Medienkompetenz zwischen Kontrolle, Selbstkontrolle und Kontrollverlust - …
1. Jörg Hafer M.A.
www.joerghafer.de
24.03.2013
Medienkompetenz zwischen Kontrolle, Selbstkontrolle und
Kontrollverlust - und zwischen mehr...
Zu: Schulmeister, Rolf (2012) „Der Schlüssel zur Medienkompetenz liegt im Begriff
der Kontrolle.“ In: zeitschrift für e-Learning, 7 (4), 35–45.
Leitthema von Schulmeisters Beitrag ist das Verhältnis von (Selbst-)Kontrolle und
Medienkompetenz, expliziert an den Themen E-Portfolios, Blogs und Soziale Netzwerk-Seiten
(SNS) - also dem, was als "Web 2.0" bezeichnet werden darf - im Kontext von E-Learning.
Zur Einführung formuliert er den Leitgedanken und zugleich Kernthese des Beitrags: "Um die
Fähigkeit zu Selbstreflexion zu entwickeln, wäre es wichtig, die Selbstkontrolle über die
Nutzung der Medien zurückzugewinnen." (S. 36)
Im Folgenden nimmt der Beitrag zunächst die kommerziellen ("sozialen") Webdienste in den
Blick und stellt dar, wie sich der Verlust der Kontrolle konkretisiert. Dabei bezieht er sich
mehrfach auf den Sammelband "Generation Facebook" (siehe: http://www.transcript-
verlag.de/ts1859/ts1859_1.pdf)
von Leistert und Röhl (2011). Wie die informationelle Selbstbestimmung - trotz
selbstgesetzter Entscheidung, Privates öffentlich zu machen - in den kommerziellen Sozialen
Netzwerk-Seiten auf der Strecke bleibt, wird anhand
• der "Wahrnehmungsverengung" hinsichtlich dessen, was das Internet sei,
• der "Vermischung der privaten und kommerziellen Sphäre" (Beispiel: Like-Button)
und
• der Entwicklung "proprietärer Inseln" und des dadurch drohenden Verlustes der
"Offenheit des Internet"
nachgezeichnet. Die Schlussfolgerung ist jedenfalls deutlich: "Wer seine privaten Daten
diesen Medien anvertraut, entlässt sie aus der eigenen Verfügungsgewalt, denn die Regeln,
die Facebook seinen NutzerInnen offeriert, spiegeln ihnen nur vor, sie selbst und nicht
Facebook hätten die Kontrolle über die ihre Daten,…" (S. 36-37).
Der Begriff der Kontrolle, wie Schulmeister ihn in Anschlag bringen möchte, wird im
Weiteren näher beleuchtet. Er möchte ihn in Bezug auf Daten und Informationen im Sinne
zweier Bedeutungen verstanden wissen, einmal der fremden, externen Kontrolle und zum
anderen im Sinne der Selbstkontrolle; "Kontrolle im Sinne einer fremden oder externen
Kontrolle versus einer Kontrolle im Sinne einer Selbstkontrolle über die privaten Daten und
Informationen".
Schulmeister folgert, dass die Frage, wer die Kontrolle über die Daten hat, über deren
Zugehörigkeit zum "öffentlichem" oder "privatem" Bereich entscheidet: "Die Veröffentlichung
privater Daten kann gewollt sein, aber dann sind es öffentlich Daten, die nicht mehr vom
individuellen Subjekt kontrolliert werden können. Öffentlichkeit bedeutet automatische
Kontrollverlust." (S. 37)
J. Hafer - 24.03.2013 - zu: Schulmeister „Der Schlüssel zur Medienkompetenz…" Seite 1 / 5
2. DATEN
fremde, externe Kontrolle über Daten & Selbstkontrolle über Daten und
Informationen Informationen
öffentliche Daten private Daten
Im Hinblick auf Lernumgebungen und Medienumgebungen zieht Schulmeister dann auf
einer weiteren Ebene noch die Dichotomie "geschlossen" und "offen" hinzu: "Der Gegensatz
von privat und öffentlich korrespondiert mit dem Gegensatzpaar von geschlossen und offen"
(S. 37)
LERNUMGEBUNG
offene Umgebung geschlossene Umgebung
Aber, wie Schulmeister feststellt; auch in einer geschlossenen Lernumgebung findet fremde,
externe Kontrolle statt. In institutionellen Lehr-Lern-Settings in denen die Evaluation,
Bewertung, Feedback etc. zu den individuellen "Lernergebnissen" bzw. "Leistungen" einen
unverzichtbaren Bestandteil darstellt, ist die Grenze der unmittelbaren Privatheit (d.h. im
Sinne von Schulmeister einer 'nicht angetasteten Nicht-Öffentlichkeit') per se überschritten.
Im Bereich der Bildungsmedien werde diese Dialektik von Privatem und Öffentlichem
besonders dann deutlich, wenn die Lehrenden den Lernenden "angenommene
Selbstorganisationsfähigkeit […] und Fähigkeit zur Selbstreflexion" als Grundannahme für
ihre Web 2.0-Konzepte zusprechen. Auf der Ebene der Lernprozesse erscheint dies "als
Widerspruch von Kontrolle versus Freiheit bzw. von Bewertung versus Selbstreflexion im
Lernen." (S. 37)
LERNPROZESSE
Kontrolle Freiheit
Bewertung Selbstreflexion
E-Portfolios: Kontrolle und Selbstkontrolle
Im nächsten Schritt wendet Schulmeister diese Begriffsfolien auf die E-Portfolios an. Dabei
ist sein wesentlicher Bezugspunkt in der Portfolioarbeit die Selbstreflexionsfähigkeit als
"Krone jedes Bildungsprozesses". Er stellt fest, dass sich in E-Portfolio-Prozessen und
-Umgebungen die Modi der Kontrolle und Evaluation einander widersprechen und das
überdies, mit dem Verweis auf C. Rogers, "psychische und motivationale Widerstände"
vorhanden sein können, die in der Abwehr von Selbstreflexion und letztlich in der Abwehr
von Lernanforderungen sichtbar werden. Schulmeister schlussfolgert; Wenn Widerstände
überwiegen, dann wird Kontrolle an die "Situation, das System, die Organisation, den/die
DozentIn abgegeben" (S. 38) Das bedeutet mit anderen Worten, dass sich Fremdkontrolle
und Selbstreflexion einander ausschließen. Und das gilt auch für geschlossene
Lernumgebungen, wenn dort die "Bedrohungswahrnehmung" anwesend ist. Als praktische
Konsequenz aus dieser Analyse empfiehlt Schulmeister schließlich, dass "Portfolios, die der
didaktischen Reflexion dienen, von einer Bewertung ausgeschlossen werden, keine
Selektionsfunktion ausüben, nicht jedoch ohne Rückmeldung bleiben." (S. 38)
Schulmeister zeigt anhand von Beobachtungen aus eigenen Lehrveranstaltungen auf, dass
Selbstreflexion nur bei einem Teil der Portfolios sichtbar wurde. Unter Bezug auf Rogers folgt
die Analyse, dass die Vermeidung von (sichtbarer!) Selbstreflexion bildungsbiografische und
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3. emotionale Gründe haben könne. Hieraus zieht Schulmeister die Folgerung, dass dem "dem
Widerspruch zwischen Privatheit und Öffentlichkeit eine weitere Facette hinzu[gefügt
werde]: Fehlende Autonomie und Selbstbestimmtheit der Lernenden sind Hindernisse auf
dem Weg zur Selbstreflexion. Kontrolle meint damit nicht nur die Situation der Bewertung,
sondern auch Kontrolle im Sinne von Selbstkontrolle." (S. 39) Was genau Schulmeister mit
dem letzten Satz meinte, ist mir leider nicht ganz klar geworden: Wird hier die
Selbstkontrolle als notwendige Voraussetzung für Selbstbestimmtheit gesetzt oder wird die
Kontrolle - sowohl als Fremd- wie Selbstkontrolle - als Hindernis der Selbstreflexion
benannt?
Die Ambivalenzen und Paradoxien der E-Portfolio-Arbeit sind seit der Campus Innovation
2009 und dem Buch "Kontrolle und Selbstkontrolle" (2011) Teil der E-Learning-Diskussion.
Schulmeister greift diese auf, indem er das entwickelte Begriffsschema auf zwei Portfolio-
kritische Beiträge aus dieser Diskussion anwendet (Reinmann und Häcker), insbesondere die
Ambivalenz von Kontrolle und Selbstkontrolle in Lehr-Lern-Settings: "Die Idee der
Selbstorganisation, wenn sie als Karriereziel und Wettbewerbsvorteil fungiert korrumpiert
sich selbst." (S. 39) Die letzte Überlegung von Schulmeister führt die Kritik an Sozialen
Netzwerk-Seiten (Facebook) und E-Portfolios zusammen: "Wer sich […] vom E-Portfolio (wie
von Facebook) vereinnahmen lässt, hat Kontrolle an die Technologie abgegeben und die
Selbstkontrolle verloren." (S. 39-40) Hier ist klarer. welche Rolle die Selbstkontrolle spielt:
Sie ist als Voraussetzung bzw. notwendiges Element eines autonomen, selbst-reflexiven
Umgangs mit den Medien gemeint.
E-PORTFOLIOS
Bewertung, Selektionsfunktion Selbstreflexion
Fehlende Autonomie, fehlende Selbstorganisation, Selbstkontrolle
Selbstbestimmtheit
Weblogs: Freiwilligkeit und Zwang
Die zweite Technologiegattung, die Schulmeister untersucht, sind Weblogs. Hier wird das
dichotomische Analyseraster zunächst an den Eigenschaften "Pflichtaufgabe […] (Kontrolle)"
und "freiwillige Leistung" angewendet, da das freiwillige oder eingeforderte Verfassen von
Blogbeiträgen im Rahmen der Lehrveranstaltung das verbreitete Szenario der Blog-Arbeit
darstellt. "Freiwilligkeit", so die Beobachtung, führe jedoch meist zu geringerer Beteiligung.
Ist das Verfassen von Beiträgen Pflichtaufgabe führe das hingegen bei einer Mehrheit der
Verpflichteten zu einem "Mangel an Reflexion zur Sache sowie an Selbstreflexion." (S.40)
Diese Beobachtung wird weitergeführt zur Einschätzung, dass "einige Studierende die
Lernziele als selbstkongruent wahrnehmen und ihre Lernleistungen in Freiwilligkeit
erbringen, […] andere die Leistung pflichtgemäß [erbringen], weil sie die Ziele als
fremdbestimmt und die Bewertung als bedrohlich erleben." (S. 40) Wird das Verfassen von
Blogbeiträgen als Pflichtleistung von den Studierenden eingefordert, seien Fremdkontrolle
und Fremdbestimmung bestimmend für die Situation. Diese "Beteiligung unter Zwang" (nach
einer Formulierung von Grell & Rau 2010) sei kennzeichnend beim Einsatz von Weblogs.
Darin komme zum Ausdruck, so Schulmeister, dass "die Kräfte, die in einem System wirken,
das Lernleistungen durch Prüfungen attestieren muss, und die Probleme, die die Individuen
daran hindern, sich autonom und selbstbestimmt zu verhalten, sowie die Verlockungen der
Freizeit stärker sind als der Wille zur Partizipation in organisierten Lernprozessen." (S. 41)
Die Crux sei, dass beim Einsatz von Weblogs wie Portfolios eine Selbstreflexion verlangt
werde, "die von vielen nicht zu leisten ist. Selbstreflexion aber bedarf unbedingt der Freiheit,
um authentisch zu sein." (S. 41) Dem Anforderungsprinzip kann Schulmeister jedoch
offenbar etwas abgewinnen: Nach der Anführung von Belegen, die auf einen Rückgang der
Beteiligung und Anwachsen der passiven Nutzung von Web 2.0-Diensten schließen lassen,
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4. erwägt Schulmeister, in eine Antithese zu Prensky ("Bücher in Universitäten abschaffen") ob
es nicht "Zeit [werde] darauf zu bestehen, dass Originalwerke auch in Gänze gelesen und
studiert werden?" (S. 42)
WEBLOGS
Pflichtaufgabe, Kontrolle Freiwilligkeit
Lernziele fremdbestimmt, Bewertung Lernziele sind selbstkongruent, erbringen
bedrohlich von Leistung in Freiwilligkeit
Umgang mit Netz und Medien: Erweiterung und Fragmentierung
Im folgenden Abschnitt greift Schulmeister den Widerspruch von Kontrolle und
Selbstkontrolle erneut auf und expliziert ihn in die Formen von "Öffentlichkeit" und
"Privatheit" (z.B. bei Facebook), "utopisch überschießenden Freiheitsbegriff" versus
"Zertifizierung von Leistung" (in Bildungsinstitutionen) sowie "Schutz des Einzelnen" und
dem Bedürfnis, "Öffentlichkeit an den eigenen Erkenntnissen zu beteiligen".
Letzteres und das Folgende bezieht sich nun auf das "Internet im Ganzem", in dem das
Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit "in einer merkwürdig dynamischen Variante"
vorkomme, die durch "Dezentrierung" und "Fragmentarisierung" gekennzeichnet sei (S. 42).
Dies führe zum Verlust der Übersicht und notwendiger Engführung der Wahrnehmung von
Wissensbeständen und Informationen. Diese Dezentralisierung geht jedoch einher mit der
Etablierung von "MeinungsführerInnen" und der Bildung von "Klumpen informationell
geschlossener Subeinheiten" so dass sich der Großteil der Aufmerksamkeit auf eine
Minderheit von Akteuren richtet. Diese Beschränkung auf relativ wenige geteilte Räume in
denen sich identische Informationen und Wissen vervielfältigen, führe unter anderem dazu,
dass "Der subjektive Fokus des Einzelnen […] sich sozusagen seine eigenen eigene
'geschlossene' Umgebung [konstruiert]." Daher könnten "wir vom Internet nicht mehr als
offenen Raum sprechen." (S. 42)
INTERNET
Erweiterung Fragmentierung
offener Raum geschlossene Umgebung
Fazit: Interessen und Selbstbewusstsein
Im Fazit des Beitrags zieht Schulmeister eine kritische Bilanz im Hinblick auf die
"Unterstellung […], dass die Studierenden (Menschen) selbstbestimmt seien, selbstreguliert
lernen, sich autonom verhalten, unabhängig entscheiden und kontextsensibel handeln" (S.
43). Den Anteil an Studierenden, die so gekennzeichnet werden könnten, sei nach
Berücksichtigung aller (leider nicht näher bezeichneten) "Forschungen zur Diversität der
Studierenden, ihrer kognitiven Entwicklung, ihrem moralischem Denken, ihrem Lernstil, ihrer
Motivation, ihren Leistungen etc. […] maximal 15%" Didaktische Szenarien und Modelle, die
auf eine autonome Handlungsweise der Studierenden aufbauten, müssten, mit einem Zitat
von G. Reinmann, daher als "sozialromantische und pseudodemokratische Vorstellungen"
betrachtet werden (S. 43). Denn, so Schulmeister weiter, es gebe nicht nur diejenigen die
nicht "mitziehen können, es gibt auch viele, die nicht mitziehen wollen und zu deren
Interessen ein derartiges Ziel gar nicht gehört." (S. 44) Gerade diejenigen, deren Interessen
nicht Aktivität und Partizipation ist, würden von einer wohlmeinenden Web-2.0-Didaktik
verfehlt. Diese Majorität gelte es jedoch zu berücksichtigen, wenn es um die Planung (auch)
von mediengestützten Angeboten gehe, die passive und rezeptive Mediennutzung sei die
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5. Wahrscheinlichere: "Es ist nicht zu erwarten, dass alle Menschen, die eine Innovation
rezeptiv nutzen, sie auch aktiv nutzen werden. Sie werden stattdessen etwas anderes tun,
und dies möchte ich akzeptieren." (S. 44)
Den Beitrag schließt Schulmeister mit dem Rückgriff auf das Leitthema "Kontrolle" und
einem Appell an das autonome Selbstbewusstsein, dass sich dem sozialem Druck zu einer
ständigen medialen Präsenz auch verweigern dürfe: "Der Schlüssel zur vernünftigen
Nutzung der Technologie liegt im Begriff der Kontrolle. Wir haben die Wahl: Wir können die
Kontrolle an das Medium abgeben oder die Selbstkontrolle behalten."
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