koenig ist. Wer macht das freiwillig, fast gleich stehen, an den Händen „Vierfinger- da mache ich doch lieber Sport, damit ich mehr furche“ mit einer Linie durchzogenen Hand- davon essen kann. Da gehe ich freiwillig laufen, fläche hat und die Körpergröße Durchschnitt- damit ich mehr davon essen kann, das hört sich lich meistens klein ist. (Julia Keller) sicher albern an, aber ich scheiße wirklich auf Ich habe aber schon als Kind mit den klei- meinen niedrigen Grundumsatz. Der sich nie- nen Jungs gespielt und da war ich auch sehr mals ändern wird, mir tut es sehr weh, daran glücklich darüber. Da habe ich mein Down- zu denken.“ (Michael Koenig) Syndrom auch früher verschwiegen und sie nahmen mich so wie ich bin und da war ich Es gibt in Deutschland kaum eine Person mit auch sehr glücklich drüber. (Hermine Fraas) Down-Syndrom, die älter als 65 Jahre ist. Wa- rum?❙5 „Wenn ich damals gelebt hätte, dann Stört es dich, dass du das Down-Syndrom hätten die mich auch weggenommen, weil der hast? Nein eigentlich nicht, ich bleibe so ich es Hitler keine behinderten Kinder gemocht hät- bin und so werde glücklich sein. (Judith Klier) te. Der hätte mich dann auch getötet. Meine El- Ja, weil ich nicht richtig reden und schreiben tern und ich waren miteinander im Kino, dann kann. (Michael Kohl) haben wir diesen Film angeschaut, „Den Un- Schon – manchmal. Wenn jemand mich be- tergang“. Da war mir auch ein bisschen blass. schuldigt, dass ich behindert bin. (Annja Wir waren auch bei einer Führung in Nürn- Nitsche) berg, da hat die im Museum erzählt, dass der Mich stört es wenn andere Leute mich angu- Hitler kleine Kinder gestreichelt haben, weil cken und denken mit der kann ich mich doch er gerne kleine Kinder mag. nicht sehen lassen die nicht normal ist. Diese Aber er mochte keine behinderten Kinder.“ Ungewissheit und die Blicke wie die mich an- (Veronika Hammel) gucken stört mich ganz gewaltig. (Julia Keller) Nein, ich kann trotzdem vieles lernen. (Ca- Menschen mit Down-Syndrom werden oft rina Kühne) geärgert, weil sie anders aussehen. Wie fühlt Es stört mich sehr. Viele Menschen lachen sich das an? „Man fühlt sich (darf ich ruhig mich aus. (Angela Fritzen) sagen) scheiße und allein gelassen. Ausge- Nein, ich kenne es nicht anders. (Claudia Feig) grenzt. Man fühlt sich mies, man fühlt sich Ich will den Führerschein machen. Ich weiß auch in Stich gelassen. Man möchte anerkannt ich kann es nicht, weil ich das Down-Syn- werden. Ich möchte, dass die Menschen mich drom habe. (Andrea Wicke) respektieren. Die sehen nicht an mir, wie ich Ja, stört mich, ich möchte auch gerne Fahrrad mich fühle. Dass es mir Angst einjagt und fahren können. Ich möchte rechnen können. dass es sehr erschreckend für mich ist. Die (Juliane Büge) sehen die Menschen nicht. Nur ein Beispiel: Ja, weil ich wäre gerne normal. Weil mit Ich fahre mit meiner Mami in einem Bus. Es Down-Syndrom man einfach viel nicht ver- sind mehrere Leute drin, teils stehend, teils steht. (Christian Janke) sitzend. Dann fangen die auf einmal an, mich anzustarren und denken folgendes: ‚Wie sieht Warum sind manche Menschen mit Down- die denn aus? Ich habe noch nie im Leben eine Syndrom dick? „Meine Lieblingsspeise ist Spa- ghetti Bolognese, sie schmeckt mir leider sehr ❙5 Dieser Text entstand, als die Ohrenkuss-Redaktion gut, ob wohl es ein Dickmacher ist. Da nimmt 2005 in der Gedenkstätte Buchenwald zu dem Thema man leider sehr viel zu, das sind leider sehr vie- „Jenseits von Gut und Böse“ recherchierte. Vor 35 Jah- ren, als die medizinischen Fachbücher mit Erklärun- le Kalorien enthalten, das ist ein großer Blöd- gen zum Down-Syndrom erstellt wurden, war kein sinn, warum kann man nicht auf die Kalorien Mensch mit Down-Syndrom in Deutschland älter als pfeifen. Scheiße auf meinen niedrigen Grund- 30 Jahre. Diese Beobachtung wurde nicht hinterfragt umsatz. Ich möchte gerne so viele Spaghet- oder mit Angaben aus dem Ausland verglichen. 4 APuZ 23/2010
  • 5. Behinderte gesehen. Wie sieht die denn aus?‘ Ich bin die Verlobte, da haben wir unsere Lo- Und dann fühle ich mich scheiße und ich bin bung gefeiert mit Sekt und Knabberzeug – auch sehr traurig und in meinen Gefühlen jetzt habe ich meinen eigenen Mann! Das ist verletzt. Ich möchte, dass es aufhört mit die- ja auch wichtig, die Liebe. Man muss alles ser Anstarrerei. Wirklich! Ich möchte respek- planen – dann kommt die Hochzeit und die tiert werden – wie ich bin.“ (Svenja Giesler) Namen austauschen und kommt es kirchlich und als erstes kommt das Paar und dann die Das Sprechen fällt manchmal schwer.❙6 Wa- Gäste. (Christina Zehendner) rum? „Ich bin auch etwas schüchtern, auch Der Pastor, der sagt uns beide, Mann und wenn ich mit Leuten reden soll. Dann bekom- Frau: „Steht erstmal auf. Michael, Du kannst me ich kein vernünftiges Wort raus, ich bin die Frau nehmen.“ (Michael Häger) halt so, jeder hat seine Schwächen und Gren- Bei einer Verlobung ist die halbe Ehe ver- zen die man auf eine andere Art und Weise sprochen. Heute muss man nicht heiraten zeigt. Ich bin halt so. Ich habe auch andere das kostet zu viel. Man kann auch zusammen Gefühle als ihr, nur ich zeige es nicht immer. wohnen wie ein Ehepaar. Mein Partner und Ich bin auch nur ein Mensch mit Fehlern, nur ich wollen keine Kinder. (Andrea Wicke) ich gebe meine Fehler nicht schnell zu. Ich Warte auf den Richtigen – Sei nicht traurig. bin keine Maschine, ich bin ein Mensch vom (Romy Reißenweber) Fleisch und Blut. Ich bin auch kein Spielzeug, wie ihr wisst, sondern ich bin lebendig. Ihr Wie sieht die Zukunft aus? Einmal möchte ich sollt noch wissen das ich aus Haut und Kno- heiraten und ein Kind haben. Oder Autorin, chen bin, nicht das ihr glaubt, dass ich eine Schriftstellerin, Chefin in einer Bibliothek, Erfindung bin.“ (Michaela Koenig) Dirigentin, Pianistin, Falknerin, Sängerin, Musikverlegerin, Naturforscherin, Organi- Wie sieht es mit der Liebe aus? Liebe ist leich- satorin bei Konzerten und Open Airs als Te- te Sache zu schreiben, aber sagen oft peinlich. lefonistin, Komponistin am Klavier, Arzthel- Liebe heißt Küssen, auch Zungenkuss, Ge- ferin im Krankenhaus werden. Ich möchte in fühligkeit, geschmeichelt, Zärtlichkeit, sexy diesen Bereichen studieren und praktizieren. sein, nackt sein, Bett gehen, Sex machen. Überhaupt ist meine Zukunft weit, weit weg Mach ich vorher Musik an, nicht zu laut, von mir. Eigentlich soll meine Zukunft sehr bisschen laut, stöhnen ist auch gut, erotisch, wunderschön und musikliebend, sehr nett, Rock ’n’ Roll-Gefühligkeit von Musik, dann lustig, nicht zu laut, bunt, romantisch, gemüt- sagen: Ich liebe dich, ich liebe dich viel mehr. lich, ruhig, abwechslungsreich, liebend. So muss es sein, bisschen mehr trauen, bis Außerdem möchte ich auch das Verhalten der die Nachbarn hören: „Was ist los, ist heute Vogelkunde studieren und auch praktizie- Konzert da?“ (Der Autor von diesem Beitrag ren. Ich würde gerne auch Medizin studie- möchte seinen Namen nicht nennen. Er ist ren und im Spital praktizieren in Bereich von 24 Jahre alt und möchte nicht, dass seine El- Kopf wo die epileptischen Anfälle gesteuert tern wissen, dass er sich für Sex interessiert.) werden. Den Frieden natürlich auch für viele Länder. Ein Buch schreiben und eine Schrift- Und wie sieht es mit dem Heiraten aus?❙7 Die stellerin, Autorin werden. Ladinische Spra- Ehe schließe ich aus, das könnte ich nicht, die che reden können, und auch französisch und Feier ist so lang. (Achim Reinhardt) auch englisch reden können, aber auch hä- meische Sprache. Natürlich auch italienisch, griechisch. (Verena Elisabeth Turin) ❙6 Es fällt oft schwer, mit einem Menschen mit Down- Syndrom so zu kommunizieren, wie man es „norma- lerweise“ gewohnt ist. Man muss z. B. langsamer und Was für eine Sprache sprechen die Mongo- deutlich sprechen, eine einfache Sprache verwenden len?❙8 Mongolisch ist mongolisch und klingt und komplizierte Dinge erklären. Man sollte darauf so wie mongolisch. (Tobias Wolf ) achten, dass die „Verbindung“ zum Gegenüber nicht abreißt. Das erfordert Geduld und Konzentration, ❙8 Die Ohrenkuss-Redaktion reiste 2005 in die Mon- gesunde Neugier und die Offenheit für neue Sicht- golei. Das löste eine angeregte öffentliche Diskussion weisen und Fremdheit. aus: Die Resonanz war positiv, die Verwendung des Be- ❙7 Natürlich können Menschen mit Down-Syndrom griffs „Mongo“ und „mongoloid“ wurde diskutiert, Nachwuchs bekommen. Die Wahrscheinlichkeit wie- online: www.ohrenkuss-mongolei.de (19. 5. 2010). der ein Kind mit 47 Chromosomen zu bekommen ist erhöht. APuZ 23/2010 5
  • 6. Elsbeth Bösl Behinderung als Objekt der Forschung und sozial(politisch)es „Problem“ Die Geschichte der Behindertenpolitik Dieses individuelle, medizinische Defizitmo- dell hat eine lange Geschichte. Es entstand im 19. Jahrhundert im medizinischen Fachdis- in der Bundesrepu- kurs. Behinderung wurde biologistisch und gänzlich unabhängig von Kultur und Ge- blik aus Sicht der sellschaft definiert. Medizinisch konstatierte „Andersheiten“ wurden als Defekt oder Stö- rung gedeutet. Disability History Verkörperte „Andersheiten“ waren im 19. Jahrhundert nicht nur Objekte der For- schung, sondern vor allem auch Zielobjek- D isability History erforscht, wie und in welchen sozialen und kulturellen Kon- texten Menschen auf der Basis bestimmter te von Therapie und Präventionsversuchen – dies gebot die im Zuge der Aufklärung formulierte bürgerliche Sozialethik. Be- körperlicher, psychi- hinderte Menschen – in der Diktion der Elsbeth Bösl scher oder mentaler Zeit als „verkrüppelt“, „missgebildet“ oder Dr. phil., geb. 1978; wissen- Merkmale den Katego- „idiotisch“ bezeichnet – galten als sozia- schaftliche Mitarbeiterin am rien „behindert“ und les Problem. Es sollte mit den Mitteln des Zentralinstitut für Geschichte „normal“ zugeordnet entstehenden Sozialstaats und der privaten der Technik, TU München, c/o werden.❙1 Beeinträch- Wohltätigkeit gelöst werden – zum Nutzen Deutsches Museum, Museums- tigungen, Benachteili- der Gesellschaft und des Individuums. Das insel 1, 80538 München. gungen und Ausgren- Ziel war die weitgehende Anpassung der elsbeth.boesl@mzwtg.mwn.de zungen, die mit der als abweichend und defizitär klassifizierten Zuschreibung „Behin- Menschen an die funktionalen Erwartungen derung“ verknüpft sind, werden dabei sowohl der bürgerlichen, kapitalistisch verfassten als Konsequenzen materieller Kräfte und Gesellschaft. Barrieren als auch als Produkte kulturel- ler Werte, Erwartungen und Praktiken ver- Dort bildeten Leistungsfähigkeit und Pro- standen. „Behinderung“ oder „Normalität“ duktivität entscheidende soziale Bewertungs- sind demnach keine individuellen Eigen- kriterien. Nutzbringende Erwerbsarbeit galt schaften, sondern Kategorien, die innerhalb als Produktionsfaktor, Ausdruck menschlichen des Gesellschaftssystems in Abhängigkeit Seins und Integrationsinstrument zugleich. voneinander hergestellt werden – in wis- Medizinische, pädagogische und berufliche senschaftlichen und politischen Diskursen, Maßnahmenkataloge wurden entwickelt, um in Bürokratie und Institutionen und in der der Gesellschaft die ihr vermeintlich fern ste- Alltagswelt. henden Menschen mit Behinderungen zu- zuführen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg In der bundesdeutschen Behindertenpoli- wurde dieser Rehabilitationsansatz institu- tik, um die es im Folgenden geht, wurde Be- tionalisiert und in der gesetzlichen Unfall- hinderung bis in die 1970er Jahre hinein vor allem als individuelles, funktionales Defizit Ich danke Anne Waldschmidt und Alexander Gall für Kritik und konstruktive Anregungen. in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit und Pro- ❙1 Vgl. Paul K. Longmore/Lauri Umansky, Disabili- duktivität einer Person verstanden.❙2 So auch ty History: From the Margins to the Mainstream, in: in einer Definition des Bundesinnenministe- dies. (eds.), The New Disability History: American riums aus dem Jahr 1958: „Als behindert gilt Perspectives, New York-London 2001, S. 1–29. ein Mensch, der entweder aufgrund angebo- ❙2 Vgl. zur Basis der folgenden Synthese mit weiteren rener Missbildung bzw. Beschädigung oder Nachweisen Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisie- rung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der durch Verletzung oder Krankheit (…) eine Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009. angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann. ❙3 Bundesministerium des Innern (BMI) Abt. Va1, Er ist mehr oder minder leistungsgestört Schreiben an Abt. Va2, 12. 8. 1958, Bundesarchiv (lebensuntüchtig).“❙3 (BArch) B 106 8414. 6 APuZ 23/2010
  • 7. versicherung auch erstmals sozialgesetzlich ihre Beschädigung oft mit einem heroischen verankert. Auch die zumeist konfessionellen Aufopferungstopos, der sich schlecht mit Einrichtungen der sogenannten Krüppelfür- der ihnen bisweilen unterstellten Hilflosig- sorge begannen um 1900, ihre traditionellen keit verbinden ließ. Sie seien keine „armseli- Kernaufgaben der Seelsorge, Erziehung und gen Kreaturen“, protestierte ein Redner des Dauerpflege von Kindern und Jugendlichen Verbands der Kriegsbeschädigten, Kriegs- mit Behinderungen um medizinische Thera- hinterbliebenen und Sozialrentner Deutsch- pie und berufsvorbereitende Maßnahmen zu lands e. V. (VdK) im Jahr 1963. Das Leben ergänzen. Im Ersten Weltkrieg schließlich sei sehr wohl lebenswert, und mit einer Be- hielt das Rehabilitationsparadigma aufgrund hinderung könne man sich durchaus aussöh- des Massenphänomens der Kriegsbeschädi- nen. ❙4 Um jedoch Ansprüche vor den Sozi- gung auch im staatlichen Versorgungswesen alleistungsträgern geltend zu machen und Einzug. Somit war lange vor 1949 das Prin- Nachteilsausgleiche zu erlangen, mussten zip Rehabilitation in den drei Säulen des so- sich behinderte Menschen immer wieder genannten Gegliederten Systems deutscher der Legitimationskette „behindert – arm – Sozialstaatlichkeit – Fürsorge, Sozialversi- hilfsbedürftig“ bedienen. Beschränkungen cherung und Versorgungswesen – zumindest und „Störungen“ mussten in individuellen vorgezeichnet. Gutachter- und Bemessungsverfahren, aber auch von den Interessenorganisationen im- mer wieder betont werden. Somit trugen die Sozialleistungspolitik und Betroffenen zwangsläufig dazu bei, das defi- Erwerbsarbeitsparadigma zitorientierte Denken über Behinderung zu reproduzieren. Den konzeptionellen Kern der bundesdeut- schen Behindertenpolitik bildeten weiterhin Den Agenturen der sozialen Sicherung medizinisches Defizitmodell, Normalisie- schien das soziale „Problem“ Behinderung rungsziel und Rehabilitationsparadigma. Be- durch funktionale Normalisierung über- hindertenpolitik blieb zunächst eine Politik windbar, wenn nur ausreichende Sozial- der sozialen Sicherung. Bis zur Gleichstel- leistungen entwickelt, Therapie- und Um- lungspolitik war es ein sehr weiter Weg. Un- schulungsinfrastrukturen geschaffen und ter Rehabilitation verstanden Expertenschaft, technische Hilfsmittel zur Verfügung ge- Politik und Verwaltung zunächst eine funk- stellt wurden. An der Grundgesamtheit der tionale „Wiederherstellung“ durch medizi- sozialstaatlichen Hilfen fällt dreierlei beson- nische Eingriffe einschließlich der Prothe- ders auf: Behindertenpolitik und Rehabili- tik sowie die Befähigung zur Erwerbsarbeit tation waren erstens auf einen Idealklienten in beruflichen Rehabilitationseinrichtungen. hin zugeschnitten: den erwachsenen Mann, Erwerbsarbeit als ideales Kompensations- der bereits einmal erwerbstätig gewesen war und Eingliederungsinstrument sollte behin- und mit einer körperlichen Behinderung leb- derten Menschen helfen, über ihr „Schicksal“ te. Erst im Lauf der 1960er und 1970er Jahre hinwegzukommen. Behinderung wurde mit „entdeckten“ Expertenschaft und Politik Be- Leid gleichgesetzt, das kaum Raum für ein hinderungen anderer Art und Ursache. Men- erfülltes Leben zu lassen schien, wenn nicht schen mit intellektuellen und seelischen Be- zumindest die Möglichkeit zur produktiven einträchtigungen beispielsweise rückten sehr Tätigkeit bestand. langsam ins Bewusstsein der Akteure. Je wei- ter dieser Prozess fortschritt, desto mehr Be- Menschen, die selbst mit Behinderungen hinderungen wurden jedoch „produziert“. lebten, konnten in den öffentlichen und po- Im Zuge des Ausbaus des Sonderschulwesens litischen Arenen kaum Einfluss auf diese wurde beispielsweise die Kategorie „lernbe- Fremdzuschreibungen nehmen. Dies galt hindert“ erst entwickelt. selbst für die Organisationen der Kriegs- beschädigten, die in den 1950er und 1960er Zweitens wurden angesichts der wirt- Jahren eine vergleichsweise stimmkräftige schaftlichen Erholung seit dem letzten Drit- und lobbystarke Gruppe unter den behin- derten Menschen darstellten. Viele litten da- ❙4 Vgl. 1. Ohnhändertagung des VdK am 9. 2. 1963 in runter, dass ihr Leben als kaum lebenswert Düsseldorf, Rede v. Ludwig Hönle, NRWHStA BR bezeichnet wurde. Zudem verknüpften sie 1134 594. APuZ 23/2010 7
  • 8. tel der 1950er Jahre und des expandierenden erster Bundeskanzler in einer Regierungser- Sozialstaats gerade die Hilfen bei Behin- klärung die Situation von behinderten Men- derung, ihre Infrastrukturen und Klientel- schen explizit an. Die sozialdemokratischen kreise, Aktionsradien und Maßnahmenka- Schlagworte „Demokratisierung“, „Lebens- taloge systematisch erweitert. Dort, wo der qualität“ und „Humanisierung“ sollten die Rehabilitationsgedanke noch nicht vorgese- Behindertenpolitik in Konzeption und Um- hen war, wurde er gesetzlich verankert, so setzung prägen. Gelang es, Menschen mit Be- etwa 1959 in der Rentenversicherung und hinderungen ein gleichberechtigtes Leben in 1974 in der Krankenversicherung. Der be- der Gemeinschaft zu erschließen, hatte sich reits 1957 eingeführte Rehabilitationsauftrag die demokratische Gesellschaft an ihnen be- der Bundesanstalt für Arbeit (bis 1969 Bun- wiesen: „Die Qualität des Lebens für die desanstalt für Arbeitsvermittlung und Ar- Behinderten in unserer Gesellschaft ist ein beitslosenversicherung) wurde 1969 durch Spiegel der Qualität der Gesellschaft“,❙6 ver- das Arbeitsförderungsgesetz erweitert und kündete 1974 Bundesarbeitsminister Walter machte die Bundesanstalt zu einem der wich- Arendt (SPD). Insbesondere über das Sozial- tigsten Rehabilitationsträger. Die Aufnahme leistungsrecht sollte „Chancengleichheit“, von Studierenden, Schülern und Kindergar- ein weiteres Schlagwort der Koalition, her- tenkindern in den Geltungsbereich der Un- gestellt werden. Da die skizzierten Ungleich- fallversicherung 1970 verdeutlicht die Aus- heitslagen mit diesem Anspruch nicht mehr weitung der Adressatenkreise. vereinbar waren, wurde 1974 mit einem Re- formpaket, dessen Kern das Rehabilitations- Drittens: Das sogenannte Gegliederte Sys- angleichungsgesetz bildete, der Versuch un- tem betraf alle sozialstaatlichen Hilfen bei ternommen, die finale Betrachtungsweise Behinderung. Es umfasste die Leistungs- gesetzlich zu verankern. Die sozialen Un- bereiche Sozialversicherung, Versorgungs- gleichheiten wurden zumindest ansatzwei- wesen und öffentliche Fürsorge/Sozialhilfe. se begradigt, das Gegliederte System selbst Diese hatten jeweils unterschiedliche gesetz- blieb unangetastet. liche Grundlagen, Kompetenzen, finanzielle und infrastrukturelle Möglichkeiten. Behin- Reformbedürftig erschien auch die behin- derte Menschen wurden ihnen je nach Ursa- dertenpolitische Beschränkung auf Wieder- che der Behinderung und ihrem Erwerbssta- herstellung und Eingliederung in den Ar- tus zugeordnet. Diese als Kausales Prinzip beitsmarkt. Immer mehr Vertreterinnen und bezeichnete Vorgehensweise erwies sich in Vertreter der Ministerialbürokratie, Politik der Praxis als problematisch: Das System war und der Expertenschaft forderten nun bei- unübersichtlich, Umfang und Qualität der spielsweise den Abbau von Hindernissen Sozialleistungen divergierten. Erhebliche in der gebauten Umwelt als eigenes Aufga- soziale Ungleichheiten waren die Folge. Ab bengebiet der Rehabilitation. Behinderten- Mitte der 1960er Jahre schlugen deshalb Kri- politik sollte nicht mehr nur am Individu- tiker vor, die Hilfen bei Behinderung am so- um, sondern gezielt an der Gesellschaft und genannten Finalen Prinzip auszurichten: Im ihren Bedingungen ansetzen. Zwar wur- Mittelpunkt sollte das jeweilige Rehabilita- de das eigentliche Problem weiterhin in den tionsziel stehen, Behinderungsursache und „nicht normalen“ Körpern verortet, die Lö- Erwerbsstatus hingegen sollten keinen Un- sung schien nun jedoch darin zu bestehen, terschied mehr machen. die Umwelt umzugestalten. Bislang hatte die Ansicht geherrscht, dass manche Menschen Die seit 1969 amtierende sozialliberale aufgrund ihres „Andersseins“ naturgemäß Bundesregierung setzte hier einen Reform- an den „normalen“ Bedingungen der Umwelt prozess in Gang. Sie war mit großen Zie- scheitern mussten. Demgegenüber klang nun len an die Behindertenpolitik herangetreten, in den 1970er Jahren – oftmals in gedankli- hatte ein „Jahrzehnt der Rehabilitation“ an- gekündigt.❙5 Willy Brandt (SPD) sprach als ❙6 Walter Arendt, Wege zur Chancengleichheit der Behinderten, in: Kurt-Alphons Jochheim u. a. ❙5 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozial- (Hrsg.), Wege zur Chancengleichheit der Behinder- ordnung (BMA) Walter Arendt, Rede zur Gründung ten. Bericht über den 25. Kongress der DeVg e. V. des Vereins Haus der Behinderten Bonn e. V., Manu- in Bad Wiessee, 10.–12. 10. 1973, Heidelberg 1974, skript, 29. 10. 1973, BArch B 189 28091. S. 11–21, hier S. 20. 8 APuZ 23/2010
  • 9. cher Verbindung zur Stadtkritik – vor allem nister Arendt und anderen gerieten um 1970 in der Expertenschaft Kritik an dem an, was Menschen mit Behinderungen zu „behinder- in der Gesellschaft als „normal“ galt. All- ten Mit-Bürgern“.❙8 Zwar lässt sich einwen- tägliche urbane Mobilitäts- und Flexibili- den, dass das „Mit-“ letztlich eine Teilqua- tätsanforderungen wurden beispielsweise lifikation beinhaltet, jedoch markierte der dafür kritisiert, dass sie weitgehend auf die Begriff durchaus eine Aufwertung. Erst- begrenzte Gruppe von Menschen hin ausge- mals wurden Menschen mit Behinderungen richtet seien, die beweglich, motorisiert und als Bürger – nie als Bürgerinnen – angespro- finanziell gut gestellt seien. Die Bundesregie- chen. Bürger oder Bürgerin zu sein steht für rung wollte Diversitätsfolgen kompensieren, Mündigkeit und konstituiert sich in Rechten indem sie den Hindernisabbau ideell und und Pflichten, unter anderem in denen von materiell förderte. Aufgrund beschränkter Steuerzahlerin nen und Steuerzahlern, Wäh- Kompetenzspielräume konzentrierte sie sich lerinnen und Wählern. Zuvor waren behin- vor allem darauf, zwei DIN-Normen❙7 zum derte Menschen vorrangig als Empfängerin- hindernisfreien Bauen zu initiieren. Hinder- nen und Empfänger von Hilfen betrachtet nisabbau und „behindertengerechtes“ Bauen worden. Bürger dagegen konsumieren und blieben dabei mit Rehabilitation und funk- partizipieren. Der Begriff markiert einen tionaler Anpassung verknüpft. Behinderung Öffnungs- und Umdenkprozess und zeigt, galt jedoch weiterhin als individuelles Pro- dass behinderten Menschen – vor allem Män- blem, das mit instrumenteller Hilfe gelöst nern – neue soziale Orte in der Gesellschaft werden konnte und musste. Integration wur- zugedacht wurden. de als Bemühung verstanden, Menschen in die Gesellschaft hereinzuholen, der sie bis- Feststellen lässt sich zudem, dass Spre- her scheinbar fern standen. cherpositionen im politischen Diskurs neu verteilt wurden. Wenngleich noch immer nicht behinderte Funktionäre und Funkti- Anfänge des kategorialen Wandels onärinnen das Feld dominierten, begannen in den 1970er Jahren allmählich Menschen, die mit Behinderun- gen lebten, für sich selbst zu sprechen. Über Dennoch – und trotz aller Divergenzen zwi- unterschiedlichste Selbsthilfe- und Akti- schen Theorie und Praxis dieser Reformpha- onsbündnisse und die entstehende Eman- se – lässt sich der Beginn eines Politik- und zipationsbewegung steigerten sie ihre po- Denkwandels ausmachen. Impulse kamen litische Sichtbarkeit. Noch kaum jedoch aus dem in den 1960er Jahren einsetzenden erhielten sie Zugang zu den wissenschaftli- allgemeinen Wandel von Werten und der chen Diskussionsarenen: Behinderten Men- wachsenden politischen und sozialen Sen- schen, die dort auftraten, gehörten meist sibilisierung der Gesellschaft. Verschiedene selbst den Rehabilitationsprofessionen an gesellschaftliche Akteure, erstmals verstärkt und verfügten so bereits über den Status auch die Medien, stellten sich die Frage, wel- und die Glaubwürdigkeit von Experten. chen Platz und welche Rollen Menschen mit Als „Experten ihrer selbst“ erreichten be- Behinderungen in der Gesellschaft einneh- hinderte Menschen die wissenschaftlichen men sollten. Bisher schien dieser Platz qua Foren selten. Biologie und Schicksal vorgezeichnet zu sein. Nun wurde er verhandelbar. Bemerkbar Dennoch wurde im wissenschaftlichen Be- machte sich dies zum Beispiel in den Sprach- hinderungsdiskurs die hegemoniale Stellung regelungen der Politik: Bei Bundespräsident der Ärzte durchbrochen: Vor allem Sozialwis- Gustav Heinemann (SPD), Bundesarbeitsmi- senschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, die Behinderung als Forschungsgegenstand für sich entdeckten, schufen Gegengewich- ❙7 DIN 18025 Wohnungen für Schwerbehinderte, te zur individuell-medizinischen Erklärung Planungsgrundlagen, Bl. 1: Wohnungen für Roll- von Behinderung. Schritt für Schritt speis- stuhlbenutzer (1972), Bl. 2: Wohnungen für Blin- de und wesentlich Sehbehinderte (1974); DIN 18024 Bauliche Maßnahmen für Behinderte und alte Men- ❙8 Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Ap- schen im öffentlichen Bereich. Planungsgrundlagen, pell an Solidarität und Bürgermut, in: Bulletin des Bl. 1: Straßen, Plätze und Wege (1974), Bl. 2: Öffent- Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, lich zugängliche Gebäude (1976). 28. 12. 1971, S. 2090. APuZ 23/2010 9
  • 10. ten sie ein Moment der sozialen Bedingtheit Protest und Selbstbestimmung: in die Erklärungsmodelle von Behinderung ein.❙9 Über die Fachtagungen der Professi- Emanzipationsbestrebungen behinderter onsverbände und die bei den Ministerien an- Menschen seit den 1980er Jahren gesiedelten Expertengremien beispielswei- se gelangten diese veränderten Sichtweisen Bilder von unterdrückten und bevormun- in den politischen Raum. Gesellschaftskriti- deten Opfern produzierte auch die seit dem sche Autoren beispielsweise beschrieben nun Ende der 1970er Jahre entstehende Emanzi- behindernde Umweltgestaltungen als augen- pationsbewegung.❙12 Am provokantesten ta- scheinliche Konsequenzen eines ausgren- ten dies die seit 1977 entstehenden „Krüppel- zenden Verhaltens der „Produktiven“ und gruppen“. Bewusst kämpferisch wählten sie „Normalen“. Auf der Basis der herrschafts- die provokante Selbstbezeichnung „Krüp- soziologischen These von der sozialen Diszi- pel“, um sich von den Integrations- und Nor- plinierung und Entmündigung des „betreu- malisierungserwartungen der Behinderten- ten Menschen“ durch seine Betreuer❙10 fragte politik zu befreien; sie forderten behinderte sich eine kritische Generation von in der Re- Menschen dazu auf, sich aus ihrem Opfer- habilitation tätigem Fachpersonal, ob sie das status zu befreien.❙13 Möglich schien dies nur Problem, das sie lösen wollte, nicht selbst ge- auf dem Weg der radikalen Konfrontation schaffen hatte.❙11 mit und der Abgrenzung von den vermeint- lich „Normalen“. Hingegen setzten die seit Doch fällt die Bilanz des Umdenkens am- 1968 vielerorts entstehenden Clubs Behin- bivalent aus. Erstens machte sich deutlich derter und ihrer Freunde e. V. auf Koopera- eine Kluft zwischen Theorie und Praxis be- tion und die Bündelung von Kräften, insbe- merkbar. Zweitens wurden Menschen, die sondere beim Abbau von Alltagsbarrieren auf mit Behinderungen lebten, wiederum ge- lokaler Ebene. Ähnlich orientierten sich Gus- danklich zu Opfern – nun der Gesellschaft – ti Steiner (1938–2004) und Ernst Klee (geb. degradiert. Sie waren erneut Gegenstand von 1942), der nicht mit einer Behinderung leb- Narrativen des Scheiterns und der Unter- te. Sie boten 1974 erstmals an der Volkshoch- drückung, allerdings mit dem Unterschied, schule Frankfurt/M. den Kurs „Bewältigung dass sie nun nicht mehr primär Schicksal der Umwelt“ an. Darin und in vielen weiteren und Biologie ausgeliefert zu sein schienen, Aktionen setzten sie auf Satire und Provoka- sondern der Brutalität und Ignoranz einer tion als Ausdrucks- und Aufklärungsmittel, Gesellschaft, die sich nicht nur in Ausgren- um mediale Aufmerksamkeit für Hindernis- zung und Diskriminierung, sondern auch in se zu schaffen, auf die vor allem Rollstuhl- Bevormundung und Abhängigkeit manifes- nutzerinnen und -nutzer täglich stießen. tierte. 1980 gelang es einer gemeinsamen Protest- veranstaltung von Krüppelgruppen, Clubs Behinderter und ihrer Freunde e. V. und ande- ❙9 Vgl. beispielsweise Walter Thimm, Soziologie ren Organisationen, größeres mediales Echo der Behinderten, Neuburgweiler 1972 3; Aiga Sey- hervorzurufen, ja mit ihrem Anliegen so- wald, Körperliche Behinderung. Grundfragen einer Soziologie der Benachteiligungen, Frankfurt/M.– gar die „Tagesschau“ der ARD zu erreichen: New York 1977; Gerd W. Jansen, Die Einstellung der Sie fanden sich in Frankfurt zusammen, um Gesellschaft zu Körperbehinderten. Eine psycholo- gegen das Urteil des dortigen Landgerichts gische Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen zu demonstrieren, das einer Urlauberin die aufgrund empirischer Untersuchungen, Neuburg- Minderung des Reisepreises mit der Begrün- weiler 19742; Wolfgang Jantzen, Sozialisation und dung zugestanden hatte, ihr Urlaubsgenuss Behinderung. Studien zu sozialwissenschaftlichen Grundfragen der Behindertenpädagogik, Gießen sei durch die Anwesenheit von behinder- 1974. ten Jugendlichen maßgeblich beeinträchtigt ❙10 Vgl. Helmut Schelsky, Die neuen Formen der Herrschaft: Belehrung, Betreuung, Beplanung, in: Hermann Glaser (Hrsg.), Fluchtpunkt Jahrhundert- ❙12 So u. a. Udo Sierck/Nati Radtke, Die WohlTÄ- wende. Ursprünge und Aspekte einer zukünftigen TER-Mafia. Vom Erbgesundheitsgericht zur Hu- Gesellschaft, Bonn 1979, S. 135–143. mangenetischen Beratung, Hamburg 1984. ❙11 Vgl. Andrea Buch u. a., An den Rand gedrängt. ❙13 Vgl. Krüppelgruppe Bremen, Krüppelunterdrü- Was Behinderte daran hindert, normal zu leben, ckung und Krüppelgegenwehr, in: Psychologie und Hamburg 1980, S. 12. Gesellschaftskritik, 4 (1980) 3, S. 4–8, hier S. 4, 6, 8. 10 APuZ 23/2010
  • 11. worden.❙14 Einen weiteren Höhepunkt erleb- gesetze auf Bundes- und Länderebene zu ver- te die Bewegung in den Protesten gegen das abschieden. 1994 wurde der Satz „Niemand International Year of Disabled Persons, das darf wegen seiner Behinderung benachtei- die UNO-Vollversammlung ausgerufen hatte ligt werden“ in Artikel 3 des Grundgesetzes und das auch in der Bundesrepublik began- aufgenommen. Behinderte Menschen sind gen wurde. Kritisiert wurde, dass behinderte seither explizit als Trägerinnen und Träger Menschen kaum an der Planung der Veran- von Grundrechten beschrieben. Damit die- staltungen beteiligt bzw. auf diesen wiederum ses Benachteiligungsverbot im Alltag Wir- zu passiven und dankbaren Hilfsempfängern kung zeigen konnte, bedurfte es gesetzlicher eines fürsorglichen Sozialwesens abgewertet Konkretisierungen. Eine Allianz zwischen wurden. Um dieser Kritik Ausdruck zu ver- Interessenverbänden und Aktion Sorgen- leihen, bildete sich die Aktionsgruppe gegen kind e. V. (heute Aktion Mensch e. V.) weckte das UNO-Jahr der Behinderten. Ihre öffent- 1997 mediale Aufmerksamkeit für das The- lichkeitswirksamen Aktionen gipfelten im ma und erreichte, dass die Verabschiedung „Krüppeltribunal“ in Dortmund.❙15 Das Tri- eines Behindertengleichstellungsgesetzes des bunal klagte Menschenrechtsverletzungen in Bundes 1998 in die Koalitionsvereinbarung Dauerpflegeeinrichtungen, Strukturen der einging. Das 2002 in Kraft getretene Gesetz Aussonderung und Mobilitätsbeschränkun- zur Gleichstellung von Menschen mit Behin- gen an und deckte als neues Thema die sexu- derungen gibt den Dienststellen des Bundes elle Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Rahmenbedingungen vor, die vor Benach- Behinderungen auf. teiligungen schützen sollen. Kernanliegen ist eine umfassend verstandene Barrierefrei- In der Folge des Protestjahres differen- heit, die sich nicht auf die Beseitigung bau- zierte sich die Emanzipationsbewegung aus. lich-technischer Barrieren beschränkt. Men- Auf lokaler Ebene engagierten sich viele im schen mit Behinderungen sollen vielmehr alle Abbau von Alltagshindernissen und ver- Lebensbereiche in allgemein üblicher Wei- schafften sich schrittweise Zugang zur Kom- se, ohne besondere Erschwernisse und ohne munalpolitik. Andere Gruppen kämpften, fremde Hilfe zugänglich gemacht werden. zunächst unter dem Dach der politischen Erstmals in der Geschichte der bundesdeut- Partei Die Grünen, später überparteilich, für schen Behindertenpolitik waren über das Fo- die Gleichstellungs- und Antidiskriminie- rum behinderter Juristinnen und Juristen rungsgesetzgebung und griffen aktiv in Eu- behinderte Menschen direkt und ohne die genik- und Bioethikdiskurse ein. Wichtige Vorschaltung von Verbänden in die für den Impulse gingen dabei vom 1990 in den USA Gesetzentwurf zuständige Arbeitsgruppe des verabschiedeten Antidiskriminierungsgesetz Bundesministeriums für Arbeit und Sozial- (Americans with Disabilities Act) und den ordnung integriert worden. Nötig war aber 1993 von der Generalversammlung der Ver- auch ein Antidiskriminierungsgesetz für den einten Nationen angenommenen Rahmenbe- zivilrechtlichen Geltungsbereich. Erst 2006 stimmungen über die Chancengleichheit für konnte das Allgemeine Gleichbehandlungs- Menschen mit Behinderungen aus. Letztere gesetz in Kraft treten. verpflichteten die Staaten, Diskriminierun- gen auf gesetzlichem Weg zu beseitigen und In dem skizzierten Ausdifferenzierungs- einen rechtlichen Rahmen für die Gleichstel- prozess seit den 1980er Jahren nahm, nach lung von Menschen mit Behinderungen zu angelsächsischem Vorbild, auch die Selbstbe- schaffen. stimmt-Leben-Bewegung ihren Ausgang. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der autonomen In der Bundesrepublik drängte der soge- Gestaltung von Leben und Wohnen bei weit- nannte Initiativkreis Gleichstellung Behin- gehender Unabhängigkeit von fremder Hil- derter erfolgreich darauf, das Grundgesetz fe bzw. auf der selbstbestimmten Wahl und entsprechend zu ändern und Gleichstellungs- Gestaltung der Hilfen.❙16 Das erste Zentrum für Selbstbestimmtes Leben entstand 1986 in Bremen. 1990 wurde die Interessenver- ❙14 Vgl. Carol Poore, Disability in Twentieth-Centu- ry German Culture, Ann Arbor 2007, S. 277 f. ❙15 Vgl. Susanne von Daniels u. a. (Hrsg.), Krüppel- ❙16 Vgl. Vereinigung Integrationsförderung e. V. Tribunal. Menschenrechtsverletzungen im Sozial- (Hrsg.), Behindert ist, wer Hilfe braucht – Integra- staat, Köln 1983, S. 9–10. tion – ein praktisches Problem, München 1981, S. 12. APuZ 23/2010 11
  • 12. tretung Selbstbestimmt Leben e. V. gegrün- senheit auf Technologien einhergeht und Be- det, um praxisorientierte Beratungsarbeit hinderung dadurch tendenziell weiterhin und politische Lobbyarbeit zu verbinden. Sie individualisiert, statt sie zu vergemeinschaf- hatte wesentlichen Anteil daran, dass sich in ten.❙18 Wenngleich der Anpassungsdruck an der Behindertenpolitik allmählich eine neue funktionale Normalitätserwartungen und Sichtweise auf den Abbau von Hindernissen präskriptive Normen gesunken sein mag, lau- etablierte. Das Konzept der Barrierefreiheit tet das behindertenpolitische Ideal weiterhin, löste im Lauf der 1990er Jahre allmählich die „normal“ zu leben. In der Umsetzung ge- ältere Vorstellung ab, nach der durch „behin- wannen viele behinderte Menschen an Hand- dertengerechtes“ Planen und Bauen Sonder- lungs- und Teilhabeoptionen, jedoch lässt das maßnahmen geschaffen werden mussten, um Normalitätsideal die Einsicht vermissen, dass eine als nicht „normal“ empfundene Gruppe Leben nicht „normal“ sein muss❙19 und dass in die Welt der „Normalen“ zu integrieren. gerade die Umwelt offen für die Pluralität Nun lautete die neue Lesart, dass Barrieren von Zugangs- und Nutzungswegen und eine in der gebauten Umwelt Menschen mit Be- Vielfalt von Aneignungsmöglichkeiten ge- hinderungen, aber auch viele andere in ihrer staltet werden kann. Nicht „Andersheit“ ist Selbstständigkeit und -bestimmtheit, gesell- das Problem, sondern Benachteiligung. schaftlichen Partizipation und Bewegungs- freiheit einschränkten und daher abgeschafft werden sollten. Schlussbemerkungen Mit derlei Fragen beschäftigt sich gegenwär- Inklusion und Normalitätserwartungen tig Disability History. Sie ist Teil des eman- seit den 1990er Jahren zipatorischen Projekts der Disability Studies. Im Gegensatz zur „klassischen“ Behinde- Inklusion ersetzte als Ziel und Methode nun rungsforschung in Medizin oder Rehabilitati- zunehmend Integration: Statt Menschen einer onswissenschaft haben die Disability Studies Gesellschaft zuzuführen, der sie vermeint- keine interventionistische oder praxisorien- lich nicht angehören, bedeutet Inklusion, tierte Motivation. Sie wollen vielmehr tradi- eine von Geburt an bestehende Zugehörig- tionelle Sicht- und Denkweisen über Men- keit aufrecht zu erhalten. An die Stelle von schen mit Behinderungen überwinden. Defizitorientierung sollte die Förderung Einerseits soll eine Forschungscommunity von Fähigkeiten rücken. Propagiert wurde von Menschen mit Behinderungen entstehen, ein Normalisierungsverständnis, demzufol- andererseits sollen die Sozial-, Kultur- und ge die Lebens-, Wohn- und Konsumformen Geisteswissenschaften für eine konstrukti- in der Gesellschaft so zu verändern sind, dass vistische Sicht auf Behinderung interessiert sie Menschen mit und ohne Behinderungen werden. Aus kulturalistischer Perspektive gleichermaßen in Anspruch nehmen können. lassen sich – unter anderem am Beispiel der Barrierefreie Technologien galten nun als Behindertenpolitik – die hinter Behinderung Garanten von Unabhängigkeit und Selbstbe- stehenden Prozesse der Benennung und Ka- stimmung. Dahinter verbarg sich die Vorstel- tegorisierung und ihre soziokulturellen Wur- lung, dass die Umwelt durch technische Maß- zeln aufzeigen. nahmen universell zugänglich und nutzbar gemacht werden könnte. Gelänge dies, gäbe es, so die Erwartung, keine Benachteiligun- gen mehr, weil behinderte Menschen nicht ❙18 Vgl. Sally French, What’s so great about indepen- mehr ausgeschlossen oder auf diskriminie- dence?, in: John Swain u. a. (eds.), Disabling Barriers rende Weise auf Sondernutzungen und Son- – Enabling Environments, London-Newbury Park- derwege verwiesen würden.❙17 New Delhi 1993, S. 44–48. ❙19 Vgl. Anne Waldschmidt, Ist Behindertsein nor- Selten wurde dabei darauf aufmerksam ge- mal? Behinderung als flexibelnormalistisches Dis- macht, dass dies mit einer neuen Angewie- positiv, in: Günther Cloerkes (Hrsg.), Wie man be- hindert wird. Texte zur Konstruktion einer sozialen Rolle und zur Lebenssituation betroffener Menschen, ❙17 Vgl. z. B. Europäisches Institut Design für Alle in Heidelberg 2003, S. 83–101, hier S. 98. Deutschland, European Concept für Accessibility/ ECA für Verwaltungen, Berlin 2008. 12 APuZ 23/2010
  • 13. Valentin Aichele tionen, Medienberichten und fachpolitischen Stellungnahmen breit diskutiert.❙5 Behinderung und Entstehungsgeschichte Menschenrechte: Die Konvention ist im Rahmen der Verein- Die UN-Konvention ten Nationen entwickelt worden.❙6 Nach Abschluss der nur vier Jahre dauernden in- über die Rechte ternationalen Vorbereitung nahm die Gene- ralversammlung der Vereinten Nationen die von Menschen Konvention im Dezember 2006 an. Internati- onal ist sie bereits seit 2007 als völkerrechtli- ches Vertragswerk in Kraft. Ihr erfolgreicher mit Behinderungen Entstehungsprozess erklärt sich durch die aktive Mitwirkung von Menschen mit Be- hinderungen und ihren Verbänden, die ihre D ie UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN- BRK), seit dem 26. März 2009 in Kraft, ist ❙1 Siehe das Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. 12. 2006 über die Rech- te von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem in Deutschland ange- Fakultativprotokoll vom 13. 12. 2006 zum Überein- Valentin Aichele kommen.❙1 Ihre Bedeu- kommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, BGBl. 2008 II, Dr. iur., geb. 1970; Leiter der tung für die Lebenssi- S. 1419 ff. Monitoring-Stelle zur UN- tuation von Menschen ❙2 Vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und Behindertenrechtskonvention, mit Behinderungen ist FDP für die 17. Legislaturperiode vom 11. 11. 2009 Deutsches Institut für kaum zu überschät- „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“, S. 83/132. Menschenrechte, Zimmer- zen. Die Konvention ❙3 Vgl. die Pressemitteilung des Beauftragten der straße 26/27, 10969 Berlin. steht zu Recht für ei- Bundesregierung für die Belange behinderter Men- schen vom 25. 3. 2010: „Neuer Behindertenbeauf- aichele@ nen Wechsel von einer tragter zeigt Schwerpunkte seiner Arbeit beim ersten institut-fuer-menschenrechte.de Politik der Fürsorge Jahresempfang auf“. hin zu einer Politik ❙4 Vgl. die Pressemitteilung des Bundesministeriums der Rechte. Sie ist der neue Rechtsrahmen für für Arbeit und Soziales vom 22. 4. 2010: „Umsetzung die Behindertenpolitik in Deutschland und der Behindertenrechtskonvention. BMAS setzt auf breite Beteiligung“; in Rheinland-Pfalz liegt bereits erhebt die Rechte von Menschen mit Behin- ein Aktionsplan vor. In anderen Bundesländern sind derungen zur Grundlage und zum Maßstab von den Landtagen Beschlüsse gefasst worden, Maß- politischen Handelns. In Bezug auf viele Po- nahmenpläne zu entwickeln, so etwa in Bayern, Hes- litikfelder macht die UN-BRK konkrete Vor- sen und Thüringen. gaben, die bereits heute für eine Umsetzung ❙5 Vgl. u. a. Die Beauftragte der Bundesregierung eine klare Handlungsorientierung bieten. für die Belange behinderter Menschen (Hrsg.), alle inklusive! Die neue UN-Konvention … und ihre Handlungsaufträge. Ergebnisse der Kampagne alle Der Zuspruch, den dieses Übereinkom- inklusive!, Berlin 2009; Bezüge zur UN-Behinder- men erfährt, ist enorm. Zahlreiche Stimmen tenrechtskonvention weisen die Stellungnahmen der aus Staat und Gesellschaft beziehen sich auf Sachverständigen auf, siehe Deutscher Bundestag/ sie. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundes- Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdruck- regierung bekräftigt sie als Maßstab für je- sache 17(11)128 vom 27. 4. 2010. ❙6 Zur Entstehungshintergrund siehe Don MacKay, des staatliche Handeln.❙2 Der Beauftragte der The United Nations Convention on the Rights of Per- Bundesregierung für die Belange behinderter sons with Disabilities, in: Syracuse Journal of Inter- Menschen hat die Konvention zum Schwer- national Law and Commerce, 34 (2007) 2, S. 323–331; punkt seiner Amtszeit erklärt.❙3 Die Bundes- Antje Welke, Das Internationale Übereinkommen regierung und einige Bundesländer arbeiten über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, an Aktionsplänen zur Umsetzung ihrer Vor- in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, (2007) 1, S. 60–72; Theresia Degener, Men- gaben.❙4 Die erforderlichen Veränderungen schenrechtsschutz für behinderte Menschen: Vom und Konsequenzen, die aus der Konvention Entstehen einer neuen Menschenrechtskonventi- abgeleitet werden können, werden in unzäh- on der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen, ligen öffentlichen Veranstaltungen, Publika- (2006) 2, S. 104–110. APuZ 23/2010 13
  • 14. Erfahrungen und Perspektiven einbringen Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie er- konnten.❙7 Die seither wachsende internatio- kennt eine Behinderung dort, wo die Wech- nale Anerkennung der UN-BRK übersteigt selwirkung zwischen einer Beeinträchtigung gerade in Anbetracht der hohen Anforde- und einer gesellschaftlichen Barriere dazu rungen, die sie an ihre innerstaatliche Umset- führt, dass Menschen mit Behinderungen an zung stellt, alle Erwartungen. So haben sich der vollen, wirksamen und gleichberechtig- bereits 85 Staaten an die Konvention gebun- ten Teilhabe an der Gesellschaft gehindert den (Stand: Mai 2010). Mehr als 50 Staaten werden (siehe Art. 1 Unterabs. 2 UN-BRK). haben das Beschwerdeverfahren nach dem Die Konvention verlagert damit das Problem Fakultativprotokoll akzeptiert. Die Zahl der „Behinderung“ von der individuellen Sphä- Vorbehalte bleibt erfreulich gering.❙8 re zu den Bereichen der gesellschaftlichen Strukturen und unseres Denkens. Ziel der Konvention Die Rechte Menschen mit Behinderungen sollen von den Menschenrechten Gebrauch machen können, Spektrum der verankerten Rechte: Die Kon- und zwar gleichberechtigt mit anderen, das vention deckt das gesamte Spektrum men- heißt in gleichem Maße wie nichtbehinder- schenrechtlich geschützter Lebensbereiche te Menschen (Art. 1 Unterabs. 1 UN-BRK). ab. Dem Grundsatz der Unteilbarkeit ver- Dieses ausdrücklich erklärte Ziel der Kon- pflichtet, integriert sie wie kein Überein- vention fußt auf der Erkenntnis, dass Men- kommen vor ihr bürgerliche und politische schen wegen einer Beeinträchtigung stärker Rechte sowie wirtschaftliche, soziale und in der Wahrnehmung ihrer Rechte einge- kulturelle Rechte. Die Konvention listet die schränkt sein können als Menschen ohne Be- Rechte der Menschen mit Behinderungen im hinderungen. Einzelnen auf. Verständnis von Behinderung Die Konven- Dazu gehören das Recht auf Leben tion nimmt sehr vielfältige Lebenssituationen (Art. 10), das Recht auf gleiche Anerkennung in den Blick. Sie fokussiert die Lebenslagen vor dem Recht und Schutz der Rechts- und der Menschen, die langfristige körperliche, Handlungsfähigkeit (Art. 12), das Recht auf seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchti- Zugang zur Justiz (Art. 13), das Recht auf gungen haben (vgl. Art. 1 Unterabs. 2 UN- Freiheit und Sicherheit (Art. 14), Freiheit von BRK). Dazu gehören nicht nur Menschen, Folter (Art. 15), Freiheit vor Ausbeutung, die herkömmlich mit einer „Behinderung“ Gewalt und Missbrauch (Art. 16), das Recht assoziiert werden, wie etwa Menschen mit auf körperliche und seelische Unversehrtheit körperlichen Einschränkungen, blinde oder (Art. 17), Freizügigkeit (Art. 18), das Recht gehörlose Menschen, sondern auch Men- auf Staatsangehörigkeit (Art. 18), das Recht schen mit einer sogenannten geistigen Be- auf unabhängige Lebensführung und Ein- hinderung, Menschen mit seelischen Schwie- beziehung in die Gesellschaft (Art. 19), das rigkeiten oder psychischen Erkrankungen, Recht auf persönliche Mobilität (Art. 20), das Menschen mit Autismus oder auch pflegebe- Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 21), dürftige alte Menschen. das Recht auf Zugang zu Informationen (Art. 21), Achtung der Privatsphäre (Art. 22), Als „Behinderung“ versteht die Konventi- Achtung der Wohnung (Art. 23), Familie on die strukturell bedingte und im Vergleich und Familiengründung (Art. 23), das Recht zu nichtbehinderten Menschen größere Ein- auf Bildung (Art. 24) und auf Gesundheit schränkung der individuellen Rechte von (Art. 25), das Recht auf Arbeit und Beschäfti- gung (Art. 27), das Recht auf einen angemes- ❙7 Vgl. Jochen von Bernstorff, Menschenrechte und senen Lebensstandard (Art. 28), Teilhabe am Betroffenenrepräsentation: Entstehung und Inhalt politischen und öffentlichen Leben (Art. 29), eines UN-Antidiskriminierungsübereinkommens Teilhabe am kulturellen Leben sowie auf Er- über die Rechte von behinderten Menschen, in: Zeit- holung, Freizeit und Sport (Art. 30). schrift für ausländisches öffentliches Recht und Völ- kerrecht, 67 (2007) 4, S. 1041–1063. ❙8 Vgl. zum aktuellen Ratifikationsstand oder Vorbe- Konkretisierung bestehender Menschen- halten online: http://treaties.un.org (1. 5. 2010). rechte: Es handelt sich bei den „Rechten 14 APuZ 23/2010
  • 15. von Menschen mit Behinderungen“ gemäß zen.❙12 Wesentlich sind Wortlaut, Systematik der Konvention um ein und dieselben Rech- und Ziel der Konvention. In die Sinndeutung te, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der der Rechte einzubeziehen sind auch die soge- Menschenrechte von 1948, dem Internatio- nannten Allgemeinen Bemerkungen der UN- nalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und Fachausschüsse.❙13 Auch die Grundsätze, kulturelle Rechte von 1966 und dem Inter- welche die Konvention bestimmt, etwa der nationalen Pakt über bürgerliche und politi- Grundsatz der sozialen Inklusion, assistier- sche Rechte von 1966 niedergelegt sind. Sie te Selbstbestimmung oder die Gleichheit von ist keine Spezialkonvention, die Sonderrech- Frau und Mann, sind ebenfalls für die Ausle- te oder Privilegien für Menschen mit Behin- gung der einzelnen Rechte von großer Wich- derungen formuliert. Die Leistung und der tigkeit (siehe dazu Art. 3 UN-BRK). Ihre Gewinn der Konvention sind darin zu er- Ziele verstärken die Ausrichtung der einzel- kennen, dass sie die universellen Rechte aus nen Rechte und erlauben, eine entsprechende der Perspektive von Menschen mit Behin- Auslegung zu begründen. derungen präzisiert und im selben Zuge die staatlichen Verpflichtungen für ihren Schutz Zum Beispiel: Das Recht auf inklusive Bil- konkretisiert.❙9 dung. Die Konkretisierungsleistung der Kon- vention sei hier anhand des Rechts auf inklu- Zum Beispiel haben die Staaten der Ver- sive Bildung im Sinne von Art. 24 UN-BRK einten Nationen im Bereich des Diskrimi- kurz dargestellt. Das Recht auf Bildung als nierungsschutzes seit Gründungszeiten Ver- Menschenrecht ist bereits in der Allgemeinen bote, etwa in Bezug auf Geschlecht, Sprache Erklärung der Menschenrechte und im UN- und Religion angenommen.❙10 „Behinderung“ Pakt über wirtschaftliche, soziale und kultu- jedoch war weder in der Allgemeinen Erklä- relle Menschenrechte anerkannt worden.❙14 rung der Menschenrechte von 1948 noch in 1999 hat der UN-Fachausschuss für die wirt- den beiden Pakten von 1966 ausdrücklich schaftlichen, sozialen und kulturellen Rech- als Verbotsmerkmal anerkannt worden. Die te den Inhalt und die damit verbundene Ver- menschenrechtliche Relevanz des Phäno- pflichtungsstruktur des Rechts auf Bildung mens Behinderung wurde damals schlicht- dargelegt. Dieser Kommentar ist auch für weg verkannt. Aufgrund ihrer präg nanten das Verständnis von Art. 24 UN-BRK lei- Ausgestaltung stellt die UN-BRK nunmehr tend.❙15 Danach steht das Recht auf Bildung ausdrücklich klar, dass auch „Behinderung“ für eine individuelle Rechtsposition. Sie ge- zu den Lebenslagen gehört, die in den Be- währleistet jedem Menschen altersunabhän- reich des Diskriminierungsschutzes fallen. gig die Freiheit auf lebenslanges Lernen.❙16 Die Konvention konkretisiert damit das be- Es gilt als wichtiges Mittel für die Verwirk- stehende menschenrechtliche Diskriminie- lichung anderer Menschenrechte. Mit dem rungsverbot. ❙12 Siehe hierzu Meinhard Hilf, Die Auslegung mehr- Das bedeutet auch, dass die Bestimmun- sprachiger Verträge. Eine Untersuchung zum Völ- gen der Konvention unter Anwendung be- kerrecht und zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1973, S. 187 ff., S. 191 f. stimmter Methoden und Quellen ausgelegt ❙13 Vgl. Philip Alston, The historical origins of the werden können und sollen, will man ihren concept of „general comments“ in human rights law, Inhalt sinnvoll erschließen. Eine fachgerech- in: Liber Amicorum Georges Abi-Saab, Den Haag te Auslegung muss sich etwa der Interpreta- 2001, S. 763–776. tionsstandards der Wiener Vertragsrechts- ❙14 Vgl. Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Men- konvention bedienen❙11 und immer an den schenrechte, Art. 13 des UN-Paktes über wirtschaft- liche, soziale und kulturelle Rechte und Art. 28 authentischen Sprachfassungen – zu denen und 29 des Übereinkommens über die Rechte des die deutsche Fassung nicht gehört – anset- Kindes. ❙15 Vgl. UN-Ausschuss für wirtschaftliche, sozia- ❙9 Vgl. Valentin Aichele, Die UN-Behindertenrechts- le und kulturelle Rechte, Allgemeine Bemerkung, konvention und ihr Zusatzprotokoll. Ein Beitrag zur Nr. 13, UN Doc. E/C.12/1999/10 vom 8. 12. 1999; Ratifikationsdebatte, Berlin 2008, S. 5. vgl. in deutscher Übersetzung Deutsches Institut für ❙10 Vgl. Art. 1 Nr. 3 Charta der Vereinten Nationen Menschenrechte (Hrsg.), Die „General Comments“ zu von 1945. den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Über- ❙11 Vgl. Art. 31–33 der Wiener Übereinkommen setzung und Kurzeinführung, Baden-Baden 2005, über das Recht der Verträge von 1969, BGBl. 1985 II, S. 263–284. S. 926. ❙16 Vgl. UN Doc. (Anm. 15), Ziffer 4. APuZ 23/2010 15
  • 16. Recht verbinden sich staatliche Verpflichtun- Grundsätze und Querschnittsaufgaben gen auf verschiedenen Ebenen (Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungsverpflichtun- Die UN-BRK formuliert zu den einzelnen gen).❙17 Die Verpflichtungen beziehen sich auf Rechten übergreifende, grundlegende Anlie- Fragen der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, gen, die in Bezug auf die Verwirklichung na- Angemessenheit und Adaptierbarkeit von hezu aller Rechte von Menschen mit Behin- Bildungseinrichtungen und Diensten im Be- derungen von wesentlicher Bedeutung sind. reich Bildung.❙18 Das ist nicht nur von theoretischer Bedeu- tung, sondern hat praktische Konsequenzen: Geleitet vom Grundsatz der Inklusion, Während sich etwa in der Vergangenheit Be- entwickelt die Konvention das Recht auf Bil- hindertenpolitik auf sozialpolitische Fragen dung zu einem Recht auf inklusive Bildung konzentriert hat, unterstreicht die Konven- fort.❙19 Behinderte und nichtbehinderte Men- tion, dass Behinderung in allen Politikberei- schen haben demnach ein Recht darauf, ge- chen relevant sein kann. meinsam zu lernen. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen haben das Recht auf ei- Diskriminierungsschutz: Relevant für alle nen diskriminierungsfreien Zugang zu ei- Rechte in der Konvention ist der menschen- ner ortsnahen Regelschule.❙20 Die mit dem rechtliche Diskriminierungsschutz (siehe dazu Recht auf Bildung verbundenen Ziele sind die Art. 2, 3 und 5 UN-BRK). Das Nichtdis- durch die UN-Konvention ebenfalls präzi- kriminierungsprinzip dient dazu, den gleich- siert worden, etwa dass Bildung die Achtung berechtigten Gebrauch der Freiheit von Men- vor der menschlichen Vielfalt stärken soll.❙21 schen mit Behinderungen abzusichern. Die Außerdem konkretisiert die Konvention die Konvention verbietet gleichermaßen direk- staatlichen Verpflichtungen, indem sie dar- te und indirekte Diskriminierung. Besondere legt, wie das Bildungswesen in Bezug auf Bestimmungen zum Schutz vor Diskriminie- die Bereiche Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, rung enthält sie in Bezug auf Frauen und Mäd- Angemessenheit und Adaptierbarkeit weiter chen (Art. 6 UN-BRK). ausgestaltet werden soll.❙22 Die Konvention etabliert in diesem Zuge auch die staatliche Als innovatives Element des Diskriminie- Verpflichtung, schrittweise ein „inklusives rungsschutzes führt die UN-BRK das Kon- Bildungssystem“ (inclusive education system) zept der angemessenen Vorkehrungen ein aufzubauen und zu unterhalten, weil sie da- (Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK). Darunter sind von ausgeht, dass das Recht auf Bildung nur die individuell erforderlichen Anpassungen in einem inklusiven System gewährleistet von Gegebenheiten zu verstehen, die gewähr- werden kann.❙23 leisten, dass Menschen mit Behinderungen ihr Recht gleichberechtigt mit anderen wahr- nehmen können. Beispielsweise gehören dazu ❙17 Vgl. ebd., Ziffer 43 ff. Veränderungen der Schulsituation in der Re- ❙18 Vgl. ebd., Ziffer 6 ff. gelschule, damit ein Kind mit Behinderung ❙19 Vgl. OHCHR, Thematic study by the Office of dort sinnvoll und individuell – etwa durch the High Commissioner for Human Rights on en- zieldifferenten Unterricht – unterrichtet wer- hancing awareness and understanding of the Con- vention on the Rights of Persons with Disabilities, den kann. Die Konvention macht angemesse- UN Doc. A/HRC/10/48 vom 26. 1. 2009, Ziffer 52 f.; ne Vorkehrungen zum integralen Bestandteil United Nations, The right to education of persons einzelner Rechte, etwa beim Recht auf inklu- with disabilities. Report of the Special Rapporteur on sive Bildung.❙24 the right to education; UN Doc. A/HRC/4/29 vom 19. 2. 2007. Inklusion: Der Gedanke der sozialen In- ❙20 Vgl. Eibe Riedel, Gutachten zur Wirkung der in- ternationalen Konvention über die Rechte von Men- klusion ist ein tragender Grundsatz und Leit- schen mit Behinderungen und ihres Fakultativpro- begriff der Konvention (Art. 3 UN-BRK). tokolls auf das deutsche Schulsystem. Erstattet der Inklusion steht für die Offenheit eines ge- Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben, ge- sellschaftlichen Systems in Bezug auf sozia- meinsam lernen Nordrhein-Westfalen (LAG GL), le Vielfalt, die selbstverständlich Menschen Mannheim-Genf 2010. mit Behinderungen einschließt. Der Begriff ❙21 Vgl. Art. 24 Abs. 1 a) UN-BRK. ❙22 Vgl. Art. 24 Abs. 1 a) bis c) UN-BRK. im Sinne der Konvention geht über das hi- ❙23 Vgl. Art. 24 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 UN-BRK. ❙24 Vgl. Art. 24 Abs. 2 c) UN-BRK. 16 APuZ 23/2010
  • 17. naus, was traditionell mit „Integration“ ge- zesse eingebunden sind. Erforderlich ist nach meint ist. Es geht nicht nur darum, innerhalb der Konvention die Partizipation vor allem in bestehender Strukturen auch für Menschen Bezug auf die Ausarbeitung und Umsetzung mit Behinderungen Raum zu schaffen, son- von Rechtsvorschriften und politischen Pro- dern darum, die gesellschaftlichen Struktu- grammen, die zur Umsetzung der UN-BRK ren so zu gestalten, dass sie der realen Vielfalt beitragen (Art. 4 Abs. 3 UN-BRK). menschlicher Lebenslagen – gerade auch von Menschen mit Behinderungen – von vornhe- Ausbau von Kenntnissen: In einigen Berei- rein gerecht werden.❙25 chen sind die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen und die damit verbundenen Bewusstseinsbildung: Große Bedeutung Schwierigkeiten in Bezug auf ihre Rechtsaus- misst die Konvention der allgemeinen und übung hinreichend bekannt. Das trifft nicht individuellen Bewusstseinsbildung bei (sie- auf alle Lebensbereiche oder auf alle Gruppen he Art. 8 UN-BRK). Die von der UN-Kon- von behinderten Menschen zu. Als Grundla- vention angeleitete Bewusstseinsbildung hat ge für politische Konzepte und Programme das Ziel, etwa das an „Defiziten“ orientier- erkennt die Konvention deshalb die Notwen- te Denken zu überwinden. Dagegen fördert digkeit, dass ein Staat geeignete Informationen sie die Wertschätzung von Menschen mit Be- einschließlich statistischer Angaben und For- hinderungen und die Sichtweise, Behinde- schungsdaten sammelt (Art. 31 UN-BRK). rung als Beitrag zur menschlichen Vielfalt anzuerkennen. Zur Unterstützung eines ge- sellschaftlichen Bewusstseinswandels ver- Umsetzungsverpflichtungen pflichtet die Konvention den Staat, sofortige wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um etwa Mit der Ratifikation hat sich Deutschland ge- in der gesamten Gesellschaft, einschließlich genüber der internationalen Gemeinschaft, der Ebene der Familien, das Bewusstsein für aber auch gegenüber den in Deutschland le- Menschen mit Behinderungen zu schärfen benden Menschen verpflichtet, die Konventi- und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Wür- on einzuhalten und umzusetzen (siehe Art. 4 de zu fördern. Zu diesen geeigneten Maßnah- Abs. 1 und 2 UN-BRK).❙26 Die Verpflichtun- men gehören auch öffentliche Kampagnen. gen, die aus der UN-BRK erwachsen, rich- ten sich primär an die Träger staatlicher Ge- Barrierefreiheit: Neben den mentalen Bar- walt. Die Adressaten in Deutschland sind die rieren problematisiert die Konvention die Parlamente auf der Ebene von Bund und Län- Barrieren aus dem Bereich der Umwelt (etwa dern, welche die Konvention im Rahmen der in Bezug auf Transportmittel, Information, verfassungsgemäßen Ordnung umzusetzen Kommunikation, Dienste), die Menschen haben. Neben den Parlamenten sind Behör- wegen einer Beeinträchtigung am gleichbe- den und Gerichte sowie die Körperschaften rechtigten Rechtsgebrauch hindern (Art. 9 öffentlichen Rechts ebenfalls Adressaten der UN-BRK). Die Konvention verpflichtet dazu, Normen, da diese an Gesetz und Recht ge- Barrieren systematisch zu identifizieren und bunden sind. Die Bundesländer sind im Rah- schrittweise, aber konsequent abzubauen, die men ihrer Zuständigkeiten für die Umset- Menschen mit Behinderungen eine selbstän- zung der Konvention verantwortlich. dige Lebensführung und eine volle Teilhabe versperren. „Einhaltung der Konvention“ meint, dass der Staat bestimmten Vorgaben ohne jeden Partizipation: Politik für Menschen mit Be- Zeitaufschub in Bezug auf bestimmte Bestand- hinderungen kann nur gelingen, wenn diese selbst mitwirken. Die Konvention verpflich- ❙26 Vgl. zur Umsetzung OHCHR, Thematic study tet daher die Staaten, die unterschiedlichen by the Office of the High Commissioner for Human Perspektiven behinderter Menschen einzube- Rights on enhancing awareness and understanding of ziehen, indem betroffene Menschen und die the Convention on the Rights of Persons with Disabi- sie vertretenden Verbände in politische Pro- lities, UN Doc. A/HRC/10/48 vom 26. 1. 2009; Uni- ted Nations, From exclusion to equality. Realizing the rights of persons with disabilities. Handbook for ❙25 Vgl. Heiner Bielefeldt, Zum Innovationspotenti- Parliamentarians on the Convention on the Rights of al der UN-Behindertenrechtskonvention (3. aktuali- Persons with Disabilities and its Optional Protocol, sierte und erweiterte Auflage), Berlin 2009. Geneva 2007, S. 51 ff. APuZ 23/2010 17
  • 18. teile entsprechen muss. Diese sind vom Gebot Prozess, der die Einhaltung und Umsetzung zur progressiven Entwicklung ausgenommen. der Konvention begleitet und fördert.❙29 Men- Als hinreichend bestimmt gelten das Diskri- schenrechtliches Monitoring ist darauf aus- minierungsverbot oder auch die Abwehrkom- gerichtet, durch andere als rechtliche Mit- ponente der Rechte sowie ihre unverfügba- tel darauf hinzuwirken, dass die staatlichen ren Inhalte (die so genannten Kernbereiche). Verantwortungsträger die UN-BRK einhal- Dazu gehört beispielsweise beim Recht auf ten und umsetzen. Monitoring ist Überzeu- Bildung, dass Menschen mit Behinderungen gungsarbeit durch Beteiligung an politischen nicht rechtlich wie praktisch gegen ihren Wil- Diskussionen, am fachwissenschaftlichen len vom allgemeinen Bildungssystem ausge- Diskurs und an Entscheidungsprozessen.❙30 schlossen werden.❙27 Die Bundesländer müssen Es bedeutet die genaue sektor- und themen- jetzt alles daran setzen, um im Einzelfall die bezogene Beobachtung der rechtlichen und erforderlichen Maßnahmen zu treffen, sodass gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie das ein sinnvolles individuelles Bildungsangebot Sammeln von Informationen und Fakten und an einer allgemeinen Schule gemacht werden deren Bewertung im Lichte der UN-BRK. kann. Man würde die Idee der Menschenrech- Hierauf aufbauend werden staatliche Aktivi- te nicht hinreichend anerkennen und letzten täten konstruktiv und kritisch begleitet oder Endes ihre Existenz in Frage stellen, würde neue Aktivitäten angestoßen. Der Monito- man nicht von einem Kernbestand sofort zu ring-Prozess muss selbst diese Rechte, insbe- realisierender Verpflichtungen ausgehen. sondere die Partizipationsrechte, beachten. Neben dem Gebot der Einhaltung besteht Die Besonderheit der UN-BRK gegen- die Verpflichtung zur schrittweisen Umset- über bisherigen menschenrechtlichen Verträ- zung. Darunter ist ein zielgerichteter, vom gen liegt darin, dass sie den Staat verpflichtet, Staat organisierter und angeleiteter Prozess dieses Monitoring auf innerstaatlicher Ebene zu verstehen, an den die Konvention ihrerseits durch die Schaffung einer unabhängigen Stel- bestimmte Anforderungen stellt. Beispiels- le dauerhaft sicherzustellen und zu gewähr- weise bezieht sich diese Verpflichtung beim leisten (siehe Art. 33 Abs. 2 UN-BRK).❙31 In Recht auf Bildung darauf, ein inklusives Bil- Deutschland heißt diese Monitoring-Stelle dungssystems aufzubauen.❙28 Dieses Vorhaben und ist Teil des Deutschen Instituts für Men- kann zwar nur schrittweise erreicht werden. schenrechte in Berlin.❙32 Nach dem Gebot zur progressiven Realisie- rung muss der Staat damit kurz nach dem ❙29 Siehe den Vortrag von Valentin Aichele „Das In- Inkrafttreten beginnen, indem er geeignete, novationspotential der UN-Behindertenrechtskon- vention“, gehalten am 16. April 2008 auf der Fach- zielführende und wirksame Maßnahmen un- tagung „UN-Behindertenrechtskonvention über die ter Einbeziehung der vorhandenen Mittel er- Rechte von Menschen mit Behinderungen zwischen greift. Diese Prozesse sollen partizipativ und Alltag und Vision“ in Berlin. transparent ablaufen. Die staatlichen Verant- ❙30 Vgl. United Nations, Monitoring the Convention wortungsträger sind für ihr Handeln wie für on the Rights of Person with Disabilities. Guidance etwaige Versäumnisse rechenschaftspflichtig. for Human Rights Monitors, New York-Geneva 2010; Manuel Guzman/Bert Verstappen, What is mo- nitoring?, Versoix 2003. ❙31 OHCHR, Thematic study by the Office of the Monitoring United Nations High Commissioner for Human Rights on the structure and role of national mecha- In Abgrenzung zu der Pflicht des Staates, die nisms for the implementation and monitoring of the UN-BRK einzuhalten und umzusetzen, ob- Convention on the Rights of Persons with Disabili- ties, UN Doc. A/HRc/13/29 vom 22. 12. 2009. liegt nichtstaatlichen Akteuren eine andere ❙32 Das Deutsche Institut für Menschenrechte wurde Aufgabe: das Monitoring (Art. 33 Abs. 2 und 3 im März 2001 auf Beschluss des Deutschen Bundes- UN-BRK, Art. 34 ff UN-BRK). Die UN- tages vom Dezember 2000 als unabhängige Nationale BRK versteht Monitoring (engl. to monitor – Menschenrechtsinstitution Deutschlands gegrün- kontrollieren, überwachen) als einen notwen- det. Als solche ist es – so die Feststellung der Ver- digen und zivilgesellschaftlich organisierten einten Nationen – für die Funktion des Monitoring der UN-BRK prädestiniert. Zum Konzept der Na- tionalen Menschenrechtsinstitutionen vgl. Valentin ❙27 Vgl. Art. 24 Abs. 2 a) UN-BRK. Aichele, Die Nationale Menschenrechtsinstitution. ❙28 Vgl. Art. 24 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 Eine Einführung, 2., überarbeitete und aktualisierte UN-BRK. Auflage, Berlin 2009. 18 APuZ 23/2010