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Carl R. Rogers
Die notwendigen und hinreichenden
Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung
durch Psychotherapie
Im Jahr 1957, bei einem Vortrag vor dem Counseling Center Staffan der
Universität von Chicago machte Rogers zunächst nicht viel Eindruck mit
seiner, wie es vielen schien, allzu simplen Theorie über Psychotherapie
und Persönlichkeitsveränderung, an der den Experten auch eine Menge
wichtiger Kenntnisse zu fehlen schien. Tatsächlich entpuppte sich dieser
Aufsatz jedoch bald als einer von Rogers' fruchtbarsten Beiträgen auf
dem Gebiet der Psychotherapie und wurde eine seiner heuristisch
wichtigsten Schriften: Er gab damit den Anstoß zu einer ganz außer­
ordentlichen Fülle von Forschungsarbeiten, die in der Folge von ihm
selbst und weltweit von vielen anderen in Angriff genommen wurden -
und dabei eine weitgehende Bestätigung vieler Elemente brachten. Heute
gilt der Artikel als ein Klassiker der Fachliteratur.
Diese Thesen haben die Psychotherapieforschung und das Verständnis
von Psychotherapie nicht nur im klientenzentrierten Bereich nachhaltig
beeinfiußt. Das Modell hat sich als sehr lebensfähig erwiesen. Ungeach­
tet zahlreicher »Ergänzungs- und Uminterpretationsversuche« durch
andere stand Rogers bis zuletzt zu diesem Artikefl und bezog sich in
seinen Arbeiten - in denen er die hier aufgestellten Bedingungen für
Persönlichkeitswachstum noch oft und immer genauer beschrieb -
immer wieder darauf. Nach wie vor bildet dieses Modell die wichtigste
Grundlage für das Verständnis nicht nur der psychotherapeutischen,
sondernjeder helfenden Beziehung.
Wie Rogers selbst schreibt, handelt es sich hier um einen Ausschnitt
aus einer größeren theoretischen Konzeption, an der er 1957, dem Jahr
der Entstehung dieses Artikels, gerade arbeitete und die er 1959
1 Vgl. etwa das 1983 geführte Interview Rogers, C.R. / Heppner, P.P. / Rogers, ME./
Lee, L.A, Gart Rogers: Refiections on his life, in: Journal of Counseling and
Development 63 (1984) 14-20; dt.: Carl Rogers: Betrachtungen über sein Leben, in:
Zeitschrift für Personenzentrierte Psychologie und Psychotherapie 2 (1985) 207-213,
hier 209. {Hinweis: Kursiv geschriebene Anmerkungen wurden der besseren
Verständlichheit halber bei der Übersetzung von mir eingefügt. pfs]
165
veröffentlichte (»Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und
der zwischenmenschlichen Beziehungen«, 1959a). Er stellt hier seine
Theorie der Psychotherapie und des Persönlichkeitswachstums in den
»Wenn-dann«-Formulierungen der experimentellen Forschung dar. Er
bezeichnet diese Darstellung selbst als »rigorous«, was sowohl »rigoros,
streng« wie auch »ganz genau«, Ja »peinlich genau« heißt. Und so genau
wollen sie auch gelesen sein, will man sie richtig verstehen und nicht
durch die Brille verschiedener inzwischen leider populär gewordener
Mißverständnisse und Verkürzungen betrachten.
So etwa ist beispielsweise kaum beachtet worden, daß Rogers hier von
sechs und nicht nur von drei Bedingungen spricht. Nach wie vor gültig
- gerade auch angesichts der Behauptungen von der Notwendigkeit
ergänzender Technillen oder integrativer Verfahren - ist auch die
Schärfe Jener Formulierungen, in denen er gegen Ende des Artihels
schreibt, welche Behauptungen signifihanterweise hier nicht aufgestellt
werden, das heißt, was alles mit dieser Theorie nicht behauptet wird:
Etwa daß verschiedene Kliententypen verschiedene therapeutische Be­
dingungen bräuchten oder daß Psychotherapeuten spezielle Kenntnisse
besitzen müßten. Aufschlußreich ist auch, welchen Stellenwert Rogers
der Diagnose für die Psychotherapie - besser: für die Sicherheitsbedürf
nisse der Psychotherapeuten -- und den psychotherapeutischen Tech­
niken zuweist. Es ist bemerlwnswert, wie deutlich Rogers von Anfang an
den fundamentalen Unterschied zu den herrschenden Auffassungen und
damit die Radilmlität seiner Hypothesen hervorstrich. Auch nach 50
Jahren personzentrierter Bewegung haben diese Klarstellungen nichts an
Aktualität eingebüßt.2 pfs
Seit vielen Jahren bin ich in der Psychotherapie mit Menschen beschäf­
tigt, die sich in einer Notlage befinden. In den letzten Jahren fand ich
mich zunehmend damit befaßt, aus dieser Erfahrung die allgemeinen
Prinzipien zu abstrahieren, von denen ich den Eindruck habe, dru1 sie
aus ihr folgen. Ich habe mich bemüht, irgendeine Regelmäßigkeit,
irgendeine Einheit zu entdecken, die in diesem heiklen und komplexen
Gewebe der zwischenmenschlichen Beziehung, von dem ich in der
2 Rogers 1957a: The necessary and sufficient conditions of therapeutic
personality change, zuerst veröffentlicht in: Journal of Consulting
Psychology, 21,2 (1957) 95-103. Übersetzung und Abdruck mit Genehmigung des
Autors. Deutschsprachige Erstpublikation. Übersetzung aus dem Amerikanischen:
Manfred Werkmei.�ter und Peter F. Schmid.
166
therapeutischen Arbeit so beständig in Anspruch genommen bin, ent­
halten zu sein scheint. Eines der aktuellen Ergebnisse dieser Be­
mühung ist ein Versuch, in formalen Begriffen eine Theorie der
Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Be­
ziehung aufzustellen, die die Phänomene meiner Erfahrung einschließt
und enthält. Was ich mit diesem Artikel möchte, ist, einen sehr kleinen
Ausschnitt aus dieser Theorie etwas vollständiger herauszustellen und
seine Bedeutung und seinen Nutzen zu erforschen.
Das Problem
Die Frage, der ich mich hier zuwenden möchte, lautet: Ist es möglich, in
klar definierbaren und meßbaren Begriffen die psychologischen Be­
dingungen zu nennen, die notwendig und hinreichend sind, eine
konstruktive Persönlichkeitsveränderung herbeizuführen? Mit anderen
Worten: Kennen wir mit einiger Genauigkeit jene Elemente, die wesent­
lich sind, wenn sich eine psychotherapeutische Veränderung ergeben
soll?
Bevor ich zur Hauptsache komme, lassen Sie mich ganz kurz noch
den zweiten Teil der Frage vornehmen. Was ist gemeint mit Aus­
drücken wie »psychotherapeutische Veränderung« oder »konstruktive
Persönlichkeitsveränderung«? Dieses Problem verdient ebenfalls eine
tiefe und ernsthafte Betrachtung, aber lassen Sie mich für jetzt eine
dem gesunden Menschenverstand genügende Bedeutung vorschlagen,
auf die wir uns für die Absichten dieses Artikels vielleicht einigen
können. Diese Ausdrücke besagen: eine Veränderung in der Persönlich­
keitsstruktur des Individuums sowohl an der Oberfläche wie auch auf
tieferen Ebenen, und zwar in einer Richtung - die Kliniker würden mir
hier zustimmen -, die stärkere Integration, weniger inneren Konflikt
und mehr Energie bedeutet, die für effizientes Leben nutzbar ist; eine
Verhaltensänderung weg von im allgemeinen als unreif betrachteten
Verhaltensweisen und hin zu solchen, die als reif angesehen werden.
Diese kurze Beschreibung mag ausreichen, um die Art von Veränderung
zu bezeichnen, deren Vorbedingungen wir im folgenden erörtern wollen.
Sie mag ebenso die Art und Weise nahelegen, wie dieses Kriterium der
Veränderung bestimmt werden kann.3
3 Daß dies ein meßbares und bestimmbares Kriterium ist, wurde in Forschungsar­
beiten. die bereits abgeschlossen sind, dargelegt. Siehe Rogers/Dymond 1954.
insbesondere die Kapitel 8, 13 und 17.
167
Die Bedingungen
Bei der Betrachtung meiner eigenen klinischen Erfahrung wie auch der
meiner Kollegen zusammen mit der einschlägigen Forschung, die
zugänglich ist, habe ich einige Bedingungen abgeleitet, die mir notwen­
dig erscheinen, eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung anzubah­
nen, und die zusammengenommen auch aussehen, als wären sie
hinreichend, diesen Prozeß in Gang zu setzen. Während ich an diesem
Problem gearbeitet habe, hat es mich überrascht, wie einfach das ist,
was da zum Vorschein kam. Mit der folgenden Darstellung wird keine
Versicherung für ihre Richtigkeit abgegeben; ich bringe aber die
Erwartung zum Ausdruck, daß sie den Wert einer jeden Theorie hat,
nämlich den, daß sie eine Reihe von Hypothesen aufstellt oder impli­
ziert, die offen sind für Verifikation oder Falsifikation, womit zugleich
unsere Kenntnis des Gebietes geklärt und erweitert wird.
Weil ich mit diesem Artikel keine Spannung erzeugen möchte, werde
ich sogleich in mehreren ganz genauen und kurz zusammengefaßten
Begriffen die sechs Bedingungen nennen, bei denen ich dazu gekommen
bin, sie für grundlegend für den Prozeß der Persönlichkeitsveränderung
zu halten. Dabei ist die Bedeutung einer Anzahl von Ausdrücken nicht
unmittelbar evident, sie werden aber in den folgenden erläuternden
Abschnitten erklärt werden. Es ist zu hoffen, daß diese kurze Darstel­
lung für den Leser eine viel größere Bedeutung haben wird, wenn er
den Artikel zu Ende gelesen hat. Lassen Sie mich ohne weitere
Einführung die grundlegende theoretische Position formulieren.
Damit sich konstruktive Persönlichkeitsveränderung ereignet, ist es
notwendig, daß die folgenden Bedingungen gegeben sind und über eine
gewisse Zeitspanne hinweg andauern:
1. Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt.
2. Die erste, die wir Klient nennen werden, befindet sich in einem
Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar oder ängstlich.
3. Die zweite Person, die wir Therapeut nennen werden, ist kongruent
oder integriert in der Beziehung.
4. Der Therapeut empfindet eine bedingungslose positive Zuwendung
dem Klienten gegenüber.
5. Der Therapeut empfindet ein empathisches Verstehen des inneren
Bezugsrahmens des Klienten und ist bestrebt, diese Erfahrung dem
Klienten gegenüber zum Ausdruck zu bringen.
6. Die Kommunikation des empathischen Verstehens und der be­
dingungslosen positiven Zuwendung des Therapeuten dem Klienten
gegenüber wird wenigstens in einem minimalen Ausmaß erreicht.
168
Keine anderen Bedingungen sind notwendig. Wenn diese sechs Be­
dingungen gegeben sind und über eine bestimmte Zeitspanne hinweg
andauern, ist dies hinreichend. Der Prozeß der Persönlichkeitsentwick­
lung wird folgen.
Eine Beziehung
Die erste Bedingung gibt an, daß ein Minimum an Beziehung, ein
psychologischer Kontakt, vorhanden sein muß. Ich stelle die Hypothese
auf, daß eine positive Persönlichkeitsveränderung von Bedeutung nur in
einer Beziehung zustandekommt. Dies ist natürlich eine Hypothese,
und sie kann vielleicht widerlegt werden.
Die Bedingungen 2 bis 6 definieren die Charakteristika der Bezie­
hung, die als wesentlich erachtet werden, indem die notwendigen
Charakteristika jeder der Personen in der Beziehung definiert werden.
Alles, was mit dieser ersten Bedingung beabsichtigt ist, ist die Feststel­
lung, daß die zwei Leute in einem gewissen Ausmaß miteinander in
Kontakt stehen, daß jeder von ihnen im jeweiligen Erfahrungsfeld des
anderen einen wahrnehmbaren Unterschied ausmacht. Wahrscheinlich
genügt es, wenn jeder nur unterschwellig einen Unterschied ausmacht,
selbst wenn der Einzelne sich dieser Wirkung nicht bewußt sein mag.
So dürfte es schwierig sein zu wissen, ob ein katatoner Patient die
Gegenwart eines Therapeuten so wahrnimmt, daß das einen Un­
terschied für ihn ausmacht - einen Unterschied welcher Art auch
immer - aber es ist fast sicher, daß er auf irgendeiner organischen
Ebene diese Veränderung tatsächlich spürt.
Außer in einer solch schwierigen Grenzsituation wie der eben
beschriebenen wäre es relativ leicht, diese Bedingung in operationalen
Begriffen zu definieren und so von einem hartgesottenen
Forschungsstandpunkt aus, festzustellen, ob die Bedingung vorhanden
ist oder nicht. Die einfachste Methode der Bestimmung beinhaltet
einfach das Bewußtsein von beiden, Klient und Therapeut. Wenn jeder
von beiden sich dessen bewußt ist, daß er mit dem anderen in
persönlichem oder psychologischem Kontakt steht, dann ist diese
Bedingung erfüllt.
Die erste Bedingung der therapeutischen Veränderung ist so einfach,
daß sie vielleicht als eine Voraussetzung oder Vorbedingung bezeichnet
werden sollte, um sie von denen, die noch folgen, zu unterscheiden.
Ohne sie jedenfalls hätten die übrigen Punkte keine Bedeutung, und
das ist der Grund dafür, sie miteinzubeziehen.
169
Der Zustand des Klienten
Es wurde ausgeführt, daß es notwendig sei, daß der Klient »sich in
einem Zustand der Inkongruenz befindet, verletzbar oder ängstlich ist«.
Welche Bedeutung haben diese Begriffe?
Inkongruenz ist ein grundlegendes Konstrukt in der Theorie, die wir
entwickelt haben. Sie bezieht sich auf eine Diskrepanz zwischen der
aktuellen Erfahrung des Organismus und dem Selbstbild des Indivi­
duums, insofern es diese Erfahrung repräsentiert. So wird vielleicht ein
Mensch auf einer ganzheitlichen oder organismischen Ebene Angst
empfinden vor der Universität und vor Prüfungen, die im dritten Stock
eines bestimmten Gebäudes abgehalten werden, weil diese möglicher­
weise eine Unzulänglichkeit in ihm aufzeigen. Da eine solche Angst vor
seiner Unzulänglichkeit fraglos im Widerspruch steht zu seinem Selbst­
konzept, wird diese Erfahrung in seinem Bewußtsein (verzerrt) als eine
unbegründete Angst repräsentiert, die Treppen in diesem Gebäude
hinaufzusteigen oder in irgendeinem Gebäude und bald auch als
unbegründete Angst, das offene Universitätsgelände zu überqueren. Wir
haben da eine fundamentale Diskrepanz zwischen der erfahrenen
Bedeutung der Situation, wie sie von seinem Organismus registriert
wird, und der symbolischen Repräsentation dieser Erfahrung im
Bewußtsein, und zwar auf ein solche Weise, daß mit dem Bild, das er
von sich selbst hat, kein Konflikt aufkommt. In diesem Falle Furcht vor
seiner Unzulänglichkeit zuzugeben, würde dem Bild, das er von sich
selbst hat. widersprechen; wenn er sich selbst unverständliche Ängste
eingesteht, widerspricht es seinem Selbstkonzept nicht.
Ein anderes Beispiel wäre die Mutter, die immer dann bestimmte
Krankheiten entwickelt, wenn ihr Sohn Pläne macht, von zu Hause
wegzugehen. Der eigentliche Wunsch liegt darin, die einzige Quelle
ihrer Befriedigung festzuhalten. Dies bewußt wahrzunehmen, wäre
unvereinbar mit dem Bild, das sie von sich selbst als einer guten Mutter
hat. Krankheit dagegen verträgt sich mit ihrem Selbstkonzept, und die
Erfahrung wird auf diese verzerrte Weise symbolisiert. Daher gibt es
auch hier wieder eine grundlegende Inkongruenz zwischen dem wahr­
genommenen Selbst (in diesem Fall als kranke Mutter Aufmerksamkeit
nötig zu haben) und der aktuellen Erfahrung (in diesem Fall der
Wunsch, ihren Sohn festzuhalten).
Wenn das Individuum nicht das Bewußtsein einer solchen Inkon­
gruenz in sich selbst hat, dann ist es lediglich verwundbar im Hinblick
auf die Möglichkeit von Angst und Desorganisation. Irgendeine Erfah­
rung könnte so plötzlich oder so offensichtlich auftreten, daß die
170
Inkongruenz nicht verleugnet werden könnte. Deshalb ist die Person im
Hinblick auf eine solche Möglichkeit verletzbar.
Wenn das Individuum in sich selbst dunkel eine solche Inkongruenz
wahrnimmt, dann entsteht ein Spannungszustand, der als Angst be­
kannt i�t. Die Inkongruenz muß nicht in voller Schärfe wahrgenommen
werden. Es genügt, daß sie unterschwellig wahrgenommen wird - das
heißt als bedrohlich für das Selbst ausgemacht wird, ohne jedes
Bewußtsein vom Inhalt dieser Bedrohung. Solche Angst ist oft in der
Therapie zu beobachten, wenn das Individuum an irgendein Element
seiner Erfahrung herankommt, das in scharfem Gegensatz zu seinem
Selbstkonzept steht.
Es ist nicht leicht, eine genaue und operationale Definition für diese
zweite der sechs Bedingungen zu geben, doch ist dies bis zu einem
gewissen Grad schon erreicht worden. Einige Forscher haben das
Selbstkonzept definiert mittels eines vom Individuum vorgenommenen
Q-Sort4 aus einer Liste von Items, die sich auf das Selbst beziehen. Das
gibt uns ein operationales Bild vom Selbst. Das ganzheitliche Erfahren
des Individuums ist schwieriger zu erfassen. Chodorkoff (1954) hat es
als ein Q-Sort definiert, das von einem Kliniker vorgenommen wird, der
unabhängig dieselben Items, die sich auf das Selbst beziehen, sortiert,
wobei er seine Zuordnung auf das Bild gründet, das er vom Individuum
4 Das Q-Sort, entwickelt von William Stephen,qon, einem Forscher an der Universität
Chicago (The study of behavior. Q-technique and its methodology, Chicago
[Univernity of Chicago Press] 1953), ist ein Schätzverfahren, das in der experimen­
tellen Psychologie, vor allem in der Persönlichkeitsdiagnostik und in der Psychoth­
erapieforschung -- beispielsweise zum Vergleich von Selbstideal-Bildern vor und
nach der Psychotherapie - gerne benutzt wurde. Dabei werden von der
Versuchsperson eine größere Anzahl von Items (meist Kärtchen mit Behauptungen,
z. B. Eigenschaflsbe..qchreibungen) nach dem Grad sortiert, nach dem sie ihrer
Meinung nach einen bestimmten Sachverhalt oder eine Person charakterisieren. Der
Beurteiler muß die Karten bestimmten Kategorien zuordnen. Die Ergebnisse des
Q-Sorts können mit Hilfe der sogenannten Q-Technik der Faktorenanalyse weiter
berechnet werden. - Rogers und seine Mitarbeiter haben das Q-Sort für die
Counseling-Forschung adaptiert und vielfach verwendet. Die spezifische Form, die
Rogers entwickelte, wurde SIO-Q-Sort genannt (»Seif, Ideal, Ordinary«): Den
Klienten wurden 100 Karten mit solchen »self-referent items« (Karten mit
Aussagen, die tatBächlich von Klienten gemachten Äußerungen entnommen waren,
z. B. »Ich bin ein gehorsamer Mensch«, »Ich bin ein harter Arbeiter«, »Ich bin
liebenswert«) gegeben, die er in 9 Kategorien zu ordnen hatte (von auf die eigene
Person am ehe..qten zutreffenden Aussagen bis zu solchen, die am wenigsten
entsprechen). 3 verschiedene Sorts (»S« zum Selbstkonzept, »I« zum Idealbild und
»O« zum Bild vom normalen Menschen) zu 3 verschiedenen Zeitpunkten (vor,
während und nach der Therapie) wurden vorgenommen. Die Ergebnisse wurden
unter anderem in Rogers/Dymond 1954 veröffentlicht.
171
durch projektive Tests gewonnen hat. Seine Zuordnung umfaßt daher
sowohl unbewußte wie bewußte Elemente der Erfahrung des Indivi­
duums und gibt so (auf eine zugegebenermaßen unvollkommene Weise)
die Gesamtheit der Erfahrung des Klienten wieder. Die Korrelation
zwischen diesen beiden Zuordnungen gibt ein rohes operationales Maß
der Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung, wobei eine niedrige
bzw. negative Korrelation natürlich einen hohen Grad von Inkongruenz
darstellt.
Die Echtheit des Therapeuten in der Beziehung
Die dritte Bedingung lautet, daß der Therapeut innerhalb der Grenzen
dieser Beziehung eine kongruente, echte, integrierte Person sein sollte.
Das heißt, daß er innerhalb der Beziehung frei und tief er selbst ist,
wobei seine gegenwärtige Erfahrung exakt von seinem Bewußtsein, das
er von sich selbst hat, repräsentiert ist. Es ist dies das Gegenteil davon,
eine Fassade zu präsentieren, sei es wissentlich oder unwissentlich.
Es ist nicht notwendig (noch ist es möglich), daß der Therapeut ein
Musterknabe ist, der diesen Grad von Integration, von Ganzheit in
jedem Aspekt seines Lebens an den Tag legt. Es genügt, daß er exakt er
selbst ist, in dieser Stunde dieser Beziehung, daß er in diesem
grundsätzlichen Sinn ist, was er tatsächlich zu diesem Zeitpunkt ist.
Es sollte somit klar sein, daß dies einschließt, sogar bei Verhaltens­
weisen er selbst zu sein, die nicht als ideal für die Psychotherapie
gelten. Seine Erfahrung ist möglicherweise: »Ich fürchte mich vor
diesem Klienten« oder »Meine Aufmerksamkeit ist so sehr auf meine
eigenen Probleme fixiert, daß ich ihm kaum zuhören kann.« Wenn der
Therapeut diese Gefühle seinem Bewußtsein gegenüber nicht verleug­
net, sondern fähig ist, sie frei zu sein (genauso wie er seine anderen
Gefühle ist), dann ist die Bedingung, die wir aufgestellt haben, erfüllt.
Es würde uns zu weit wegführen, die verwirrende Angelegenheit
hinsichtlich des Ausmaßes zu erörtern, bis zu dem der Therapeut diese
Realität in sich selbst dem Klienten gegenüber offen kommuniziert.
Sicher ist es für den Therapeuten nicht das Ziel, seine eigenen Gefühle
zum Ausdruck zu bringen oder auszusprechen, sondern primär, daß er
dem Klienten in bezug auf sich selbst nichts vormachen sollte. Manch­
mal ist es möglicherweise für ihn nötig, einige seiner eigenen Gefühle
auszusprechen (entweder dem Klienten gegenüber oder einem Kollegen
oder Supervisor gegenüber), wenn sie den beiden folgenden Be­
dingungen im Wege stehen.
172
Es ist nicht allzu schwierig, eine operationale Definition für diese dritte
Bedingung vorzuschlagen. Wir greifen dazu wieder auf die Q-Technik
zurück. Wenn der Therapeut eine Reihe von für die Beziehung relevan­
ten Items sortiert (und dabei eine ähnliche Liste wie die von Fiedler
[1950 und 1953] und Bown [1954] verwendet), wird das seine Wahrneh­
mung seiner Erfahrung in der Beziehung ergeben. Wenn mehrere
Beurteiler, die das Gespräch beobachtet oder eine Aufzeichnung davon
gehört (oder einen Tonfilm davon gesehen) haben, jetzt dieselben Items
sortieren, um ihre Wahrnehmung der Beziehung darzustellen, wird
diese zweite Zuordnung wohl jene Elemente des Verhaltens und der
gefolgerten Einstellungen des Therapeuten festhalten, deren er sich
nicht bewußt ist, ebenso aber jene, deren er sich bewußt ist. So würde
eine hohe Korrelation zwischen der Zuordnung des Therapeuten und
der Zuordnung des Beobachters in Rohform eine operationale Definition
der Kongruenz oder Integration des Therapeuten in der Beziehung
darstellen; und eine niedrige Korrelation würde das Gegenteil zeigen.
Bedingungslosepositive Zuwendung
In dem Ausmaß, in dem der Therapeut selbst ein warmes Akzeptieren
von jedem Aspekt der Erfahrung des Klienten als einem Teil dieses
Klienten empfindet, empfindet er eine bedingungslose positive Zuwen­
dung. Dieses Konzept wurde von Standal (1954) entwickelt. Das
bedeutet, daß es da keinerlei Bedingungen des Akzeptierens gibt, kein
Gefühl wie »Ich mag dich nur, wenn du so und so bist«. Es meint ein
Wertschätzen der Person, wie Dewey diesen Begriff5 gebraucht hat. Es
ist der Gegenpol zu einer selektiven Bewertungshaltung - »Du bist
schlecht auf diese Weise, gut auf jene«. Es schließt in ebensolchem
Maße ein Gefühl der Akzeptanz für den Ausdruck von negativen,
»schlechten«, schmerzhaften, ängstlichen, abwehrenden, abnormalen
Gefühlen durch den Klienten ein wie für seinen Ausdruck von »guten«,
positiven, reifen, vertrauensvollen, sozialen Gefühlen; es schließt im
gleichen Maße Akzeptieren von Verhaltensweisen ein, in denen er sich
inkonsistent, wie von solchen, in denen er sich konsistent zeigt. Es
meint ein Anteilnehmen am Klienten, aber nicht auf eine besitzergrei­
fende Art oder auf eine Weise, die lediglich die eigenen Bedürfnisse des
Therapeuten befriedigt. Es meint ein Anteilnehmen am Klienten als
einer selbständigen Person, die ihre eigenen Gefühle, ihre eigenen
5 »prizing« .
173
Erfahrungen haben darf. Ein Klient beschreibt den Therapeuten als
einen, der »unterstützt, daß meine eigene Erfahrung mir gehört ... daß
[dies] meine Erfahrung ist, und daß ich es bin, der sie im Augenblick
hat: daß ich denke, was ich denke, fühle, was ich fühle, will, was ich
will, Angst habe vor dem, wovor ich Angst habe: keine ,Wenn und Aber,
oder ,Nicht-Wirklich«<. Das ist die Form des Akzeptierens, von der die
Hypothese aufgestellt wird, daß sie notwendig ist, wenn eine Persönlich­
keitsveränderung geschehen soll.
Wie die beiden vorangegangenen Bedingungen ist auch diese vierte
Bedingung eine Angelegenheit des Ausmaßes6, was unmittelbar dann
klar wird, wenn wir versuchen, sie in Begriffen bestimmter Forschungs­
verfahren zu definieren. Eine solche Methode, sie zu definieren, wäre,
das Q-Sort für die Beziehung in Betracht zu ziehen, wie es bei der
dritten Bedingung beschrieben wurde. In dem Ausmaß, in dem aussage­
fähige Items bedingungsloser positiver Zuwendung sowohl vom Thera­
peuten als auch von den Beobachtern als charakteristisch für die
Beziehung zugeordnet werden, könnte man sagen, daß bedingungslose
positive Zuwendung vorhanden ist. Solche Items könnten Aussagen in
folgender Reihung enthalten: »Ich fühle keine heftigen Reaktionen, was
der Klient auch sagt«; »Ich empfinde weder Zustimmung noch Ableh­
nung für den Klienten und seine Aussagen -- einfach Akzeptieren«;
»Ich fühle Wärme dem Klienten gegenüber - für seine Schwächen und
Probleme ebenso wie für seine Möglichkeiten«; »Ich neige nicht dazu,
ein Urteil über das zu fällen, was der Klient mir erzählt«; »Ich mag den
Klienten«. In dem Ausmaß, in dem beide, Therapeut und Beobachter,
diese Items als charakteristisch wahrnehmen, oder ihr Gegenteil als
uncharakteristisch, kann man sagen, daß die vierte Bedingung gegeben
ist.
6 Der Ausdruck »bedingungslose positive Zuwendung« ist vielleicht unglücklich, weil
er sich wie ein absolutes, ein Alles-oder-Nichts-Konzept anhört. Es ist
wahrscheinlich von der Beschreibung her klar, daß eine vollkommen bedingungs­
lose Zuwendung außer in der Theorie nicht existiert. Von einem klinischen und
erfahrungsbezogenen Standpunkt her glaube ich, die genaueste Bestimmung liegt
darin, daß der effiziente Therapeut bedingungslose positive Zuwendung für den
Klienten in vielen Augenblicken des Kontakts mit ihm empfindet, auch wenn er
von Zeit zu Zeit eine bedingte positive Zuwendung für ihn empfindet - und
vielleicht manchmal eine negative, obwohl dies in einer effizienten Therapie nicht
wahrscheinlich ist. In diesem Sinne existiert eine bedingungslose positive
Zuwendung in einem gewissen Ausmaß injeder Beziehung.
174
Empathie
Die fünfte Bedingung ist die, daß der Therapeut ein genaues empathi­
sches Verstehen vom Bewußtsein des Klienten und seiner eigenen
Erfahrung empfindet. Die private Welt des Klienten so zu spüren, als ob
es die eigene wäre, ohnejemals die Qualität des »als ob« zu verlieren -
das ist Empathie, und das scheint für die Therapie wesentlich zu sein.
Die Wut, Angst oder Verwirrung des Klienten zu spüren, als wären es
die eigenen Gefühle, jedoch ohne daß die eigene Wut, Angst oder
Verwirrung damit verknüpft wird, das ist die Bedingung, die wir uns zu
beschreiben bemühen. Wenn die Welt des Klienten für den Therapeuten
so klar ist und er sich in ihr frei bewegt, dann kann er dem Klienten
gegenüber sowohl kommunizieren, daß er versteht, was dem Klienten
selber klar bekannt ist, als auch zum Ausdruck bringen, was diesem an
Bedeutung in seinen Erfahrungen kaum zu Bewußtsein kommen mag.
Wie ein Klient diesen zweiten Aspekt beschreibt: »Von Zeit zu Zeit, mit
mir in einem Gewirr von Gedanken und Gefühlen, verstrickt in ein
Gespinst von wechselseitig auseinanderlaufenden Linien der Bewegung,
mit Impulsen von verschiedenen Teilen von mir, und ich mit dem
Gefühl, daß das alles zu viel ist und so - dann peng!, geradeso wie ein
Sonnenstrahl sich seinen Weg durch Wolkenbänke und ein Gewirr von
Blattwerk bricht, um einen Lichtkreis auf ein Gewirr von Waldpfaden
zu werfen, kam eine Bemerkung von Ihnen. [Es war] Klarheit, ja
Entwirrung, eine zusätzliche Drehung zum Bild, ein Zurechtrücken.
Dann das Ergebnis - das Gefühl voranzukommen, die Entspannung.
Das waren Sonnenstrahlen.« Daß eine solche durchdringende Empathie
für die Therapie wichtig ist, wird durch die Untersuchung von Fiedler
(1950) belegt, in der bei der Beschreibung von Beziehungen durch
erfahrene Therapeuten Items wie die folgenden hoch veranschlagt
werden:
Der Therapeut ist gut in der Lage, die Gefühle des Patienten zu
verstehen.
Der Therapeut ist niemals im Zweifel darüber, was der Patient
meint.
Die Bemerkungen des Therapeuten passen genau zur Stimmung und
zum Auffassungsvermögen des Patienten.
Der Tonfall des Therapeuten drückt seine Fähigkeit aus, die Gefühle
des Patienten vollständig zu teilen.
Eine operationale Definition der Empathie des Therapeuten könnte auf
verschiedene Weise zustandegebracht werden. Es könnte das Q-Sort
angewendet werden, wie es bei der dritten Bedingung beschrieben
175
wurde. In dem Ausmaß, in dem Items, die eine genaue Empathie
beschreiben, sowohl von seiten des Therapeuten als auch von seiten der
Beobachter als charakteristisch zugeordnet würden, würde diese Be­
dingung als gegeben betrachtet werden.
Eine andere Methode, diese Bedingung zu definieren, wäre es, für
den Klienten wie für den Therapeuten, eine Liste von Items zu
sortieren, die die Gefühle des Klienten beschreiben. Jeder würde dabei
unabhängig zuordnen, die Aufgabe wäre es, die Gefühle wiederzugeben,
die der Klient während eines eben gerade abgeschlossenen Gesprächs
empfunden hat. Wenn die Korrelation zwischen der Zuordnung des
Klienten und der des Therapeuten hoch ist, könnte man sagen, daß eine
genaue Empathie gegeben ist, eine niedrige Korrelation dagegen würde
zum gegenteiligen Schluß führen.
Wieder eine andere Methode, Empathie zu messen, bestünde darin,
daß geübte Beurteiler die Tiefe und Genauigkeit der Empathie des
Therapeuten auf der Grundlage des Anhörens von Gesprächsaufzeich­
nungen einschätzten.
Die Wahrnehmung des Therapeuten durch den Klienten
Die letzte der aufgestellten Bedingungen ist, daß der Klient in einem
Mindestausmaß die Akzeptanz und Empathie, die der Therapeut für ihn
empfindet, wahrnimmt. Wenn keine Kommunikation über diese Einstel­
lungen zustande gekommen ist, existieren diese, soweit es den Klienten
betrifft, in der Beziehung nicht, und der therapeutische Prozeß könnte
nach unserer Hypothese nicht in Gang gesetzt werden.
Da Einstellungen nicht auf einem direkten Weg wahrgenommen
werden können, wäre es etwas genauer zu sagen, daß Verhaltensweisen
und Worte des Therapeuten vom Klienten so aufgefaßt werden, daß sie
bedeuten, daß der Therapeut ihn in einem gewissen Ausmaß akzeptiert
und versteht.
Eine operationale Definition dieser Bedingung wäre nicht schwierig.
Der Klient könnte nach einem Gespräch eine Q--Sort-Liste von Items
zuordnen, die sich auf Eigenschaften beziehen, die die Beziehung
zwischen ihm und dem Therapeuten darstellen. (Es könnte die gleiche
Liste wie für die dritte Bedingung verwendet werden.) Wenn mehrere
das Akzeptieren und die Empathie beschreibende Items als für die
Beziehung charakteristisch vom Klienten zugeordnet werden, dann
kann diese Bedingung als gegeben betrachtet werden. Beim gegenwärti­
gen Stand unseres Wissens müßte die Bedeutung von »in einem
Mindestausmaß« willkürlich festgelegt werden.
176
Einige Bemerkungen
Bis zu diesem Punkt ging es um den Versuch, kurz und sachlich die
Bedingungen vorzustellen, bei denen ich dazu gekommen bin, sie als
wesentlich für psychotherapeutische Veränderung zu erachten. Ich habe
nicht versucht, den theoretischen Kontext dieser Bedingungen darzule­
gen, noch zu erklären, was ich für die treibende Kraft ihrer Wirksam­
keit halte. Solch erklärendes Material wird der interessierte Leser in
der bereits erwähnten Dokumentation finden (Rogers/Dymond 1954).
Ich habe jedoch zumindest eine Definitionsmöglichkeit, in operationa­
len Begriffen, für jede der erwähnten Bedingungen genannt. Ich habe
dies getan, um die Tatsache zu betonen, daß ich nicht von verschwom­
menen Eigenschaften rede, die idealerweise gegeben sein sollten, wenn
ein ebenso verschwommenes Ergebnis erzielt werden soll. Ich stelle hier
Bedingungen vor, die sogar beim gegenwärtigen Stand unserer Technik
grob meßbar sind, und ich habe spezielle Verfahren für jedes Beispiel
vorgeschlagen, auch wenn ich überzeugt bin, daß von einem ernsthaften
Forscher noch adäquatere Meßmethoden entwickelt werden könnten.
Meine Absicht war es, den Gedanken hervorzuheben, daß wir es nach
meiner Ansicht hier mit einem Wenn-dann-Phänomen zu tun haben,
bei dem es nicht wesentlich ist, die treibende Kraft zu kennen, um die
Hypothesen zu testen. Um es von einem anderen Gebiet her zu
veranschaulichen: Wenn eine Substanz, die wir mittels einer Reihe von
Verfahren als die Substanz, die als Salzsäure bekannt ist, identifiziert
haben, mit einer anderen Substanz gemischt wird, die wir in einer
anderen Reihe von Verfahren als Ätznatron identifiziert haben, werden
Salz und Wasser die Produkte dieser Mischung sein. Das ist so, gleich
ob man das Ergebnis nun der Zauberei zuschreiben oder es in den
zutreffendsten Begriffen der modernen Chemie erklären mag. Auf die
gleiche Weise wird hier postuliert, daß bestimmte definierbare Be­
dingungen bestimmten definierbaren Veränderungen vorausgehen und
daß diese Tatsache unabhängig von unseren Bemühungen existiert, sie
zu erklären.
Die resultierenden Hypothesen
Der hauptsächliche Wert jeder in unzweideutigen Begriffen aufgestell­
ten Theorie ist es, daß spezielle Hypothesen daraus abgeleitet werden
können, die verifizierbar beziehungsweise falsifizierbar sind. So kön­
nten die hier als notwendig und hinreichend postulierten Bedingungen,
177
selbst wenn sie mehr unzutreffend als zutreffend sind (was ich nicht
hoffe), doch noch die Wissenschaft auf diesem Gebiet voranbringen,
indem sie eine Verfahrensgrundlage bieten, von der aus Fakten von
Irrtümern ausgesondert werden können.
Die Hypothesen, die sich aus der hier aufgestellten Theorie ergäben,
wären in dieser Reihenfolge:
Wenn die genannten sechs Bedingungen (wie sie operational
definiert wurden) existieren, dann wird eine konstruktive Persönlich­
keitsveränderung (wie definiert) beim Klienten stattfinden.
Wenn eine oder mehrere dieser Bedingungen nicht vorhanden ist
oder sind, dann wird eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung
nicht stattfinden.
Diese Hypothesen gelten für jede Situation, ob sie nun als »Psycho­
therapie« bezeichnet wird oder nicht.
Einzig die Bedingung 1 ist dichotomisch (entweder sie ist gegeben
oder nicht), die restlichen fünf treten in verschiedenem Ausmaß auf,
jede auf ihrem Kontinuum. Weil das so ist, folgt daraus eine weitere
Hypothese, und sie ist wahrscheinlich die, die am einfachsten
getestet werden kann:
Wenn alle sechs Bedingungen gegeben sind, dann wird die konstruk­
tive Persönlichkeitsveränderung beim Klienten um so ausgeprägter
sein, je höher das Ausmaß ist, in dem die Bedingungen 2 bis 6
gegeben sind.
Zur Zeit kann die obige Hypothese nur in dieser allgemeinen Form
aufgestellt werden - was einschließt, daß alle Bedingungen das gleiche
Gewicht haben. Empirische Studien werden zweifelsohne noch eine
wesentliche Verfeinerung dieser Hypothese erlauben. Es kann zum
Beispiel sein, daß die anderen Bedingungen weniger wichtig sind, wenn
die Angst ein großes Ausmaß beim Klienten erreicht. Oder wenn die
bedingungslose positive Zuwendung ein großes Ausmaß hat (wie bei der
Liebe der Mutter zu ihrem Kind), daß dann vielleicht ein mäßiges
Ausmaß an Empathie ausreichend ist. Aber im Augenblick können wir
über solche Möglichkeiten nur spekulieren.
Einige Implikationen
Signifikante Auslassungen
Wenn es irgendeine überraschende Besonderheit in der Formulierung
gibt, mit der die notwendigen Bedingungen für die Therapie beschrieben
178
wurden, so liegt sie wahrscheinlich in den Elementen, die ausgelassen
wurden. In der heutigen klinischen Praxis arbeiten die Therapeuten so,
als ob es über die beschriebenen hinaus noch viele andere Bedingungen
gäbe, die für die Psychotherapie wesentlich sind. Um das deutlicher zu
machen, ist es vielleicht gut, ein paar der Bedingungen zu erwähnen,
die nach gründlicher Betrachtung unserer Forschung und unserer
Erfahrung nicht miteingeschlossen wurden.
Zum Beispiel wird nicht behauptet, daß diese Bedingungen für einen
ganz bestimmten Kliententyp angewendet werden, und daß andere
Bedingungen notwendig sind, therapeutische Veränderung bei anderen
Kliententypen hervorzubringen. Wahrscheinlich ist keine Idee in der
klinischen Arbeit heute so vorherrschend wie die, daß man mit Neuro­
tikern auf diese, mit Psychotikern auf jene Weise arbeitet; daß be­
stimmte therapeutische Bedingungen für Zwangsneurotiker, andere
wiederum für Homosexuelle geschaffen werden müssen usw. Wegen
dieses schweren Gewichts der gegenteiligen klinischen Meinung ge­
schieht es mit etwas »Furcht und Zittern«, wenn ich das Konzept
vortrage, daß die wesentlichen Bedingungen der Psychotherapie in eüier
einzigen Konfiguration bestehen, selbst wenn der Klient oder Patient
sie sehr verschiedenartig anwenden mag.7
Es wird nicht behauptet, daß diese sechs Bedingungen die wesent­
lichen Bedingungen für klientenzentrierte Therapie seien und daß
andere Bedingungen für andere Arten von Psychotherapie wesentlich
seien. Ich bin gewiß stark von meiner eigenen Erfahrung beeinflußt,
und diese Erfahrung hat mich zu einem Standpunkt geführt, der in den
Begriff »klientenzentriert« gefaßt ist. Dennoch ist es mein Ziel bei der
Aufstellung dieser Theorie, die Bedingungen zu nennen, die zu jeder
Situation gehören, in der konstruktive Persönlichkeitsveränderung ge-
7 Ich halte an meiner aufgestellten Hypothese fest, auch wenn sie von einer gerade
abgeschlossenen Studie von Kirtner (1955) in Frage gestellt wird. Kirtner hat bei
einer Gruppe von 26 Fällen am Counseling Center der Universität Chicago
herausgefunden, daß es deutliche Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie
Klienten an die Lösung von Lebensproblemen herangehen, und daß diese
Unterschiede einen Bezug zum Erfolg in de1· Therapie haben. Kurz gesagt: Der
Klient, der sieht, daß sein Problem mit seinen Beziehungen zu tun hat. und der
fühlt, daß er zu diesem Problem selbst beiträgt, und der es ändern will, wird
wahrscheinlich erfolgreich sein. Der Klient dagegen, der sein Problem nach außen
verlegt, wobei er nur wenig Selbstverantwortung verspürt, wird viel wahrschein­
licher nicht zum Ziel kommen. Das impliziert, daß es notwendig ist, einige andere
Bedingungen für die Psychotherapie mit dieser Gruppe zu schaffen. Zum jetzigen
Zeitpunkt werde ich allerdings zu meiner Hypothese, wie ich sie aufgestellt habe,
stehen, bis Kirtners Studie bestätigt ist und bis wir eine alternative Hypothese
kennen, die ihren Platz einnimmt.
179
schieht, ob wir dabei an klassische Psychoanalyse oder einen ihrer
modernen Ableger denken oder an Adlerianische Psychotherapie oder
an irgendeine andere. Es wird daher offensichtlich, daß nach meiner
Beurteilung vieles von dem, was als wesentlich verstanden wird,
empirisch als nicht wesentlich gefunden würde. Der Test einiger der
aufgestellten Hypothesen würde Licht auf diesen verblüffenden Sach­
verhalt werfen. Wir könnten natürlich herausfinden, daß verschiedene
Therapien auch verschiedene Typen von Persönlichkeitsveränderung
hervorbringen, und daß für jede Psychotherapie ein eigener Satz von
Bedingungen notwendig ist. Solange bis dies bewiesen wird, stelle ich
die Hypothese auf, daß effiziente Psychotherapie welcher Art auch
immer die gleichen Veränderungen in Persönlichkeit und Verhalten
hervorbringt, und daß ein einziger Satz von Vorbedingungen dazu
notwendig ist.
Es wird nicht behauptet, daß Psychotherapie eine spezielle Bezie­
hung ist, artverschieden von allen anderen, die im täglichen Leben
vorkommen. Es ist im Gegenteil evident, daß zumindest für kurze
Augenblicke viele gute Freundschaften die sechs Bedingungen erfüllen.
Gewöhnlich gilt dies jedoch nur vorübergehend, und dann schwankt die
Empathie, die positive Zuwendung knüpft sich an Bedingungen, oder
die Kongruenz des »therapeutischen« Freundes wird in einem gewissen
Ausmaß von einer Fassade oder Abwehrhaltung überlagert. Von daher
wird die therapeutische Beziehung als eine Steigerung der konstrukti­
ven Eigenschaften gesehen, die oft zum Teil auch in anderen Bezie­
hungen existieren, und als eine zeitliche Ausdehnung von Eigen­
schaften, die in anderen Beziehungen dazu neigen, bestenfalls vorüber­
gehend zu sein.
Es wird nicht behauptet, daß der Therapeut besondere intellektuelle
professionelle Kenntnisse - psychologische, psychiatrische, ärztliche
oder religiöse - benötigt. Die Bedingungen 3, 4 und 5, die sich speziell
auf den Therapeuten beziehen, sind Qualitäten aus der Erfahrung,
nicht aus intellektuellem Wissen. Wenn sie erworben werden sollen,
müssen sie meiner Meinung nach durch eine erfahrungsorientierte
Ausbildung erworben werden - die Teil einer professionellen Ausbil­
dung sein kann, aber für gewöhnlich nicht ist. Es macht mir Unbeha­
gen, einen derart radikalen Standpunkt zu vertreten, aber ich kann
keinen anderen Schluß aus meiner Erfahrung ziehen. Intellektuelle
Ausbildung und der Erwerb von Wissen bringen, wie ich glaube, viele
wertvolle Ergebnisse - aber ein Therapeut zu werden, ist keines von
diesen Ergebnissen.
Es wird nicht behauptet, daß es für die Psychotherapie notwendig ist,
180
daß der Therapeut eine genaue psychologische Diagnose des Klienten
besitzt. Auch hier macht es mir Unbehagen, einen Standpunkt zu
vertreten, der so sehr von meinen klinischen Kollegen abweicht. Wenn
man an den gewaltigen Zeitaufwand denkt, der in jedem psychologi­
schen oder psychiatrischen Zentrum oder jeder Nervenheilanstalt dar­
auf verwendet wird, eine erschöpfende psychologische Evaluation des
Klienten oder Patienten vorzunehmen, so scheint es, als ob dies, soweit
es die Psychotherapie betrifft., einem nützlichen Zweck dienen müsse.
Doch je mehr ich Therapeuten beobachtet habe und je genauer ich
Forschungsergebnisse wie die von Fiedler und anderen (1953) studiert
habe, desto mehr bin ich zu dem Schluß gezwungen, daß solche
diagnostischen Kenntnisse für die Psychotherapie nicht wesentlich
sind.8 Es kann sogar sein, daß ihre Verteidigung als notwendiges
Vorspiel zur Psychotherapie lediglich eine Schutzbehauptung gegen das
Eingeständnis ist, daß sie zum größten Teil eine kolossale Zeit­
verschwendung darstellen. Es gibt nur einen nützlichen Zweck, den ich
im Hinblick auf Psychotherapie zu beobachten imstande war. Einige
Therapeuten können sich nicht sicher fühlen in der Beziehung zum
Klienten, wenn sie nicht solche diagnostischen Kenntnisse besitzen.
Ohne sie fühlen sie Furcht vor ihm, fühlen sich unfähig, empathisch zu
sein, unfähig, bedingungslose Zuwendung zu empfinden, und finden es
notwendig, in der Beziehung einen Vorwand zu haben. Wenn sie im
voraus von Selbstmordimpulsen Kenntnis haben, können sie diese
irgendwie besser akzeptieren. So kann die Sicherheit, die manche
Therapeuten durch diagnostische Information spüren, vielleicht eine
Basis dafür sein, daß sie sich selbst erlauben, in der Beziehung
integriert zu sein und Empathie und volles Akzeptieren zu empfinden.
In diesen Fällen wäre eine psychologische Diagnose sicherlich gerecht­
fertigt als Beitrag zum Komfort und von daher zur Effizienz des
Therapeuten. Aber sogar hier scheint sie nicht eine grundlegende
Vorbedingung für Psychotherapie zu sein.9
8 Es ist hier nicht die Absicht zu behaupten, diagnostische Evaluation sei nutzlos.
Wir haben selbst ausgiebigen Gebrauch von solchen Methoden in unseren
Forschungsarbeiten zur Persönlichkeitsveränderung gemacht. Es ist ihr Nutzen
als Vorbedingung für Psychotherapie, der hier in Frage gestellt wird.
9 Im Spaß habe ich einmal vorgeschlagen, man könnte es solchen Therapeuten auch
dadurch behaglich machen, daß man ihnen die Diagnose irgendeiner anderen
Person gibt, nicht die des betreffenden Patienten oder Klienten. Der Umstand, daß
sich die Diagnose dann als falsch erweist im Verlauf dei· Psychotherapie, würde
sich nicht sonderlich störend auswirken, weil man immer damit rechnet,
Ungenauigkeiten in der Diagnose zu entdecken, wenn man mit dem Einzelnen
arbeitet.
181
Ist diese theoretische Formulierung nützlich?
Abgesehen von der persönlichen Befriedigung, die sie als ein gewagtes
Unternehmen der Abstraktion und Verallgemeinerung bietet, welchen
Wert hat darüber hinaus eine theoretische Darstellung, wie sie in die­
sem Artikel gegeben wurde? Vielleicht sollte ich den Nutzen, den sie
meiner Meinung nach haben kann, etwas ausführlicher zum Ausdruck
bringen.
Auf dem Gebiet der Forschung kann diese Darstellung die Richtung
angeben und ein Anstoß für Untersuchungen sein. Da sie die Bedin­
gungen konstruktiver Persönlichkeitsveränderung als allgemeingültig
ansieht, erweitert sie die Möglichkeiten zu ihrem Studium außerordent­
lich. Psychotherapie ist nicht die einzige Situation, in der es um kon­
struktive Persönlichkeitsveränderung geht. Oft zielen auch Ausbil­
dungsprogramme für Führungskräfte in der Industrie und solche für
militärisches Führungspersonal auf eine solche Veränderung. Bildungs­
institutionen oder -programme zielen häufig auf Charakter- und Per­
sönlichkeitsentwicklung ebenso wie auf die Entwicklung intellektueller
Fertigkeiten ab. Kommunale Stellen zielen auf Persönlichkeits- und
Verhaltensänderung bei Kriminellen und Straffälligen. Solche Program­
me böten eine Gelegenheit, die vorgetragenen Hypothesen auf breiter
Ebene zu testen. Sollte sich herausstellen, daß konstruktive Persönlich­
keitsveränderung sich in solchen Programmen auch dann einstellt,
wenn die als Hypothese aufgestellten Bedingungen nicht erfüllt sind,
dann müßte die Theorie revidiert werden. Wenn die Hypothesen jedoch
unterstützt werden, dann wären die Ergebnisse sowohl für die Planung
solcher Programme wie auch für unsere Kenntnis der menschlichen
Antriebskräfte bedeutungsvoll. Auf dem Gebiet der Psychotherapie
selbst könnte sich die Anwendung konsistenter Hypothesen für die
Arbeit von verschiedenen Schulen von Therapeuten als in hohem Grad
nützlich erweisen. Die Falsifizierung der vorgetragenen Hypothesen
würde auch hier ebenso wichtig sein wie ihre Verifizierung, insofern
beide Resultate einen bedeutenden Beitrag zu unserem Wissensstand
leisten würden.
Für die psychotherapeutische Praxis bietet die Theorie außerdem
bedeutende Probleme, die zu bedenken sind. Eine ihrer Implikationen
ist, daß die Techniken der verschiedenen Therapien relativ unwichtig
sind, außer in dem Ausmaß, in dem sie als Kanäle für die Erfüllung
einer der genannten Bedingungen dienen. Für die klientenzentrierte
Therapie zum Beispiel wurde die Technik des »Reflektierens von
Gefühlen« beschrieben und kommentiert (Rogers 1951, 26-36 [dt.: S.
182
40-481). Hinsichtlich der Theorie, die hier vorgestellt wird, ist diese
Technik in keiner Weise eine wesentliche Bedingung für Therapie. In
dem Ausmaßjedoch, in dem sie einen Kanal zur Verfügung stellt, durch
den der Therapeut eine feinfühlige Empathie und eine bedingungslose
Zuwendung zum Ausdruck bringt, kann sie als technischer Kanal
dienen, durch den die wesentlichen Bedingungen von Therapie erfüllt
werden. In der gleichen Weise würde die von mir vorgestellte Theorie
keinen wesentlichen therapeutischen Wert in solchen Techniken sehen
wie Interpretation der Persönlichkeitsdynamik, freier Assoziation,
Traumanalyse, Übertragungsanalyse, Hypnose, Interpretation des Le­
bensstils, Suggestion und ähnlichen. Jedoch kann jede dieser Techniken
ein Kanal werden, um die wesentlichen Bedingungen, die formuliert
wurden, zu kommunizieren. Eine Interpretation kann vielleicht auf eine
Weise gegeben werden, die die bedingungslose positive Zuwendung des
Therapeuten mitteilt. Einern Strom freier Assoziation kann vielleicht in
der Weise zugehört werden, die eine vom Therapeuten empfundene
Empathie zum Ausdruck bringt. Im Umgang mit der Übertragung
kommuniziert ein effizienter Therapeut oft seine eigene Ganzheit und
Kongruenz in der Beziehung. Ähnlich bei den anderen Techniken. Aber
ebenso wie diese Techniken die für die Therapie wesentlichen Elemente
zum Ausdruck bringen können, so kann jede von ihnen ebenso auch
Einstellungen und Erfahrungen zum Ausdruck bringen, die in scharfem
Gegensatz zu den hier als Hypothese aufgestellten Bedingungen der
Therapie stehen. Gefühl kann auf eine Weise »reflektiert« werden, die
den Mangel an Empathie des Therapeuten zum Ausdruck bringt.
Interpretationen können auf eine Weise gegeben werden, die die sehr
bedingte Zuwendung des Therapeuten anzeigt. Jede der Techniken
kann die Tatsache kommunizieren, daß der Therapeut eine Einstellung
ausdrückt, die seinem eigenen Bewußtsein gegenüber verleugnet wird.
So liegt ein Wert einer solchen theoretischen Formulierung, wie wir sie
vorgelegt haben, darin, daß sie den Therapeuten vielleicht hilft, kriti­
scher nachzudenken über jene Elemente ihrer Erfahrungen, Einstel­
lungen und Verhaltensweisen, die für die Psychotherapie wesentlich
sind, und über jene, die für sie nicht wesentlich oder schädlich sind.
Schließlich kann diese Formulierung in jenen Programmen - auf
dem Gebiet der Bildung, des Strafvollzugs, des Militärwesens oder der
Industrie - mit dem Ziel einer konstruktiven Veränderung der Persön­
lichkeitsstruktur und des Verhaltens des einzelnen als ein sehr ver­
suchsweise angesetztes Kriterium dienen, an dem das jeweilige Pro­
gramm gemessen wird. Bis es durch Forschung weiter getestet ist, kann
es nicht als ein valides Kriterium gelten, es kann aber wie auf dem
183
Gebiet der Psychotherapie helfen, eine kritische Analyse und die For­
mulierung alternativer Bedingungen und Hypothesen anzuregen.
Zusrunmenfassung
Aus einem größeren theoretischen Kontext wurden sechs Bedingungen
abgeleitet, die als notwendige und hinreichende Bedingungen für die
Einleitung eines Prozesses konstruktiver Persönlichkeitsveränderung
postuliert wurden. Für jede dieser Bedingungen wurde eine kurze Er­
klärung gegeben und es wurden Vorschläge gemacht, wie jede opera­
tional zu Forschungszwecken definiert werden kann. Es wurden die
Implikationen dieser Theorie für Forschung, Psychotherapie sowie Bil­
dungs- und Ausbildungsprogramme mit dem Ziel konstruktiver Persön­
lichkeitsveränderung aufgezeigt. Es wurde herausgestellt, daß viele der
Bedingungen, die gemeinhin als wesentlich für die Psychotherapie
betrachtet werden, vom Standpunkt dieser Theorie unwesentlich sind.10
Literatur
BOWN, O.H., An investigation of the therapeutic relationship in client-centered
therapy. Unveröffentlichte Dissertation, University ofChicago 1954
CHODORKOFF, 8., Self-perception, perceptual defense, and adjustment, in: Journal
ofAbnormal and Asocial Psychology 49 (1954) 508-512
FIEDLER, F.E., A comparison of therapeutic relationships in psychoanalytic,
non-directive and Adlerian therapy, in: Journal ofConsulting Psychology 14 (1950)
436-445
FIEDLER, F.E., Quantitative studies on the role oftherapist's feelings toward their
patients, in: Mowrer, O.H. (Hg.), Psychotherapy. Theory and research, New York
(Ronald Press) 1953
KIRTNER, W.L., Success and failure in client--centered therapy as a function of
personality variables. Unveröffentliche Diplomarbeit, University ofChicago 1955
ROGERS, C.R., Client--centered therapy. Boston (Houghton Mifflin) 1951; dt.: Die
klient-bezogene Gesprächstherapie, München (Kindler) 1973 [Rogers 1951a]
ROGERS, C.R. f DYMOND, ROSALIND F. (Hg.), Psychotherapy and personality
change, Chicago (University ofChicago Press) 1954
STANDAL, S., The need for positive regard. A contribution to client-centered theory.
Unveröffentlichte Dissertation, University ofChicago 1954
10 Zum heutigen Fo1·schungsstand vgl. Watson, N., The empirical status of Roger's
hypotheses ofthe necessary and sufficient conditions for effective psychotherapy,
in: Levant/Shlien (Hg.), Client-Centered therapy and the person-centered
approach, New York (Praeger) 1984, 17-40; Braaten, L.J., Thirty years with
Roger's necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change, in:
Person-Centered Review 1,1 (1986) 262-271; Patterson, C.H., Empathy, warmth
and genuineness in psychotherapy. A review of reviews, in: Psychotherapy 21
(1984) 431-438.
184

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  • 1. Carl R. Rogers Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie Im Jahr 1957, bei einem Vortrag vor dem Counseling Center Staffan der Universität von Chicago machte Rogers zunächst nicht viel Eindruck mit seiner, wie es vielen schien, allzu simplen Theorie über Psychotherapie und Persönlichkeitsveränderung, an der den Experten auch eine Menge wichtiger Kenntnisse zu fehlen schien. Tatsächlich entpuppte sich dieser Aufsatz jedoch bald als einer von Rogers' fruchtbarsten Beiträgen auf dem Gebiet der Psychotherapie und wurde eine seiner heuristisch wichtigsten Schriften: Er gab damit den Anstoß zu einer ganz außer­ ordentlichen Fülle von Forschungsarbeiten, die in der Folge von ihm selbst und weltweit von vielen anderen in Angriff genommen wurden - und dabei eine weitgehende Bestätigung vieler Elemente brachten. Heute gilt der Artikel als ein Klassiker der Fachliteratur. Diese Thesen haben die Psychotherapieforschung und das Verständnis von Psychotherapie nicht nur im klientenzentrierten Bereich nachhaltig beeinfiußt. Das Modell hat sich als sehr lebensfähig erwiesen. Ungeach­ tet zahlreicher »Ergänzungs- und Uminterpretationsversuche« durch andere stand Rogers bis zuletzt zu diesem Artikefl und bezog sich in seinen Arbeiten - in denen er die hier aufgestellten Bedingungen für Persönlichkeitswachstum noch oft und immer genauer beschrieb - immer wieder darauf. Nach wie vor bildet dieses Modell die wichtigste Grundlage für das Verständnis nicht nur der psychotherapeutischen, sondernjeder helfenden Beziehung. Wie Rogers selbst schreibt, handelt es sich hier um einen Ausschnitt aus einer größeren theoretischen Konzeption, an der er 1957, dem Jahr der Entstehung dieses Artikels, gerade arbeitete und die er 1959 1 Vgl. etwa das 1983 geführte Interview Rogers, C.R. / Heppner, P.P. / Rogers, ME./ Lee, L.A, Gart Rogers: Refiections on his life, in: Journal of Counseling and Development 63 (1984) 14-20; dt.: Carl Rogers: Betrachtungen über sein Leben, in: Zeitschrift für Personenzentrierte Psychologie und Psychotherapie 2 (1985) 207-213, hier 209. {Hinweis: Kursiv geschriebene Anmerkungen wurden der besseren Verständlichheit halber bei der Übersetzung von mir eingefügt. pfs] 165
  • 2. veröffentlichte (»Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen«, 1959a). Er stellt hier seine Theorie der Psychotherapie und des Persönlichkeitswachstums in den »Wenn-dann«-Formulierungen der experimentellen Forschung dar. Er bezeichnet diese Darstellung selbst als »rigorous«, was sowohl »rigoros, streng« wie auch »ganz genau«, Ja »peinlich genau« heißt. Und so genau wollen sie auch gelesen sein, will man sie richtig verstehen und nicht durch die Brille verschiedener inzwischen leider populär gewordener Mißverständnisse und Verkürzungen betrachten. So etwa ist beispielsweise kaum beachtet worden, daß Rogers hier von sechs und nicht nur von drei Bedingungen spricht. Nach wie vor gültig - gerade auch angesichts der Behauptungen von der Notwendigkeit ergänzender Technillen oder integrativer Verfahren - ist auch die Schärfe Jener Formulierungen, in denen er gegen Ende des Artihels schreibt, welche Behauptungen signifihanterweise hier nicht aufgestellt werden, das heißt, was alles mit dieser Theorie nicht behauptet wird: Etwa daß verschiedene Kliententypen verschiedene therapeutische Be­ dingungen bräuchten oder daß Psychotherapeuten spezielle Kenntnisse besitzen müßten. Aufschlußreich ist auch, welchen Stellenwert Rogers der Diagnose für die Psychotherapie - besser: für die Sicherheitsbedürf nisse der Psychotherapeuten -- und den psychotherapeutischen Tech­ niken zuweist. Es ist bemerlwnswert, wie deutlich Rogers von Anfang an den fundamentalen Unterschied zu den herrschenden Auffassungen und damit die Radilmlität seiner Hypothesen hervorstrich. Auch nach 50 Jahren personzentrierter Bewegung haben diese Klarstellungen nichts an Aktualität eingebüßt.2 pfs Seit vielen Jahren bin ich in der Psychotherapie mit Menschen beschäf­ tigt, die sich in einer Notlage befinden. In den letzten Jahren fand ich mich zunehmend damit befaßt, aus dieser Erfahrung die allgemeinen Prinzipien zu abstrahieren, von denen ich den Eindruck habe, dru1 sie aus ihr folgen. Ich habe mich bemüht, irgendeine Regelmäßigkeit, irgendeine Einheit zu entdecken, die in diesem heiklen und komplexen Gewebe der zwischenmenschlichen Beziehung, von dem ich in der 2 Rogers 1957a: The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change, zuerst veröffentlicht in: Journal of Consulting Psychology, 21,2 (1957) 95-103. Übersetzung und Abdruck mit Genehmigung des Autors. Deutschsprachige Erstpublikation. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Manfred Werkmei.�ter und Peter F. Schmid. 166 therapeutischen Arbeit so beständig in Anspruch genommen bin, ent­ halten zu sein scheint. Eines der aktuellen Ergebnisse dieser Be­ mühung ist ein Versuch, in formalen Begriffen eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Be­ ziehung aufzustellen, die die Phänomene meiner Erfahrung einschließt und enthält. Was ich mit diesem Artikel möchte, ist, einen sehr kleinen Ausschnitt aus dieser Theorie etwas vollständiger herauszustellen und seine Bedeutung und seinen Nutzen zu erforschen. Das Problem Die Frage, der ich mich hier zuwenden möchte, lautet: Ist es möglich, in klar definierbaren und meßbaren Begriffen die psychologischen Be­ dingungen zu nennen, die notwendig und hinreichend sind, eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung herbeizuführen? Mit anderen Worten: Kennen wir mit einiger Genauigkeit jene Elemente, die wesent­ lich sind, wenn sich eine psychotherapeutische Veränderung ergeben soll? Bevor ich zur Hauptsache komme, lassen Sie mich ganz kurz noch den zweiten Teil der Frage vornehmen. Was ist gemeint mit Aus­ drücken wie »psychotherapeutische Veränderung« oder »konstruktive Persönlichkeitsveränderung«? Dieses Problem verdient ebenfalls eine tiefe und ernsthafte Betrachtung, aber lassen Sie mich für jetzt eine dem gesunden Menschenverstand genügende Bedeutung vorschlagen, auf die wir uns für die Absichten dieses Artikels vielleicht einigen können. Diese Ausdrücke besagen: eine Veränderung in der Persönlich­ keitsstruktur des Individuums sowohl an der Oberfläche wie auch auf tieferen Ebenen, und zwar in einer Richtung - die Kliniker würden mir hier zustimmen -, die stärkere Integration, weniger inneren Konflikt und mehr Energie bedeutet, die für effizientes Leben nutzbar ist; eine Verhaltensänderung weg von im allgemeinen als unreif betrachteten Verhaltensweisen und hin zu solchen, die als reif angesehen werden. Diese kurze Beschreibung mag ausreichen, um die Art von Veränderung zu bezeichnen, deren Vorbedingungen wir im folgenden erörtern wollen. Sie mag ebenso die Art und Weise nahelegen, wie dieses Kriterium der Veränderung bestimmt werden kann.3 3 Daß dies ein meßbares und bestimmbares Kriterium ist, wurde in Forschungsar­ beiten. die bereits abgeschlossen sind, dargelegt. Siehe Rogers/Dymond 1954. insbesondere die Kapitel 8, 13 und 17. 167
  • 3. Die Bedingungen Bei der Betrachtung meiner eigenen klinischen Erfahrung wie auch der meiner Kollegen zusammen mit der einschlägigen Forschung, die zugänglich ist, habe ich einige Bedingungen abgeleitet, die mir notwen­ dig erscheinen, eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung anzubah­ nen, und die zusammengenommen auch aussehen, als wären sie hinreichend, diesen Prozeß in Gang zu setzen. Während ich an diesem Problem gearbeitet habe, hat es mich überrascht, wie einfach das ist, was da zum Vorschein kam. Mit der folgenden Darstellung wird keine Versicherung für ihre Richtigkeit abgegeben; ich bringe aber die Erwartung zum Ausdruck, daß sie den Wert einer jeden Theorie hat, nämlich den, daß sie eine Reihe von Hypothesen aufstellt oder impli­ ziert, die offen sind für Verifikation oder Falsifikation, womit zugleich unsere Kenntnis des Gebietes geklärt und erweitert wird. Weil ich mit diesem Artikel keine Spannung erzeugen möchte, werde ich sogleich in mehreren ganz genauen und kurz zusammengefaßten Begriffen die sechs Bedingungen nennen, bei denen ich dazu gekommen bin, sie für grundlegend für den Prozeß der Persönlichkeitsveränderung zu halten. Dabei ist die Bedeutung einer Anzahl von Ausdrücken nicht unmittelbar evident, sie werden aber in den folgenden erläuternden Abschnitten erklärt werden. Es ist zu hoffen, daß diese kurze Darstel­ lung für den Leser eine viel größere Bedeutung haben wird, wenn er den Artikel zu Ende gelesen hat. Lassen Sie mich ohne weitere Einführung die grundlegende theoretische Position formulieren. Damit sich konstruktive Persönlichkeitsveränderung ereignet, ist es notwendig, daß die folgenden Bedingungen gegeben sind und über eine gewisse Zeitspanne hinweg andauern: 1. Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt. 2. Die erste, die wir Klient nennen werden, befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar oder ängstlich. 3. Die zweite Person, die wir Therapeut nennen werden, ist kongruent oder integriert in der Beziehung. 4. Der Therapeut empfindet eine bedingungslose positive Zuwendung dem Klienten gegenüber. 5. Der Therapeut empfindet ein empathisches Verstehen des inneren Bezugsrahmens des Klienten und ist bestrebt, diese Erfahrung dem Klienten gegenüber zum Ausdruck zu bringen. 6. Die Kommunikation des empathischen Verstehens und der be­ dingungslosen positiven Zuwendung des Therapeuten dem Klienten gegenüber wird wenigstens in einem minimalen Ausmaß erreicht. 168 Keine anderen Bedingungen sind notwendig. Wenn diese sechs Be­ dingungen gegeben sind und über eine bestimmte Zeitspanne hinweg andauern, ist dies hinreichend. Der Prozeß der Persönlichkeitsentwick­ lung wird folgen. Eine Beziehung Die erste Bedingung gibt an, daß ein Minimum an Beziehung, ein psychologischer Kontakt, vorhanden sein muß. Ich stelle die Hypothese auf, daß eine positive Persönlichkeitsveränderung von Bedeutung nur in einer Beziehung zustandekommt. Dies ist natürlich eine Hypothese, und sie kann vielleicht widerlegt werden. Die Bedingungen 2 bis 6 definieren die Charakteristika der Bezie­ hung, die als wesentlich erachtet werden, indem die notwendigen Charakteristika jeder der Personen in der Beziehung definiert werden. Alles, was mit dieser ersten Bedingung beabsichtigt ist, ist die Feststel­ lung, daß die zwei Leute in einem gewissen Ausmaß miteinander in Kontakt stehen, daß jeder von ihnen im jeweiligen Erfahrungsfeld des anderen einen wahrnehmbaren Unterschied ausmacht. Wahrscheinlich genügt es, wenn jeder nur unterschwellig einen Unterschied ausmacht, selbst wenn der Einzelne sich dieser Wirkung nicht bewußt sein mag. So dürfte es schwierig sein zu wissen, ob ein katatoner Patient die Gegenwart eines Therapeuten so wahrnimmt, daß das einen Un­ terschied für ihn ausmacht - einen Unterschied welcher Art auch immer - aber es ist fast sicher, daß er auf irgendeiner organischen Ebene diese Veränderung tatsächlich spürt. Außer in einer solch schwierigen Grenzsituation wie der eben beschriebenen wäre es relativ leicht, diese Bedingung in operationalen Begriffen zu definieren und so von einem hartgesottenen Forschungsstandpunkt aus, festzustellen, ob die Bedingung vorhanden ist oder nicht. Die einfachste Methode der Bestimmung beinhaltet einfach das Bewußtsein von beiden, Klient und Therapeut. Wenn jeder von beiden sich dessen bewußt ist, daß er mit dem anderen in persönlichem oder psychologischem Kontakt steht, dann ist diese Bedingung erfüllt. Die erste Bedingung der therapeutischen Veränderung ist so einfach, daß sie vielleicht als eine Voraussetzung oder Vorbedingung bezeichnet werden sollte, um sie von denen, die noch folgen, zu unterscheiden. Ohne sie jedenfalls hätten die übrigen Punkte keine Bedeutung, und das ist der Grund dafür, sie miteinzubeziehen. 169
  • 4. Der Zustand des Klienten Es wurde ausgeführt, daß es notwendig sei, daß der Klient »sich in einem Zustand der Inkongruenz befindet, verletzbar oder ängstlich ist«. Welche Bedeutung haben diese Begriffe? Inkongruenz ist ein grundlegendes Konstrukt in der Theorie, die wir entwickelt haben. Sie bezieht sich auf eine Diskrepanz zwischen der aktuellen Erfahrung des Organismus und dem Selbstbild des Indivi­ duums, insofern es diese Erfahrung repräsentiert. So wird vielleicht ein Mensch auf einer ganzheitlichen oder organismischen Ebene Angst empfinden vor der Universität und vor Prüfungen, die im dritten Stock eines bestimmten Gebäudes abgehalten werden, weil diese möglicher­ weise eine Unzulänglichkeit in ihm aufzeigen. Da eine solche Angst vor seiner Unzulänglichkeit fraglos im Widerspruch steht zu seinem Selbst­ konzept, wird diese Erfahrung in seinem Bewußtsein (verzerrt) als eine unbegründete Angst repräsentiert, die Treppen in diesem Gebäude hinaufzusteigen oder in irgendeinem Gebäude und bald auch als unbegründete Angst, das offene Universitätsgelände zu überqueren. Wir haben da eine fundamentale Diskrepanz zwischen der erfahrenen Bedeutung der Situation, wie sie von seinem Organismus registriert wird, und der symbolischen Repräsentation dieser Erfahrung im Bewußtsein, und zwar auf ein solche Weise, daß mit dem Bild, das er von sich selbst hat, kein Konflikt aufkommt. In diesem Falle Furcht vor seiner Unzulänglichkeit zuzugeben, würde dem Bild, das er von sich selbst hat. widersprechen; wenn er sich selbst unverständliche Ängste eingesteht, widerspricht es seinem Selbstkonzept nicht. Ein anderes Beispiel wäre die Mutter, die immer dann bestimmte Krankheiten entwickelt, wenn ihr Sohn Pläne macht, von zu Hause wegzugehen. Der eigentliche Wunsch liegt darin, die einzige Quelle ihrer Befriedigung festzuhalten. Dies bewußt wahrzunehmen, wäre unvereinbar mit dem Bild, das sie von sich selbst als einer guten Mutter hat. Krankheit dagegen verträgt sich mit ihrem Selbstkonzept, und die Erfahrung wird auf diese verzerrte Weise symbolisiert. Daher gibt es auch hier wieder eine grundlegende Inkongruenz zwischen dem wahr­ genommenen Selbst (in diesem Fall als kranke Mutter Aufmerksamkeit nötig zu haben) und der aktuellen Erfahrung (in diesem Fall der Wunsch, ihren Sohn festzuhalten). Wenn das Individuum nicht das Bewußtsein einer solchen Inkon­ gruenz in sich selbst hat, dann ist es lediglich verwundbar im Hinblick auf die Möglichkeit von Angst und Desorganisation. Irgendeine Erfah­ rung könnte so plötzlich oder so offensichtlich auftreten, daß die 170 Inkongruenz nicht verleugnet werden könnte. Deshalb ist die Person im Hinblick auf eine solche Möglichkeit verletzbar. Wenn das Individuum in sich selbst dunkel eine solche Inkongruenz wahrnimmt, dann entsteht ein Spannungszustand, der als Angst be­ kannt i�t. Die Inkongruenz muß nicht in voller Schärfe wahrgenommen werden. Es genügt, daß sie unterschwellig wahrgenommen wird - das heißt als bedrohlich für das Selbst ausgemacht wird, ohne jedes Bewußtsein vom Inhalt dieser Bedrohung. Solche Angst ist oft in der Therapie zu beobachten, wenn das Individuum an irgendein Element seiner Erfahrung herankommt, das in scharfem Gegensatz zu seinem Selbstkonzept steht. Es ist nicht leicht, eine genaue und operationale Definition für diese zweite der sechs Bedingungen zu geben, doch ist dies bis zu einem gewissen Grad schon erreicht worden. Einige Forscher haben das Selbstkonzept definiert mittels eines vom Individuum vorgenommenen Q-Sort4 aus einer Liste von Items, die sich auf das Selbst beziehen. Das gibt uns ein operationales Bild vom Selbst. Das ganzheitliche Erfahren des Individuums ist schwieriger zu erfassen. Chodorkoff (1954) hat es als ein Q-Sort definiert, das von einem Kliniker vorgenommen wird, der unabhängig dieselben Items, die sich auf das Selbst beziehen, sortiert, wobei er seine Zuordnung auf das Bild gründet, das er vom Individuum 4 Das Q-Sort, entwickelt von William Stephen,qon, einem Forscher an der Universität Chicago (The study of behavior. Q-technique and its methodology, Chicago [Univernity of Chicago Press] 1953), ist ein Schätzverfahren, das in der experimen­ tellen Psychologie, vor allem in der Persönlichkeitsdiagnostik und in der Psychoth­ erapieforschung -- beispielsweise zum Vergleich von Selbstideal-Bildern vor und nach der Psychotherapie - gerne benutzt wurde. Dabei werden von der Versuchsperson eine größere Anzahl von Items (meist Kärtchen mit Behauptungen, z. B. Eigenschaflsbe..qchreibungen) nach dem Grad sortiert, nach dem sie ihrer Meinung nach einen bestimmten Sachverhalt oder eine Person charakterisieren. Der Beurteiler muß die Karten bestimmten Kategorien zuordnen. Die Ergebnisse des Q-Sorts können mit Hilfe der sogenannten Q-Technik der Faktorenanalyse weiter berechnet werden. - Rogers und seine Mitarbeiter haben das Q-Sort für die Counseling-Forschung adaptiert und vielfach verwendet. Die spezifische Form, die Rogers entwickelte, wurde SIO-Q-Sort genannt (»Seif, Ideal, Ordinary«): Den Klienten wurden 100 Karten mit solchen »self-referent items« (Karten mit Aussagen, die tatBächlich von Klienten gemachten Äußerungen entnommen waren, z. B. »Ich bin ein gehorsamer Mensch«, »Ich bin ein harter Arbeiter«, »Ich bin liebenswert«) gegeben, die er in 9 Kategorien zu ordnen hatte (von auf die eigene Person am ehe..qten zutreffenden Aussagen bis zu solchen, die am wenigsten entsprechen). 3 verschiedene Sorts (»S« zum Selbstkonzept, »I« zum Idealbild und »O« zum Bild vom normalen Menschen) zu 3 verschiedenen Zeitpunkten (vor, während und nach der Therapie) wurden vorgenommen. Die Ergebnisse wurden unter anderem in Rogers/Dymond 1954 veröffentlicht. 171
  • 5. durch projektive Tests gewonnen hat. Seine Zuordnung umfaßt daher sowohl unbewußte wie bewußte Elemente der Erfahrung des Indivi­ duums und gibt so (auf eine zugegebenermaßen unvollkommene Weise) die Gesamtheit der Erfahrung des Klienten wieder. Die Korrelation zwischen diesen beiden Zuordnungen gibt ein rohes operationales Maß der Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung, wobei eine niedrige bzw. negative Korrelation natürlich einen hohen Grad von Inkongruenz darstellt. Die Echtheit des Therapeuten in der Beziehung Die dritte Bedingung lautet, daß der Therapeut innerhalb der Grenzen dieser Beziehung eine kongruente, echte, integrierte Person sein sollte. Das heißt, daß er innerhalb der Beziehung frei und tief er selbst ist, wobei seine gegenwärtige Erfahrung exakt von seinem Bewußtsein, das er von sich selbst hat, repräsentiert ist. Es ist dies das Gegenteil davon, eine Fassade zu präsentieren, sei es wissentlich oder unwissentlich. Es ist nicht notwendig (noch ist es möglich), daß der Therapeut ein Musterknabe ist, der diesen Grad von Integration, von Ganzheit in jedem Aspekt seines Lebens an den Tag legt. Es genügt, daß er exakt er selbst ist, in dieser Stunde dieser Beziehung, daß er in diesem grundsätzlichen Sinn ist, was er tatsächlich zu diesem Zeitpunkt ist. Es sollte somit klar sein, daß dies einschließt, sogar bei Verhaltens­ weisen er selbst zu sein, die nicht als ideal für die Psychotherapie gelten. Seine Erfahrung ist möglicherweise: »Ich fürchte mich vor diesem Klienten« oder »Meine Aufmerksamkeit ist so sehr auf meine eigenen Probleme fixiert, daß ich ihm kaum zuhören kann.« Wenn der Therapeut diese Gefühle seinem Bewußtsein gegenüber nicht verleug­ net, sondern fähig ist, sie frei zu sein (genauso wie er seine anderen Gefühle ist), dann ist die Bedingung, die wir aufgestellt haben, erfüllt. Es würde uns zu weit wegführen, die verwirrende Angelegenheit hinsichtlich des Ausmaßes zu erörtern, bis zu dem der Therapeut diese Realität in sich selbst dem Klienten gegenüber offen kommuniziert. Sicher ist es für den Therapeuten nicht das Ziel, seine eigenen Gefühle zum Ausdruck zu bringen oder auszusprechen, sondern primär, daß er dem Klienten in bezug auf sich selbst nichts vormachen sollte. Manch­ mal ist es möglicherweise für ihn nötig, einige seiner eigenen Gefühle auszusprechen (entweder dem Klienten gegenüber oder einem Kollegen oder Supervisor gegenüber), wenn sie den beiden folgenden Be­ dingungen im Wege stehen. 172 Es ist nicht allzu schwierig, eine operationale Definition für diese dritte Bedingung vorzuschlagen. Wir greifen dazu wieder auf die Q-Technik zurück. Wenn der Therapeut eine Reihe von für die Beziehung relevan­ ten Items sortiert (und dabei eine ähnliche Liste wie die von Fiedler [1950 und 1953] und Bown [1954] verwendet), wird das seine Wahrneh­ mung seiner Erfahrung in der Beziehung ergeben. Wenn mehrere Beurteiler, die das Gespräch beobachtet oder eine Aufzeichnung davon gehört (oder einen Tonfilm davon gesehen) haben, jetzt dieselben Items sortieren, um ihre Wahrnehmung der Beziehung darzustellen, wird diese zweite Zuordnung wohl jene Elemente des Verhaltens und der gefolgerten Einstellungen des Therapeuten festhalten, deren er sich nicht bewußt ist, ebenso aber jene, deren er sich bewußt ist. So würde eine hohe Korrelation zwischen der Zuordnung des Therapeuten und der Zuordnung des Beobachters in Rohform eine operationale Definition der Kongruenz oder Integration des Therapeuten in der Beziehung darstellen; und eine niedrige Korrelation würde das Gegenteil zeigen. Bedingungslosepositive Zuwendung In dem Ausmaß, in dem der Therapeut selbst ein warmes Akzeptieren von jedem Aspekt der Erfahrung des Klienten als einem Teil dieses Klienten empfindet, empfindet er eine bedingungslose positive Zuwen­ dung. Dieses Konzept wurde von Standal (1954) entwickelt. Das bedeutet, daß es da keinerlei Bedingungen des Akzeptierens gibt, kein Gefühl wie »Ich mag dich nur, wenn du so und so bist«. Es meint ein Wertschätzen der Person, wie Dewey diesen Begriff5 gebraucht hat. Es ist der Gegenpol zu einer selektiven Bewertungshaltung - »Du bist schlecht auf diese Weise, gut auf jene«. Es schließt in ebensolchem Maße ein Gefühl der Akzeptanz für den Ausdruck von negativen, »schlechten«, schmerzhaften, ängstlichen, abwehrenden, abnormalen Gefühlen durch den Klienten ein wie für seinen Ausdruck von »guten«, positiven, reifen, vertrauensvollen, sozialen Gefühlen; es schließt im gleichen Maße Akzeptieren von Verhaltensweisen ein, in denen er sich inkonsistent, wie von solchen, in denen er sich konsistent zeigt. Es meint ein Anteilnehmen am Klienten, aber nicht auf eine besitzergrei­ fende Art oder auf eine Weise, die lediglich die eigenen Bedürfnisse des Therapeuten befriedigt. Es meint ein Anteilnehmen am Klienten als einer selbständigen Person, die ihre eigenen Gefühle, ihre eigenen 5 »prizing« . 173
  • 6. Erfahrungen haben darf. Ein Klient beschreibt den Therapeuten als einen, der »unterstützt, daß meine eigene Erfahrung mir gehört ... daß [dies] meine Erfahrung ist, und daß ich es bin, der sie im Augenblick hat: daß ich denke, was ich denke, fühle, was ich fühle, will, was ich will, Angst habe vor dem, wovor ich Angst habe: keine ,Wenn und Aber, oder ,Nicht-Wirklich«<. Das ist die Form des Akzeptierens, von der die Hypothese aufgestellt wird, daß sie notwendig ist, wenn eine Persönlich­ keitsveränderung geschehen soll. Wie die beiden vorangegangenen Bedingungen ist auch diese vierte Bedingung eine Angelegenheit des Ausmaßes6, was unmittelbar dann klar wird, wenn wir versuchen, sie in Begriffen bestimmter Forschungs­ verfahren zu definieren. Eine solche Methode, sie zu definieren, wäre, das Q-Sort für die Beziehung in Betracht zu ziehen, wie es bei der dritten Bedingung beschrieben wurde. In dem Ausmaß, in dem aussage­ fähige Items bedingungsloser positiver Zuwendung sowohl vom Thera­ peuten als auch von den Beobachtern als charakteristisch für die Beziehung zugeordnet werden, könnte man sagen, daß bedingungslose positive Zuwendung vorhanden ist. Solche Items könnten Aussagen in folgender Reihung enthalten: »Ich fühle keine heftigen Reaktionen, was der Klient auch sagt«; »Ich empfinde weder Zustimmung noch Ableh­ nung für den Klienten und seine Aussagen -- einfach Akzeptieren«; »Ich fühle Wärme dem Klienten gegenüber - für seine Schwächen und Probleme ebenso wie für seine Möglichkeiten«; »Ich neige nicht dazu, ein Urteil über das zu fällen, was der Klient mir erzählt«; »Ich mag den Klienten«. In dem Ausmaß, in dem beide, Therapeut und Beobachter, diese Items als charakteristisch wahrnehmen, oder ihr Gegenteil als uncharakteristisch, kann man sagen, daß die vierte Bedingung gegeben ist. 6 Der Ausdruck »bedingungslose positive Zuwendung« ist vielleicht unglücklich, weil er sich wie ein absolutes, ein Alles-oder-Nichts-Konzept anhört. Es ist wahrscheinlich von der Beschreibung her klar, daß eine vollkommen bedingungs­ lose Zuwendung außer in der Theorie nicht existiert. Von einem klinischen und erfahrungsbezogenen Standpunkt her glaube ich, die genaueste Bestimmung liegt darin, daß der effiziente Therapeut bedingungslose positive Zuwendung für den Klienten in vielen Augenblicken des Kontakts mit ihm empfindet, auch wenn er von Zeit zu Zeit eine bedingte positive Zuwendung für ihn empfindet - und vielleicht manchmal eine negative, obwohl dies in einer effizienten Therapie nicht wahrscheinlich ist. In diesem Sinne existiert eine bedingungslose positive Zuwendung in einem gewissen Ausmaß injeder Beziehung. 174 Empathie Die fünfte Bedingung ist die, daß der Therapeut ein genaues empathi­ sches Verstehen vom Bewußtsein des Klienten und seiner eigenen Erfahrung empfindet. Die private Welt des Klienten so zu spüren, als ob es die eigene wäre, ohnejemals die Qualität des »als ob« zu verlieren - das ist Empathie, und das scheint für die Therapie wesentlich zu sein. Die Wut, Angst oder Verwirrung des Klienten zu spüren, als wären es die eigenen Gefühle, jedoch ohne daß die eigene Wut, Angst oder Verwirrung damit verknüpft wird, das ist die Bedingung, die wir uns zu beschreiben bemühen. Wenn die Welt des Klienten für den Therapeuten so klar ist und er sich in ihr frei bewegt, dann kann er dem Klienten gegenüber sowohl kommunizieren, daß er versteht, was dem Klienten selber klar bekannt ist, als auch zum Ausdruck bringen, was diesem an Bedeutung in seinen Erfahrungen kaum zu Bewußtsein kommen mag. Wie ein Klient diesen zweiten Aspekt beschreibt: »Von Zeit zu Zeit, mit mir in einem Gewirr von Gedanken und Gefühlen, verstrickt in ein Gespinst von wechselseitig auseinanderlaufenden Linien der Bewegung, mit Impulsen von verschiedenen Teilen von mir, und ich mit dem Gefühl, daß das alles zu viel ist und so - dann peng!, geradeso wie ein Sonnenstrahl sich seinen Weg durch Wolkenbänke und ein Gewirr von Blattwerk bricht, um einen Lichtkreis auf ein Gewirr von Waldpfaden zu werfen, kam eine Bemerkung von Ihnen. [Es war] Klarheit, ja Entwirrung, eine zusätzliche Drehung zum Bild, ein Zurechtrücken. Dann das Ergebnis - das Gefühl voranzukommen, die Entspannung. Das waren Sonnenstrahlen.« Daß eine solche durchdringende Empathie für die Therapie wichtig ist, wird durch die Untersuchung von Fiedler (1950) belegt, in der bei der Beschreibung von Beziehungen durch erfahrene Therapeuten Items wie die folgenden hoch veranschlagt werden: Der Therapeut ist gut in der Lage, die Gefühle des Patienten zu verstehen. Der Therapeut ist niemals im Zweifel darüber, was der Patient meint. Die Bemerkungen des Therapeuten passen genau zur Stimmung und zum Auffassungsvermögen des Patienten. Der Tonfall des Therapeuten drückt seine Fähigkeit aus, die Gefühle des Patienten vollständig zu teilen. Eine operationale Definition der Empathie des Therapeuten könnte auf verschiedene Weise zustandegebracht werden. Es könnte das Q-Sort angewendet werden, wie es bei der dritten Bedingung beschrieben 175
  • 7. wurde. In dem Ausmaß, in dem Items, die eine genaue Empathie beschreiben, sowohl von seiten des Therapeuten als auch von seiten der Beobachter als charakteristisch zugeordnet würden, würde diese Be­ dingung als gegeben betrachtet werden. Eine andere Methode, diese Bedingung zu definieren, wäre es, für den Klienten wie für den Therapeuten, eine Liste von Items zu sortieren, die die Gefühle des Klienten beschreiben. Jeder würde dabei unabhängig zuordnen, die Aufgabe wäre es, die Gefühle wiederzugeben, die der Klient während eines eben gerade abgeschlossenen Gesprächs empfunden hat. Wenn die Korrelation zwischen der Zuordnung des Klienten und der des Therapeuten hoch ist, könnte man sagen, daß eine genaue Empathie gegeben ist, eine niedrige Korrelation dagegen würde zum gegenteiligen Schluß führen. Wieder eine andere Methode, Empathie zu messen, bestünde darin, daß geübte Beurteiler die Tiefe und Genauigkeit der Empathie des Therapeuten auf der Grundlage des Anhörens von Gesprächsaufzeich­ nungen einschätzten. Die Wahrnehmung des Therapeuten durch den Klienten Die letzte der aufgestellten Bedingungen ist, daß der Klient in einem Mindestausmaß die Akzeptanz und Empathie, die der Therapeut für ihn empfindet, wahrnimmt. Wenn keine Kommunikation über diese Einstel­ lungen zustande gekommen ist, existieren diese, soweit es den Klienten betrifft, in der Beziehung nicht, und der therapeutische Prozeß könnte nach unserer Hypothese nicht in Gang gesetzt werden. Da Einstellungen nicht auf einem direkten Weg wahrgenommen werden können, wäre es etwas genauer zu sagen, daß Verhaltensweisen und Worte des Therapeuten vom Klienten so aufgefaßt werden, daß sie bedeuten, daß der Therapeut ihn in einem gewissen Ausmaß akzeptiert und versteht. Eine operationale Definition dieser Bedingung wäre nicht schwierig. Der Klient könnte nach einem Gespräch eine Q--Sort-Liste von Items zuordnen, die sich auf Eigenschaften beziehen, die die Beziehung zwischen ihm und dem Therapeuten darstellen. (Es könnte die gleiche Liste wie für die dritte Bedingung verwendet werden.) Wenn mehrere das Akzeptieren und die Empathie beschreibende Items als für die Beziehung charakteristisch vom Klienten zugeordnet werden, dann kann diese Bedingung als gegeben betrachtet werden. Beim gegenwärti­ gen Stand unseres Wissens müßte die Bedeutung von »in einem Mindestausmaß« willkürlich festgelegt werden. 176 Einige Bemerkungen Bis zu diesem Punkt ging es um den Versuch, kurz und sachlich die Bedingungen vorzustellen, bei denen ich dazu gekommen bin, sie als wesentlich für psychotherapeutische Veränderung zu erachten. Ich habe nicht versucht, den theoretischen Kontext dieser Bedingungen darzule­ gen, noch zu erklären, was ich für die treibende Kraft ihrer Wirksam­ keit halte. Solch erklärendes Material wird der interessierte Leser in der bereits erwähnten Dokumentation finden (Rogers/Dymond 1954). Ich habe jedoch zumindest eine Definitionsmöglichkeit, in operationa­ len Begriffen, für jede der erwähnten Bedingungen genannt. Ich habe dies getan, um die Tatsache zu betonen, daß ich nicht von verschwom­ menen Eigenschaften rede, die idealerweise gegeben sein sollten, wenn ein ebenso verschwommenes Ergebnis erzielt werden soll. Ich stelle hier Bedingungen vor, die sogar beim gegenwärtigen Stand unserer Technik grob meßbar sind, und ich habe spezielle Verfahren für jedes Beispiel vorgeschlagen, auch wenn ich überzeugt bin, daß von einem ernsthaften Forscher noch adäquatere Meßmethoden entwickelt werden könnten. Meine Absicht war es, den Gedanken hervorzuheben, daß wir es nach meiner Ansicht hier mit einem Wenn-dann-Phänomen zu tun haben, bei dem es nicht wesentlich ist, die treibende Kraft zu kennen, um die Hypothesen zu testen. Um es von einem anderen Gebiet her zu veranschaulichen: Wenn eine Substanz, die wir mittels einer Reihe von Verfahren als die Substanz, die als Salzsäure bekannt ist, identifiziert haben, mit einer anderen Substanz gemischt wird, die wir in einer anderen Reihe von Verfahren als Ätznatron identifiziert haben, werden Salz und Wasser die Produkte dieser Mischung sein. Das ist so, gleich ob man das Ergebnis nun der Zauberei zuschreiben oder es in den zutreffendsten Begriffen der modernen Chemie erklären mag. Auf die gleiche Weise wird hier postuliert, daß bestimmte definierbare Be­ dingungen bestimmten definierbaren Veränderungen vorausgehen und daß diese Tatsache unabhängig von unseren Bemühungen existiert, sie zu erklären. Die resultierenden Hypothesen Der hauptsächliche Wert jeder in unzweideutigen Begriffen aufgestell­ ten Theorie ist es, daß spezielle Hypothesen daraus abgeleitet werden können, die verifizierbar beziehungsweise falsifizierbar sind. So kön­ nten die hier als notwendig und hinreichend postulierten Bedingungen, 177
  • 8. selbst wenn sie mehr unzutreffend als zutreffend sind (was ich nicht hoffe), doch noch die Wissenschaft auf diesem Gebiet voranbringen, indem sie eine Verfahrensgrundlage bieten, von der aus Fakten von Irrtümern ausgesondert werden können. Die Hypothesen, die sich aus der hier aufgestellten Theorie ergäben, wären in dieser Reihenfolge: Wenn die genannten sechs Bedingungen (wie sie operational definiert wurden) existieren, dann wird eine konstruktive Persönlich­ keitsveränderung (wie definiert) beim Klienten stattfinden. Wenn eine oder mehrere dieser Bedingungen nicht vorhanden ist oder sind, dann wird eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung nicht stattfinden. Diese Hypothesen gelten für jede Situation, ob sie nun als »Psycho­ therapie« bezeichnet wird oder nicht. Einzig die Bedingung 1 ist dichotomisch (entweder sie ist gegeben oder nicht), die restlichen fünf treten in verschiedenem Ausmaß auf, jede auf ihrem Kontinuum. Weil das so ist, folgt daraus eine weitere Hypothese, und sie ist wahrscheinlich die, die am einfachsten getestet werden kann: Wenn alle sechs Bedingungen gegeben sind, dann wird die konstruk­ tive Persönlichkeitsveränderung beim Klienten um so ausgeprägter sein, je höher das Ausmaß ist, in dem die Bedingungen 2 bis 6 gegeben sind. Zur Zeit kann die obige Hypothese nur in dieser allgemeinen Form aufgestellt werden - was einschließt, daß alle Bedingungen das gleiche Gewicht haben. Empirische Studien werden zweifelsohne noch eine wesentliche Verfeinerung dieser Hypothese erlauben. Es kann zum Beispiel sein, daß die anderen Bedingungen weniger wichtig sind, wenn die Angst ein großes Ausmaß beim Klienten erreicht. Oder wenn die bedingungslose positive Zuwendung ein großes Ausmaß hat (wie bei der Liebe der Mutter zu ihrem Kind), daß dann vielleicht ein mäßiges Ausmaß an Empathie ausreichend ist. Aber im Augenblick können wir über solche Möglichkeiten nur spekulieren. Einige Implikationen Signifikante Auslassungen Wenn es irgendeine überraschende Besonderheit in der Formulierung gibt, mit der die notwendigen Bedingungen für die Therapie beschrieben 178 wurden, so liegt sie wahrscheinlich in den Elementen, die ausgelassen wurden. In der heutigen klinischen Praxis arbeiten die Therapeuten so, als ob es über die beschriebenen hinaus noch viele andere Bedingungen gäbe, die für die Psychotherapie wesentlich sind. Um das deutlicher zu machen, ist es vielleicht gut, ein paar der Bedingungen zu erwähnen, die nach gründlicher Betrachtung unserer Forschung und unserer Erfahrung nicht miteingeschlossen wurden. Zum Beispiel wird nicht behauptet, daß diese Bedingungen für einen ganz bestimmten Kliententyp angewendet werden, und daß andere Bedingungen notwendig sind, therapeutische Veränderung bei anderen Kliententypen hervorzubringen. Wahrscheinlich ist keine Idee in der klinischen Arbeit heute so vorherrschend wie die, daß man mit Neuro­ tikern auf diese, mit Psychotikern auf jene Weise arbeitet; daß be­ stimmte therapeutische Bedingungen für Zwangsneurotiker, andere wiederum für Homosexuelle geschaffen werden müssen usw. Wegen dieses schweren Gewichts der gegenteiligen klinischen Meinung ge­ schieht es mit etwas »Furcht und Zittern«, wenn ich das Konzept vortrage, daß die wesentlichen Bedingungen der Psychotherapie in eüier einzigen Konfiguration bestehen, selbst wenn der Klient oder Patient sie sehr verschiedenartig anwenden mag.7 Es wird nicht behauptet, daß diese sechs Bedingungen die wesent­ lichen Bedingungen für klientenzentrierte Therapie seien und daß andere Bedingungen für andere Arten von Psychotherapie wesentlich seien. Ich bin gewiß stark von meiner eigenen Erfahrung beeinflußt, und diese Erfahrung hat mich zu einem Standpunkt geführt, der in den Begriff »klientenzentriert« gefaßt ist. Dennoch ist es mein Ziel bei der Aufstellung dieser Theorie, die Bedingungen zu nennen, die zu jeder Situation gehören, in der konstruktive Persönlichkeitsveränderung ge- 7 Ich halte an meiner aufgestellten Hypothese fest, auch wenn sie von einer gerade abgeschlossenen Studie von Kirtner (1955) in Frage gestellt wird. Kirtner hat bei einer Gruppe von 26 Fällen am Counseling Center der Universität Chicago herausgefunden, daß es deutliche Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie Klienten an die Lösung von Lebensproblemen herangehen, und daß diese Unterschiede einen Bezug zum Erfolg in de1· Therapie haben. Kurz gesagt: Der Klient, der sieht, daß sein Problem mit seinen Beziehungen zu tun hat. und der fühlt, daß er zu diesem Problem selbst beiträgt, und der es ändern will, wird wahrscheinlich erfolgreich sein. Der Klient dagegen, der sein Problem nach außen verlegt, wobei er nur wenig Selbstverantwortung verspürt, wird viel wahrschein­ licher nicht zum Ziel kommen. Das impliziert, daß es notwendig ist, einige andere Bedingungen für die Psychotherapie mit dieser Gruppe zu schaffen. Zum jetzigen Zeitpunkt werde ich allerdings zu meiner Hypothese, wie ich sie aufgestellt habe, stehen, bis Kirtners Studie bestätigt ist und bis wir eine alternative Hypothese kennen, die ihren Platz einnimmt. 179
  • 9. schieht, ob wir dabei an klassische Psychoanalyse oder einen ihrer modernen Ableger denken oder an Adlerianische Psychotherapie oder an irgendeine andere. Es wird daher offensichtlich, daß nach meiner Beurteilung vieles von dem, was als wesentlich verstanden wird, empirisch als nicht wesentlich gefunden würde. Der Test einiger der aufgestellten Hypothesen würde Licht auf diesen verblüffenden Sach­ verhalt werfen. Wir könnten natürlich herausfinden, daß verschiedene Therapien auch verschiedene Typen von Persönlichkeitsveränderung hervorbringen, und daß für jede Psychotherapie ein eigener Satz von Bedingungen notwendig ist. Solange bis dies bewiesen wird, stelle ich die Hypothese auf, daß effiziente Psychotherapie welcher Art auch immer die gleichen Veränderungen in Persönlichkeit und Verhalten hervorbringt, und daß ein einziger Satz von Vorbedingungen dazu notwendig ist. Es wird nicht behauptet, daß Psychotherapie eine spezielle Bezie­ hung ist, artverschieden von allen anderen, die im täglichen Leben vorkommen. Es ist im Gegenteil evident, daß zumindest für kurze Augenblicke viele gute Freundschaften die sechs Bedingungen erfüllen. Gewöhnlich gilt dies jedoch nur vorübergehend, und dann schwankt die Empathie, die positive Zuwendung knüpft sich an Bedingungen, oder die Kongruenz des »therapeutischen« Freundes wird in einem gewissen Ausmaß von einer Fassade oder Abwehrhaltung überlagert. Von daher wird die therapeutische Beziehung als eine Steigerung der konstrukti­ ven Eigenschaften gesehen, die oft zum Teil auch in anderen Bezie­ hungen existieren, und als eine zeitliche Ausdehnung von Eigen­ schaften, die in anderen Beziehungen dazu neigen, bestenfalls vorüber­ gehend zu sein. Es wird nicht behauptet, daß der Therapeut besondere intellektuelle professionelle Kenntnisse - psychologische, psychiatrische, ärztliche oder religiöse - benötigt. Die Bedingungen 3, 4 und 5, die sich speziell auf den Therapeuten beziehen, sind Qualitäten aus der Erfahrung, nicht aus intellektuellem Wissen. Wenn sie erworben werden sollen, müssen sie meiner Meinung nach durch eine erfahrungsorientierte Ausbildung erworben werden - die Teil einer professionellen Ausbil­ dung sein kann, aber für gewöhnlich nicht ist. Es macht mir Unbeha­ gen, einen derart radikalen Standpunkt zu vertreten, aber ich kann keinen anderen Schluß aus meiner Erfahrung ziehen. Intellektuelle Ausbildung und der Erwerb von Wissen bringen, wie ich glaube, viele wertvolle Ergebnisse - aber ein Therapeut zu werden, ist keines von diesen Ergebnissen. Es wird nicht behauptet, daß es für die Psychotherapie notwendig ist, 180 daß der Therapeut eine genaue psychologische Diagnose des Klienten besitzt. Auch hier macht es mir Unbehagen, einen Standpunkt zu vertreten, der so sehr von meinen klinischen Kollegen abweicht. Wenn man an den gewaltigen Zeitaufwand denkt, der in jedem psychologi­ schen oder psychiatrischen Zentrum oder jeder Nervenheilanstalt dar­ auf verwendet wird, eine erschöpfende psychologische Evaluation des Klienten oder Patienten vorzunehmen, so scheint es, als ob dies, soweit es die Psychotherapie betrifft., einem nützlichen Zweck dienen müsse. Doch je mehr ich Therapeuten beobachtet habe und je genauer ich Forschungsergebnisse wie die von Fiedler und anderen (1953) studiert habe, desto mehr bin ich zu dem Schluß gezwungen, daß solche diagnostischen Kenntnisse für die Psychotherapie nicht wesentlich sind.8 Es kann sogar sein, daß ihre Verteidigung als notwendiges Vorspiel zur Psychotherapie lediglich eine Schutzbehauptung gegen das Eingeständnis ist, daß sie zum größten Teil eine kolossale Zeit­ verschwendung darstellen. Es gibt nur einen nützlichen Zweck, den ich im Hinblick auf Psychotherapie zu beobachten imstande war. Einige Therapeuten können sich nicht sicher fühlen in der Beziehung zum Klienten, wenn sie nicht solche diagnostischen Kenntnisse besitzen. Ohne sie fühlen sie Furcht vor ihm, fühlen sich unfähig, empathisch zu sein, unfähig, bedingungslose Zuwendung zu empfinden, und finden es notwendig, in der Beziehung einen Vorwand zu haben. Wenn sie im voraus von Selbstmordimpulsen Kenntnis haben, können sie diese irgendwie besser akzeptieren. So kann die Sicherheit, die manche Therapeuten durch diagnostische Information spüren, vielleicht eine Basis dafür sein, daß sie sich selbst erlauben, in der Beziehung integriert zu sein und Empathie und volles Akzeptieren zu empfinden. In diesen Fällen wäre eine psychologische Diagnose sicherlich gerecht­ fertigt als Beitrag zum Komfort und von daher zur Effizienz des Therapeuten. Aber sogar hier scheint sie nicht eine grundlegende Vorbedingung für Psychotherapie zu sein.9 8 Es ist hier nicht die Absicht zu behaupten, diagnostische Evaluation sei nutzlos. Wir haben selbst ausgiebigen Gebrauch von solchen Methoden in unseren Forschungsarbeiten zur Persönlichkeitsveränderung gemacht. Es ist ihr Nutzen als Vorbedingung für Psychotherapie, der hier in Frage gestellt wird. 9 Im Spaß habe ich einmal vorgeschlagen, man könnte es solchen Therapeuten auch dadurch behaglich machen, daß man ihnen die Diagnose irgendeiner anderen Person gibt, nicht die des betreffenden Patienten oder Klienten. Der Umstand, daß sich die Diagnose dann als falsch erweist im Verlauf dei· Psychotherapie, würde sich nicht sonderlich störend auswirken, weil man immer damit rechnet, Ungenauigkeiten in der Diagnose zu entdecken, wenn man mit dem Einzelnen arbeitet. 181
  • 10. Ist diese theoretische Formulierung nützlich? Abgesehen von der persönlichen Befriedigung, die sie als ein gewagtes Unternehmen der Abstraktion und Verallgemeinerung bietet, welchen Wert hat darüber hinaus eine theoretische Darstellung, wie sie in die­ sem Artikel gegeben wurde? Vielleicht sollte ich den Nutzen, den sie meiner Meinung nach haben kann, etwas ausführlicher zum Ausdruck bringen. Auf dem Gebiet der Forschung kann diese Darstellung die Richtung angeben und ein Anstoß für Untersuchungen sein. Da sie die Bedin­ gungen konstruktiver Persönlichkeitsveränderung als allgemeingültig ansieht, erweitert sie die Möglichkeiten zu ihrem Studium außerordent­ lich. Psychotherapie ist nicht die einzige Situation, in der es um kon­ struktive Persönlichkeitsveränderung geht. Oft zielen auch Ausbil­ dungsprogramme für Führungskräfte in der Industrie und solche für militärisches Führungspersonal auf eine solche Veränderung. Bildungs­ institutionen oder -programme zielen häufig auf Charakter- und Per­ sönlichkeitsentwicklung ebenso wie auf die Entwicklung intellektueller Fertigkeiten ab. Kommunale Stellen zielen auf Persönlichkeits- und Verhaltensänderung bei Kriminellen und Straffälligen. Solche Program­ me böten eine Gelegenheit, die vorgetragenen Hypothesen auf breiter Ebene zu testen. Sollte sich herausstellen, daß konstruktive Persönlich­ keitsveränderung sich in solchen Programmen auch dann einstellt, wenn die als Hypothese aufgestellten Bedingungen nicht erfüllt sind, dann müßte die Theorie revidiert werden. Wenn die Hypothesen jedoch unterstützt werden, dann wären die Ergebnisse sowohl für die Planung solcher Programme wie auch für unsere Kenntnis der menschlichen Antriebskräfte bedeutungsvoll. Auf dem Gebiet der Psychotherapie selbst könnte sich die Anwendung konsistenter Hypothesen für die Arbeit von verschiedenen Schulen von Therapeuten als in hohem Grad nützlich erweisen. Die Falsifizierung der vorgetragenen Hypothesen würde auch hier ebenso wichtig sein wie ihre Verifizierung, insofern beide Resultate einen bedeutenden Beitrag zu unserem Wissensstand leisten würden. Für die psychotherapeutische Praxis bietet die Theorie außerdem bedeutende Probleme, die zu bedenken sind. Eine ihrer Implikationen ist, daß die Techniken der verschiedenen Therapien relativ unwichtig sind, außer in dem Ausmaß, in dem sie als Kanäle für die Erfüllung einer der genannten Bedingungen dienen. Für die klientenzentrierte Therapie zum Beispiel wurde die Technik des »Reflektierens von Gefühlen« beschrieben und kommentiert (Rogers 1951, 26-36 [dt.: S. 182 40-481). Hinsichtlich der Theorie, die hier vorgestellt wird, ist diese Technik in keiner Weise eine wesentliche Bedingung für Therapie. In dem Ausmaßjedoch, in dem sie einen Kanal zur Verfügung stellt, durch den der Therapeut eine feinfühlige Empathie und eine bedingungslose Zuwendung zum Ausdruck bringt, kann sie als technischer Kanal dienen, durch den die wesentlichen Bedingungen von Therapie erfüllt werden. In der gleichen Weise würde die von mir vorgestellte Theorie keinen wesentlichen therapeutischen Wert in solchen Techniken sehen wie Interpretation der Persönlichkeitsdynamik, freier Assoziation, Traumanalyse, Übertragungsanalyse, Hypnose, Interpretation des Le­ bensstils, Suggestion und ähnlichen. Jedoch kann jede dieser Techniken ein Kanal werden, um die wesentlichen Bedingungen, die formuliert wurden, zu kommunizieren. Eine Interpretation kann vielleicht auf eine Weise gegeben werden, die die bedingungslose positive Zuwendung des Therapeuten mitteilt. Einern Strom freier Assoziation kann vielleicht in der Weise zugehört werden, die eine vom Therapeuten empfundene Empathie zum Ausdruck bringt. Im Umgang mit der Übertragung kommuniziert ein effizienter Therapeut oft seine eigene Ganzheit und Kongruenz in der Beziehung. Ähnlich bei den anderen Techniken. Aber ebenso wie diese Techniken die für die Therapie wesentlichen Elemente zum Ausdruck bringen können, so kann jede von ihnen ebenso auch Einstellungen und Erfahrungen zum Ausdruck bringen, die in scharfem Gegensatz zu den hier als Hypothese aufgestellten Bedingungen der Therapie stehen. Gefühl kann auf eine Weise »reflektiert« werden, die den Mangel an Empathie des Therapeuten zum Ausdruck bringt. Interpretationen können auf eine Weise gegeben werden, die die sehr bedingte Zuwendung des Therapeuten anzeigt. Jede der Techniken kann die Tatsache kommunizieren, daß der Therapeut eine Einstellung ausdrückt, die seinem eigenen Bewußtsein gegenüber verleugnet wird. So liegt ein Wert einer solchen theoretischen Formulierung, wie wir sie vorgelegt haben, darin, daß sie den Therapeuten vielleicht hilft, kriti­ scher nachzudenken über jene Elemente ihrer Erfahrungen, Einstel­ lungen und Verhaltensweisen, die für die Psychotherapie wesentlich sind, und über jene, die für sie nicht wesentlich oder schädlich sind. Schließlich kann diese Formulierung in jenen Programmen - auf dem Gebiet der Bildung, des Strafvollzugs, des Militärwesens oder der Industrie - mit dem Ziel einer konstruktiven Veränderung der Persön­ lichkeitsstruktur und des Verhaltens des einzelnen als ein sehr ver­ suchsweise angesetztes Kriterium dienen, an dem das jeweilige Pro­ gramm gemessen wird. Bis es durch Forschung weiter getestet ist, kann es nicht als ein valides Kriterium gelten, es kann aber wie auf dem 183
  • 11. Gebiet der Psychotherapie helfen, eine kritische Analyse und die For­ mulierung alternativer Bedingungen und Hypothesen anzuregen. Zusrunmenfassung Aus einem größeren theoretischen Kontext wurden sechs Bedingungen abgeleitet, die als notwendige und hinreichende Bedingungen für die Einleitung eines Prozesses konstruktiver Persönlichkeitsveränderung postuliert wurden. Für jede dieser Bedingungen wurde eine kurze Er­ klärung gegeben und es wurden Vorschläge gemacht, wie jede opera­ tional zu Forschungszwecken definiert werden kann. Es wurden die Implikationen dieser Theorie für Forschung, Psychotherapie sowie Bil­ dungs- und Ausbildungsprogramme mit dem Ziel konstruktiver Persön­ lichkeitsveränderung aufgezeigt. Es wurde herausgestellt, daß viele der Bedingungen, die gemeinhin als wesentlich für die Psychotherapie betrachtet werden, vom Standpunkt dieser Theorie unwesentlich sind.10 Literatur BOWN, O.H., An investigation of the therapeutic relationship in client-centered therapy. Unveröffentlichte Dissertation, University ofChicago 1954 CHODORKOFF, 8., Self-perception, perceptual defense, and adjustment, in: Journal ofAbnormal and Asocial Psychology 49 (1954) 508-512 FIEDLER, F.E., A comparison of therapeutic relationships in psychoanalytic, non-directive and Adlerian therapy, in: Journal ofConsulting Psychology 14 (1950) 436-445 FIEDLER, F.E., Quantitative studies on the role oftherapist's feelings toward their patients, in: Mowrer, O.H. (Hg.), Psychotherapy. Theory and research, New York (Ronald Press) 1953 KIRTNER, W.L., Success and failure in client--centered therapy as a function of personality variables. Unveröffentliche Diplomarbeit, University ofChicago 1955 ROGERS, C.R., Client--centered therapy. Boston (Houghton Mifflin) 1951; dt.: Die klient-bezogene Gesprächstherapie, München (Kindler) 1973 [Rogers 1951a] ROGERS, C.R. f DYMOND, ROSALIND F. (Hg.), Psychotherapy and personality change, Chicago (University ofChicago Press) 1954 STANDAL, S., The need for positive regard. A contribution to client-centered theory. Unveröffentlichte Dissertation, University ofChicago 1954 10 Zum heutigen Fo1·schungsstand vgl. Watson, N., The empirical status of Roger's hypotheses ofthe necessary and sufficient conditions for effective psychotherapy, in: Levant/Shlien (Hg.), Client-Centered therapy and the person-centered approach, New York (Praeger) 1984, 17-40; Braaten, L.J., Thirty years with Roger's necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change, in: Person-Centered Review 1,1 (1986) 262-271; Patterson, C.H., Empathy, warmth and genuineness in psychotherapy. A review of reviews, in: Psychotherapy 21 (1984) 431-438. 184