2. Mehr Qualität
fürs Geld Mit der jüngsten
Z
weibettzimmer für Kassenpati- Lange Wartezeit trotz Facharztschwemme.
enten, kürzere Wartezeiten auf Gesundheitsreform Gesetzlich Krankenversicherte müssen immer
Facharzttermine, mobile Arzt- öfter wochenlang auf einen Termin beim
stationen für dünn besiedelte hat die Politik die Facharzt warten. Laut einer Studie der Kas-
Regionen – die Forderungen von senärztlichen Bundesvereinigung erhielten
CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn fan- Versicherten wieder noch im Jahr 2006 mehr als zwei Drittel der
den in der Weihnachtspause großes medi- Patienten einen Termin innerhalb einer Wo-
ales Interesse. Hinter solch öffentlichkeits- einmal zur Kasse che (siehe Grafik „Patienten warten länger auf
wirksamen Botschaften steckt ein wichtiges Facharzttermine“ auf Seite 34). Nur vier Jahre
Anliegen: Nach einer Gesundheitsreform, gebeten. Ärzte und später musste sich nahezu jeder zweite länger
die für die Versicherten vor allem mit höhe- als eine Woche gedulden, bis er den Facharzt
ren Kosten verbunden ist, soll es nun offen- Kliniken dürfen sich aufsuchen konnte. 2010 betrug die Wartezeit
bar um bessere Leistungen für die Patienten bei 20 Prozent aller Befragten sogar mehr als
gehen. Union und FDP wollen mit einem dagegen über höhere drei Wochen – damit hat sich dieser Anteil in
weiteren Reformgesetz die Rahmenbedin- den vergangenen vier Jahren verdoppelt.
gungen für die ambulante und stationäre Vergütungen freuen. Und nun wird es scheinbar paradox: Die
Gesundheitsversorgung in Deutschland Wartezeiten auf einen Facharzt-Termin stei-
verbessern. Bis Ende April sollen Eckpunk- Nun ist es Zeit gen, obwohl es nicht zu wenige Fachärzte und
te dazu vorliegen, die Verabschiedung eines Einrichtungen fachärztlicher Versorgung gibt,
Versorgungsgesetzes im Bundestag ist für für Gegenleistungen, sondern zu viele. In nahezu allen Regionen in
Ende 2011 geplant. Deutschland besteht eine deutliche Überver-
meint Jan Carels. sorgung. Dies trifft vor allem auf Städte und
Nicht erneut beim Versicherten abkassieren. Landkreise in strukturell ttraktiven Gegen-
a
Bei der AOK rennt die Politik damit offene Er skizziert, was in den zu. So hat beispielsweise München die
Türen ein. Unser Gesundheitssystem ist höchste Arztdichte der Welt. Dort gibt es
gut. Aber wir können noch besser werden. einem Versorgungs mehr Herzkathetermessplätze als in ganz
Das dafür notwendige Geld fließt bereits: Schweden und mehr Computer omographen
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Seit 1. Januar müssen die Beitragszahler gesetz stehen als in ganz Italien. Oder nehmen wir den
wiederum tiefer ins Portemonnaie greifen. Bedarf an Chirurgen: Die höchste Versor-
Allein für die ambulante und stationäre muss, damit gungsdichte weist der Vogelsbergkreis, zwi-
ärztliche Behandlung zahlt jedes Mitglied schen Frankfurt und Kassel gelegen, auf. Dort
einer gesetzlichen Krankenkasse in diesem Patienten profitieren. arbeiten sechsmal mehr Chirurgen als nötig.
Jahr durchschnittlich etwa 250 Euro mehr Diese „Facharztschwemme“ ist auch in den
als noch 2008. Insgesamt stehen somit den neuen Bundesländern zu finden. So prakti-
Ärzten und Krankenhäusern im Jahr 2011 weit über zehn Mil- zieren im Landkreis Halberstadt sechsmal mehr fachärztlich
liarden Euro mehr zur Verfügung als noch vor drei Jahren. tätige Internisten als erforderlich.
Dafür müssen die Versicherten nun auch eine spürbar höhere
Qualität und mehr Service erhalten. Den von Ärzteseite vorge- Der Kuchen wächst, die Stücke schrumpfen. Es mangelt auch
brachten, reflexartigen Forderungen nach noch mehr Geld erteilt nicht am Geld. So sind die Honorare für die fachärztliche Ver-
die AOK eine Absage. Die Versicherten dürfen nicht erneut sorgung von 2007 bis 2009 um zehn Prozent gewachsen (siehe
Illustration: Oliver Weiss
abkassiert werden. Nun muss erst die Gegenleistung kommen, Tabelle „Facharzthonorare sind weiter gestiegen“ auf Seite 34). Für
für die sie bereits bezahlen. Wo dabei anzusetzen ist und wie die das Jahr 2010 ist ein erneuter Anstieg auf rund 15,7 Milliarden
Verbesserungen konkret aussehen können, soll hier anhand Euro zu erwarten. Doch obwohl die Gesamthonorare für die
e
iniger Beispiele erläutert werden. fachärztliche Versorgung deutlich zunahmen, verringerte sich
Ausgabe 2/11, 14. Jahrgang 33
3. das Honorar für jeden einzelnen Facharzt von 2007 auf 2008 Facharzthonorare sind weiter gestiegen
sogar ganz leicht. Auch im Zeitraum 2008 auf 2009 ist ein solcher
Trend zu erkennen. Lag die Steigerung bei den Gesamthonora- Honorar (GKV)/Arzt/Jahr Gesamthonorar (GKV)
ren für Fachärzte bei rund sieben Prozent, so erhöhte sich das in Euro in Milliarden Euro
Honorar je Facharzt lediglich um knapp fünf Prozent.
Das Problem ist also, dass es zu viele Fachärzte gibt – und die- 2007 225.151 13,7
se sind auch noch regional falsch verteilt. Der Honorar- uchen,
K
der in seiner Gesamtheit groß genug ist, wird in zu viele Einzel- 2008 224.845 Veränderung 14,1 Veränderung
stücke geteilt – das einzelne Stück hat sich relativ verkleinert. Ist 2007–2009 2007–2009
dieses Geld dann im Laufe des Behandlungsquartals aufgebraucht, 2009 235.763 +4,7% 15,1 +10,2%
fährt der Arzt seine Leistungen so lange zurück, bis für das folgen-
Deutschlands Fachärzte dürfen sich über steigende vertragsärztliche
de Quartal wieder Geld vorhanden ist und/oder ehandelt bevor-
b
Vergütungen freuen: Während sie von den gesetzlichen Krankenkassen
zugt zunächst Privatpatienten. Es kommt zum „Patientenstau“.
2007 noch insgesamt 13,7 Milliarden Euro bezogen, erhielten sie 2009
von den Kassen bereits 15,1 Milliarden Euro Gesamthonorar. Das durch-
Die Bedarfsplanung ist zu starr. Der Grund für lange Wartezeiten schnittliche jährliche Honorar je Facharzt nahm zwischen 2007 bis 2009
trotz fachärztlicher Überversorgung liegt vor allem im zu starren um etwas mehr als 10.000 Euro zu. Quelle: Bundestagsdrucksache 17/4000
System der ärztlichen Bedarfsplanung. Das derzeit angewandte
Verfahren basiert nicht auf dem tatsächlich vorhandenen Ver-
sorgungsbedarf der Patienten in der jeweiligen Region entspre- Fehlanreize durch Honorarverteilung. Zudem führen Fehlanrei-
chend der jeweiligen Morbidität, Erreichbarkeit und anderer ze bei der Verteilung des Geldes innerhalb der Ärzteschaft sowie
regionaler Kriterien. Es basiert vielmehr auf einer zentralistischen zwischen den Sektoren (ambulant und stationär) zu einer ekla-
Fortschreibung längst überholter Kennziffern zur Ermittlung tanten Fehl- und Überversorgung. Wieso verdienen beispiels-
des Bedarfes an Fachärzten je Einwohner, die vor annähernd weise Kinderärzte nur die Hälfte von Radiologen? Wer schon
zwei Jahrzehnten auf dem Reißbrett festgelegt wurden. einmal an einem Montagmorgen in einer Kinderarzt-Praxis in
Zusätzlich verhindert die sektoral abgeschottete Bedarfspla- Berlin-Neukölln war, weiß, was diese Ärzte unter hoher physi-
nung eine Koordination zwischen den für die ambulante bezie- scher und psychischer Belastung leisten. Deren Arbeit angemes-
hungsweise stationäre Bedarfsplanung zuständigen Gremien. sener zu bezahlen, wäre eine lohnende Investition – es würden
Dies hat zur Folge, dass zum Beispiel ambulante Kapazitäten in sich dann auch in weniger beliebten Stadtvierteln wieder mehr
Krankenhäusern bei der vertragsärztlichen Bedarfsplanung nicht Kinderärzte ansiedeln. Doch darauf haben die Krankenkassen
berücksichtigt werden. Die bestehenden Doppelstrukturen mit bisher einen zu geringen Einfluss. Zwar sehen die rechtlichen
divergierenden Planungs-, Vergütungs- und Qualitätssicherungs- Rahmenbedingungen zum Beispiel für Fachärzte selektivver-
standards sind inakzeptabel. tragliche Möglichkeiten vor. Doch ihre Umsetzung wird bis
heute dadurch behindert, dass die Systematik zur Bereinigung
Umfrage: Patienten warten heute länger auf Facharzttermine der Kollektivvertragshonorare unzureichend ist: Die Kassen
müssen deshalb derzeit bestimmte Leistungen doppelt bezahlen.
39 % Festzuhalten bleibt also, dass Krankenkassen bisher kaum
keine Wartezeit
20 % Möglichkeiten haben, über direkte Verträge mit Ärzten, Kran-
4% kenhäusern und anderen Leistungserbringern Qualität und
ein Tag
4% Preise der Versorgung zu beeinflussen. Sie müssen bezahlen, was
2 bis 3 Tage
12 % Ärzte anbieten. Und wenn unter den aktuellen Bedingungen in
9% einer Region kein Arzt mehr praktizieren will, dann treten hier
bis eine Woche
14 % Versorgungsengpässe auf. Das kann nicht sein.
15 %
bis 3 Wochen
13 % Tatsächlicher Bedarf als Planungsgrundlage. Um die bestehende
21 %
Über- und Fehlversorgung abzubauen, muss die starre und
über 3 Wochen
11 % zentralistische Planung der Versorgungsstruktur aufgegeben
20 %
werden. Planungsgrundlage sollte stattdessen der regional unter
ohne Termin/ 6%
Termin unnötig 6% Beteiligung des Landes, der Kommunen, Krankenkassen und
Leistungserbringer ermittelte, tatsächlich bestehende Versor-
Praxis macht 1% 2006 ■
keine Termine 1% 2010 ■ gungsbedarf sein. Wichtig ist dabei die sektorübergreifende
Perspektive. Die Versorgungsstrukturen zur Sicherstellung des
patientenorientierten Bedarfs sind so festzulegen, dass Qualität
In den vergangenen vier Jahren haben sich die Wartezeiten auf einen Fach-
arzttermin deutlich verlängert. Während 2006 noch elf Prozent der von der
und Erreichbarkeit der Leistungen gewährleistet sind. Dabei
Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) befragten Patienten angaben, kann grob unterschieden werden zwischen Versorgungsstufen,
dass sie sich mehr als drei Wochen gedulden mussten, bis sie den Facharzt in denen Leistungen häufig und direkt durch Patienten in An-
konsultieren konnten, waren es 2010 schon 20 Prozent. Quelle: KBV spruch genommen werden (beispielsweise Allgemeinärzte,
Kinderärzte, Augenärzte) und Versorgungsstufen in denen
34 Ausgabe 2/11, 14. Jahrgang
4. Leistungen seltener nachgefragt werden Die Versichertenbefragung 2010 der
und meist durch vorangegangene Ver- Kassenärztlichen Bundesvereinigung
sorgungsstufen veranlasst werden (zum ergab, dass die führende Ursache für
Beispiel Radiologen, Neurologen, spezi- Beschwerden von Patienten die – nach
alisierte fachärztliche Versorgung). eigener Einschätzung – falsche Behand-
Diese Versorgungsstufen können je- lung, Fehldiagnose beziehungsweise
weils mit Kriterien hinterlegt werden, die fachliche Inkompetenz des Arztes ist.
sicherstellen, dass die Patienten die not- Allein im Krankenhausbereich kommt
wendige Qualität und den notwendigen es nach Angaben des Sachverständigen-
Zugang zu den Leistungen erhalten. Für rates zur Begutachtung der Entwicklung
die erste Versorgungsstufe können einer- im Gesundheitswesen jährlich zu
seits Kriterien der räumlichen Nähe sowie 340.000 bis 720.000 Schäden bei Pati-
Erreichbarkeit gelten und anderseits enten und rund 17.000 Todesfällen
demografisch adjustierte Verhältniszah- (Gutachten 2007).
len von Einwohnern zu Ärzten. Für die Die bereits vorhandenen Methoden
zweite Versorgungsstufe, die sich durch zur Qualitätsmessung und -kommuni-
die Komplexität (Einsatz von Ärzteteams kation werden nicht oder nur unzurei-
und Großgeräten) auszeichnet, geht die Hinsichtlich der Qualität chend gefördert und ausgebaut. Trans-
Qualität der medizinischen Leistung vor parenz ist zumindest von vielen ärztli-
gewünschter Wohnortnähe. Vor diesem
des medizinischen chen Standesvertretern nicht erwünscht.
Hintergrund ist hier auf sektorübergrei- Angebotes tappen Ebenso verhält es sich mit dem Risiko-
fende, morbiditätsorientierte Parameter management in vielen Krankenhäusern.
abzustellen. Diagnose- und Ergebnisqua- Patienten im Dunkeln: Aktuellen Studien zufolge treten bei bis
lität stehen im Vordergrund. zu zehn Prozent der Patienten in deut-
Transparenz ist noch schen Krankenhäusern unerwünschte
Wettbewerbsinstrumente einsetzen. Ist Ereignisse auf. Zwischen 30 und 50 Pro-
der Bedarf auf diese Weise ermittelt, bei zu vielen Ärztefunk- zent der Pannen in Kliniken wären ver-
bleibt die Frage, wie die dafür notwen- meidbar. Dabei geht es selten um grob
digen Versorgungsstrukturen am effizi- tionären unerwünscht. fahrlässiges Verhalten eines Arztes oder
entesten geschaffen werden können. einer Pflegekraft. In vielen Fällen entste-
Effizient bedeutet in diesem Zusammen- hen Patientenschäden am Ende von Feh-
hang, dass Ärzte und Kliniken die vor- lerketten, die durch Organisations- und
gegebenen Qualitätsstandards bei größt- Kommunikationsmängel begünstigt
möglicher Wirtschaftlichkeit erfüllen. Dies ist durch den Einsatz werden. Eine vom AOK-Bundesverband 2010 in Auftrag gege-
von Wettbewerbsinstrumenten erreichbar. Durch den Such- und bene Befragung durch das Institut für Patientensicherheit ergab,
Innovationswettbewerb der Leistungsanbieter und Kranken- dass nur knapp 60 Prozent der teilnehmenden Krankenhäuser
kassen um die besten Vertrags odelle werden sich effektive wenigstens in Teilen eine schriftlich festgelegte Strategie für das
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Strukturen herausbilden. So lässt sich mittelfristig Überversor- klinische Risikomanagement hat. Das verwundert nicht, denn
gung abbauen und Unterversorgung verhindern. das aktuell bestehende Planungs- und Honorarsystem enthält
Krankenkassen und Leistungserbringer entwickeln gemein- keine Anreize zur qualitätsbezogenen Bezahlung.
sam marktgerechte ösungen, die vorgegebene Qualitätsstan-
L
dards zu erfüllen haben und die Versorgung in allen Regionen Strukturierte Programme ausbauen. Es muss sich für die Ärzte
Deutschlands sicherstellen. Freiwerdende Arztsitze in überver- und Krankenhäuser lohnen, nach evidenzbasierten Leitlinien
sorgten Regionen würden so nicht wieder besetzt, um mit dem zu therapieren und ein funktionierendes Risikomanagement zu
somit freiwerdenden Geld neue Praxen in Regionen aufzubauen, etablieren. Dies fängt bei vermeintlich einfachen Dingen an: So
in denen zukünftig Unterversorgung drohen könnte. sollten Kliniken Risikopatienten beispielsweise standardmäßig
auf Problem eime (multiresistente Bakterien) testen. Auch die
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Welcher Arzt bietet hohe Qualität? Ein weiterer Ansatzpunkt für verpflichtende Teilnahme an der „Aktion saubere Hände“ kann
Verbesserungen im Gesundheitswesen ist die Qualitätstranspa- die Zahl der Krankenhaus-Infektionen effektiv senken.
renz. Gesetzlich Krankenversicherte wissen häufig nicht, welcher Die für einige Krankheiten schon bestehenden strukturierten
Arzt und welche Klinik eine besonders hochwertige Behand- Behandlungsprogramme (DMP) sollten weiterentwickelt werden.
lungsqualität bieten. Umgekehrt gilt auch für Ärzte und Klini- Sie sind schon jetzt mit über sechs Millionen Teilnehmern ein
ken, dass sie sich nicht durch bessere Qualität von ihren Kollegen fester Bestandteil der Versorgung chronisch kranker Menschen.
absetzen können, da die Patienten und Versicherungen dies nicht Auf Basis evidenzbasierter Medizin verbessern sie durch verbind-
erfahren und entsprechend honorieren dürfen. Es findet also zu liche Standards für Diagnose, Therapie, Dokumentation, Qua-
wenig Qualitätswettbewerb statt. Ärzte beschreiten noch zu litätssicherung, Überweisung und aktive Beteiligung der Pati-
selten evidenzbasierte Behandlungspfade. enten nachweislich die Versorgung. So belegen Auswertungen
Ausgabe 2/11, 14. Jahrgang 35
5. bei kontinuierlich teilnehmenden Patienten eine Stabilisierung Bisher zu wenig Kooperation. Auch die mangelnde Zusammen-
beziehungsweise Verbesserung der medizinischen Werte sowie arbeit der verschiedenen Sektoren beeinträchtigt die Qualität
einen Rückgang von Folge- und Begleiterkrankungen. Die der Gesundheitsversorgung. In Deutschland wird die medizini-
Menschen fühlen sich besser versorgt und zeigen ein gesund- sche Versorgung immer noch stark in verschiedene Sektoren
heitsbewusstes Verhalten (Versorgungs-Report des Wissenschaft- aufgeteilt, was eine kontinuierliche und abgestimmte Behandlung
lichen Instituts der AOK, 2011, siehe Lesetipps). des Patienten behindert. Insbesondere gibt es eine starke Tren-
Für eine messbar bessere Behandlungsqualität und -sicherheit nung zwischen der Versorgung durch niedergelassene Ärzte und
müssen Ärzte und Kliniken besser honoriert werden können, Krankenhäuser sowie Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen.
beziehungsweise bei Nichterfüllung auch Vergütungsabschläge Statt durchgehender und abgestimmter Behandlungsabläufe
hinnehmen. stehen häufig lediglich einzelne Behandlungsfragmente neben-
einander. Dies hat zur Folge, dass es zu Informationslücken sowie
Qualitätssprung durch Direktverträge möglich. Der einzelne mangelhafter Kommunikation und Koordination zwischen den
Versicherte und Patient kann nicht messen und beurteilen, an der Therapie Beteiligten kommt. Daraus resultieren beispiels-
welche Ärzte und Kliniken eine überdurchschnittliche Behand- weise medizinisch nicht begründbare Mehrfachuntersuchungen,
lungsqualität rbringen. Die Krankenkassen können dies in
e eine unkoordinierte Verordnung von Arzneimitteln mit uner-
Zusammenarbeit mit den entsprechenden Institutionen aber wünschten Wechselwirkungen. Das gefährdet die Gesundheit
sehr wohl. Vielversprechende Ansätze stellen im ambulanten der Patienten und verursacht vermeidbare Mehrausgaben.
Bereich beispielsweise „QISA – Das Qualitätsindikatorensystem
für die ambulante Versorgung“ (von AQUA-Institut und AOK- Integrierte Versorgung mit guten Ergebnissen. Durch Rahmen-
Bundesverband) sowie „Qualitätssicherung mit Routinedaten bedingungen, die eine bessere Zusammenarbeit gewährleisten,
QSR“ (entwickelt von mehreren Partnern, darunter das Wissen- könnte dem begegnet werden. Die Erfahrungen der Kranken-
schaftliche Institut der AOK) für häufige stationäre Operationen kassen mit Verträgen zur Integrierten Versorgung zum Beispiel
dar. Diese gilt es zu fördern und systematisch auszubauen. von Herzpatienten oder von Patienten mit Gelenkersatz zeigen,
Wenn die Krankenkassen dieses Knowhow einsetzen dürften, dass eine bessere Vernetzung aller Therapeuten möglich ist und
indem sie Direktverträge mit den überdurchschnittlich guten die Qualität der Versorgung erhöht.
Ärzten und Kliniken abschließen, wäre ein deutlicher Qualitäts- Ein weiteres Handlungsfeld ist das Krankenhaus-Entlassungs-
sprung in der Versorgung zu erreichen. Die Versicherten der management. Wenn der Patient in einem ausführlichen Entlas-
jeweiligen Kasse wüssten, dass die dort unter Vertrag stehenden sungsgespräch mit entsprechender Dokumentation konkrete
Ärzte und Kliniken hohe Qualitätsstandards erfüllen. Die Ärz- Hinweise (zum Beispiel zur Arzneitherapie, zur weiteren ambu-
te und Krankenhäuser bekämen ihre besonders guten Leistungen lanten Behandlung, zur pflegerischen Betreuung zu Hause) für
besser honoriert als zuvor. die Zeit nach seiner Entlassung erhält, hilft das, erneute gesund-
Interview
„ ie Hoffnung auf Strukturreformen wächst“
D
Reichelt: Die große Aufgabe einer Neuabgrenzung von ambulanter und sta-
Dr. Herbert Reichelt
tionärer Versorgung kann nur schrittweise bewältigt werden. Dabei sollte das
ist Vorstandvorsitzender des
ambulante Operieren als erste Stufe in Angriff genommen werden. Ebenfalls
AOK-Bundesverbandes.
fortgeführt werden sollte die Überlegung, die Kooperation von niedergelasse-
G+G: Die Arbeitsgruppe Gesundheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat nen Ärzten und Krankenhäusern zu verbessern. Unter der Aufteilung der
Vorschläge für ein Versorgungsgesetz vorgelegt. Gute Aussichten? m
edizinischen Versorgung in verschiedene Sektoren leidet die kontinuierliche
Reichelt: Die Hoffnung auf lange überfällige Sturkturreformen im Gesund- und abgestimmte Behandlung der Patienten.
heitswesen wächst. Die in dem 14-Punkte-Papier skizzierten Ansätze gehen
in die richtige Richtung. Es ist gut, wenn Gesundheitspolitik nicht mehr um die G+G: Die Union setzt zudem die Gestaltung des Verhältnisses von
Interessen starker Lobbys kreist, sondern die Patienten in den Mittelpunkt Kollektiv- und Selektivverträgen auf die Agenda. Inwieweit deckt sich das
stellt. Das Ziel muss sein, die Qualität der Versorgung weiter zu erhöhen – ohne mit Forderungen der Gesundheitskasse?
die Versicherten zusätzlich zur Kasse zu bitten. Die Unions-Arbeitsgruppe hat Reichelt: Die AOK teilt die Einschätzung, dass das Verhältnis von Kollektiv- und
mit ihren Vorschlägen die wesentlichen Baustellen benannt. Dazu gehören Selektivverträgen stringenter geregelt werden muss. Mehr Wettbewerb in den
neben der ärztlichen Bedarfsplanung unter anderem die Zusammenarbeit Vertragsbeziehungen zwischen Kassen und Leistungserbringern soll dazu
über Sektorengrenzen hinweg und die Gestaltung der Vertragslandschaft. beitragen, Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung gezielt
zu verbessern. Das kann jedoch nur gelingen, wenn Direktverträge auch an
G+G: Die Union will gleiche Rahmenbedingungen für die Bereiche schaffen, die Stelle von Kollektivverträgen treten dürfen. Die AOK begrüßt deshalb
in denen Vertragsärzte und Krankenhäuser ambulant tätig sind. Wie kann ausdrücklich das Vorhaben, die Bereinigung der Kollektivvergütungen einfach
das funktionieren? und zeitnah zu ermöglichen.
36 Ausgabe 2/11, 14. Jahrgang
6. heitliche Probleme und Wiedereinwei- Impfungen, Mammografien und Ko-
sungen zu vermeiden. loskopien, seit Oktober 2010 nicht mehr
unter den Selbstbehalt fallen. Was die
Abläufe sind schlecht organisiert. Eine Vereinigten Staaten nun endlich als Ver-
weitere Chance, die gesundheitliche Ver- besserung einführen wollen, werden wir
sorgung zu verbessern, besteht im Hin- doch wohl nicht ohne Grund aufgeben.
blick auf die Wartezeiten in der Arztpra- Weil auch in Deutschland mehr als
xis. Gesetzlich Versicherte sitzen häufig zwei Drittel der GKV-Mitglieder nur ein
lange im Wartezimmer, bis sie der Arzt monatliches Bruttoeinkommen von
aufruft. Laut einer aktuellen Befragung weniger als 2.000 Euro beziehen und
des Wissenschaftlichen Instituts der daher nicht über die notwendigen finan-
AOK (WIdO) empfanden rund ein Drit- ziellen Ressourcen zum Einkauf von
tel aller Patienten die Wartezeit in der Gesundheitsleistungen verfügen, ist die
Praxis als zu lang. Häufiger Grund für medizinische Versorgung auch weiterhin
die Geduldsprobe: Noch immer organi- durch das Sachleistungsprinzip ohne
sieren viele Arztpraxen die Abläufe nicht Vorkasse zu gewährleisten. Dieses Ver-
effizient und patientenfreundlich, denn fahren hat dazu geführt, dass unabhän-
es fehlen entsprechende Anreize. gig von der wirtschaftlichen Leistungs-
Es sollte sich für die Ärzte lohnen, ihre fähigkeit des Einzelnen die Menschen
Sprechstunde vernünftig zu organisieren Wenn Patienten ihre in Deutschland eine diskriminierungs-
und so die Wartezeiten zu verkürzen. freie medizinische Versorgung erhalten.
Auch hier muss gelten: Wer messbar Therapien zunächst Es ist somit eine wesentliche Säule un-
bessere Ergebnisse hat, sollte auch besser seres Krankenversicherungssystems.
vergütet werden. Ein gutes Patienten selbst zahlen müssen,
management könnte ein weiteres Krite- Innovationen statt Untergangsstimmung.
rium für den Abschluss von Direktver- laufen sie Gefahr, auf Die Gesundheitsversorgung ist in
trägen zwischen Krankenkassen und Deutschland auf einem hohen Niveau.
Ärzten sein. Versicherte einer Kranken-
einem Teil der Kosten Doch wir zahlen auch viel dafür. Und
kasse, die vorrangig mit gut organisierten wir können noch besser werden. Deshalb
Praxen Versorgungsverträge abschließt,
sitzenzubleiben. brauchen wir anstelle einer Mangel- und
müssen sich dann nicht mehr über inak- Untergangsdiskussion vielmehr eine
zeptable Wartezeiten ärgern. Versorgungs- und Innovationsdiskussi-
on. Ziel jeglicher Versorgungsverbesse-
Sachleistung statt Vorkasse. Wenig patientenfreundlich ist rung müssen die Patienten sein und nicht statistische, techno-
dagegen der Plan, das Sachleistungsprinzip in Zukunft verstärkt kratische und interessengeleitete Aspekte eines in Schubladen
durch die Kostenerstattung zu ersetzen. Gesetzlich Kranken- aufgeteilten Gesundheitssystems. Ein Versorgungsgesetz muss
versicherte sollen nach dem Willen der Regierungskoalition ihre spürbare Leistungs- und Qualitätsverbesserungen für die Ver-
ärztliche Behandlung oder Arzneimittel zunächst selbst in der sicherten bringen. √
Praxis oder in der Apotheke voll bezahlen. Mit der Rechnung
gehen sie dann zu ihrer Krankenkasse und lassen sich ihre Aus- Jan Carels ist Geschäftsführer Politik und Unternehmensentwicklung
lagen erstatten. Jedoch dürfen die Krankenkassen diese Rech- im AOK-Bundesverband. Kontakt: Jan.Carels@bv.aok.de
nungen nicht im vollen Umfang übernehmen, sondern nur die
Kosten in Höhe der Sachleistung. Es droht dadurch die Gefahr,
dass die Versicherten finanziell überlastet werden, wie Erfah- Lesetipps
rungen aus dem Ausland zeigen. In den USA haben in der
• Karl-Heinz-Schönbach: So bleibt Medizin nahe dran. In: G+G 1/2011,
Vergangenheit immer mehr Menschen versucht, durch höhere S. 28–35. Download: www.aok-bv.de Mediathek G+G
Selbstbeteiligungen ihre Krankenversicherungsprämie zu senken. • G+G-Spezial 11/2010: Rundum besser versorgt.
In den letzten vier Jahren hat sich die Zahl der US-Bürger ver- Download: www.aok-bv.de Mediathek G+G-Spezial
dreifacht, die eine Krankenversicherung mit einem Selbstbehalt • Jan Carels: Wie lange hält die Reform? In: G+G 10/2010, S. 36–40
(„Deductible“) von mindestens 1.000 US-Dollar abgeschlossen • Kassenärztliche Bundesvereinigung: Versichertenbefragung 2010.
haben. Da sie für alles, was unter dieser Grenze liegt – Arztbe- Download: www.kbv.de Mediathek Sonderpublikationen Studien
suche, Labortests, Medikamente – selbst aufkommen müssen, • C. Günster, J. Klose, N. Schmacke (Hrsg): Versorgungs-Report 2011,
haben viele aus Kostengründen Arztbesuche hinausgezögert Schwerpunkt: Chronische Erkrankungen. Schattauer-Verlag, Stuttgart.
oder vermieden. Die US-Regierung hat daraus die Konsequen- • Klaus Jacobs, Sabine Schulze: Bauer sucht Arzt.
In: G+G 3/2010, S. 20–25
zen gezogen und sowohl den Selbstbehalt begrenzt als auch
• G+G-Gespräch: Planung darf nicht an Sektorengrenzen Halt machen.
Finanzhilfen für Versicherte mit niedrigem Einkommen be-
In: G+G 3/2010, S. 26–32.
schlossen. Zudem dürfen bestimmte Vorsorgeleistungen, wie
Ausgabe 2/11, 14. Jahrgang 37