Social Media: von netten Gesprächen und harten Fakten
Transmediales Erzählen
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Transmediales
Erzählen
Hrsg.: Anna E. Rentsch, Dirk Schütz, Christian Henner-Fehr
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Das eBook „Transmediales Erzählen“ ist entstanden in Kooperation von kulturkurier inside,
Kulturmanagement Network und der stARTconference.
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Inhaltsverzeichnis
Über dieses eBook...................................................................................................................................................................4
Die Kunst des digitalen Erzählens (Christian Henner-Fehr)............................................................................................7
Transmedia-Storytelling in der Praxis: das wilde Dutzend (Dorothea Martin)..........................................................14
Transmediale Kommunikation: die Kunst der modernen Geschichtenerzähler und ihre digitalen Werkzeuge
(Frank Tentler) ......................................................................................................................................................................16
Das Asisi Projekt (Anna E. Rentsch)...................................................................................................................................27
Wenn der Browser laufen lernte (Manuel Scheidegger).................................................................................................32
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Über dieses eBook
Geschichten haben die Menschen schon immer fasziniert. Ob es um Jahrhunderte alte Märchen geht oder um
Harry Potter, wir lassen uns gerne fesseln von Erzählungen, die unsere Phantasie anregen und uns so zum
„Mitmachen“ auffordern. Viele von uns verbinden mit solchen Geschichten Erinnerungen an die Kindheit, in
denen uns Märchen vorgelesen wurden oder wir uns irgendwo mit einem Buch verkrochen haben und längere
Zeit nicht mehr ansprechbar waren.
Die Zeiten haben sich geändert, Geschichten werden nicht mehr nur über das Medium Buch transportiert,
sondern über eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Medienkanäle. Film, Comic oder Hörspiel, ja sogar über
Spiele lassen sich Geschichten erzählen. Während wir die verschiedenen Medienformate früher meist
nebeneinander und unabhängig voneinander nutzten, erleben wir nun, wie sie sich immer mehr annähern. Als
das Internet aufkam, sahen viele das Ende des Buches als gekommen. Weit gefehlt, unter dem Stichwort
Medienkonvergenz subsumieren wir eine Entwicklung, die nicht zu einem Verdrängungswettbewerb führt,
sondern versucht, die verschiedenen Formate sinnvoll miteinander zu verbinden.
Das ist eine der Voraussetzungen für Transmedia Storytelling, das Erzählen einer Geschichte mit Hilfe
verschiedener Medienformate, so eine zugegeben etwas saloppe Erklärung. Ist Transmedia Storytelling nun
einfach nur ein Hype, der vorübergehen wird? Wie funktioniert Transmedia Storytelling genau und handelt es
sich dabei um eine Entwicklung, die vor allem die Film- und Buchbranche interessiert und damit etwa an
Theatern und Museen vorbei gehen wird?
Um diese und viele andere Fragen wird es auf der stARTconference gehen, die Mitte November 2011 zum
dritten Mal in Duisburg stattfinden wird. Dieses eBook soll Ihnen einen ersten Einblick in die Welt des
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Transmedia Storytelling vermitteln. Dafür haben kulturkurier inside, Kulturmanagement Network sowie das
Team der stARTconference fünf spannende Artikel herausgesucht und hier zusammengefasst.
Christian Henner-Fehr beschreibt im ersten Beitrag dieses eBooks die theoretischen Grundlagen für Transmedia
Storytelling. Wie das in der Praxis aussieht, zeigt Dorothea Martin am Beispiel von „Das wilde Dutzend”.
Dahinter verbergen sich “Loge und Verlag für Rätselhaftes und Verborgenes” und die Idee, rund um die
Schreckenschronik „Die Guten, die Bösen und die Toten“ des 1899 plötzlich verschwundenen Totenfotografen
Johan von Riepenbreuch eine transmediale Welt zu kreieren. Wie aber entwickelt man eine solche transmediale
Welt? Während Christian Henner-Fehr in seinem Artikel auf die theoretischen Grundlagen von Transmedia
Storytelling eingeht, erklärt Frank Tentler, welche digitalen Werkzeuge sich dafür nutzen lassen. Und wie sieht
das dann in der Praxis aus? Anna E. Rentsch hat sich das Pergamon-Projekt von Yadegar Asisi angeschaut und
zeigt, wie sich Kulturgeschichte vermarkten lässt. Klingt unmöglich? Dann lassen sie sich überraschen. Welche
Rolle dabei das Internet spielt, beschreibt Manuel Scheidegger, der als Gründer eines Startups eine Web-
Anwendung entwickelt hat, die es jedem User möglich macht, verschiedene Webinhalte zu kombinieren und zu
inszenieren.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der Lektüre dieses eBooks und freuen uns, wenn wir mit diesem Dokument
auch Ihre Freunde, Kollegen und weitere Interessierte für das Thema Transmedia Storytelling begeistern
können.
Anna E. Rentsch (kulturkurier inside)
Dirk Schütz (Kulturmanagement Network)
Christian Henner-Fehr (stARTconference)
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Die Kunst des digitalen Erzählens (Christian Henner-Fehr)
Geht es um Geschichten, fällt uns allen etwas dazu ein. Ob es die Geschichten selbst sind oder Geschichten über
Geschichten, meist handelt es sich um Erlebnisse, die sich durch eine besondere Atmosphäre auszeichnen und
uns auch aus diesem Grund in Erinnerung geblieben sind. Wem es gelingt, seine Zuhörer auf diese Weise zu
verzaubern, macht seine Geschichten unvergesslich. Davon träumen wir alle und sind deshalb bemüht, unsere
Inhalte, wenn es irgendwie geht, in Geschichten zu packen. Aber natürlich sind wir nicht alle erfolgreich und so
geraten viele Geschichten wieder in Vergessenheit.
Geblieben ist aber die Frage nach dem (Erfolgs)-Geheimnis von Geschichten, um die eigenen Erlebnisse
„unvergesslich“ zu machen. Geschichten bedürfen einer Handlung, die sich, so können wir etwa in Aristoteles
Poetik nachlesen, durch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende auszeichnet und nach bestimmten Regeln
„funktioniert“. Zurück in der Gegenwart beschreibt Nicole Mahne in ihrem Buch „Transmediale
Erzähltheorie“1 das Figurenpersonal, den Ort der Ereignisse und die Zeit, in der sie sich vollziehen als die
Grundelemente einer Geschichte. Als Ereignis definiert sie „alle Formen der Zustandsveränderung“, die
entweder passiv durch ein Geschehnis oder aktiv durch eine Handlung hervorgerufen werden. Sie „in eine
chronologische und kausale Ordnungsstruktur zu überführen, bildet“, so Mahne, „das Fundament für die
Gestaltung von Erzählwerken“, die in ihrer medialen Äußerungsform an die Darstellungsoptionen der
Trägersubstanz gebunden sind. „Erzählmedien, wie der Roman, der Film, der Comic usw. sind demzufolge
keine neutralen Übertragungswege, sondern gestalten durch ihre internen Strukturgesetze den Erzählinhalt
entscheidend mit.
1 Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie (2007)
8. Seite 8
Damit sind wir beim Thema Transmedia Storytelling angekommen, der Kunst, Geschichten über verschiedene
Kanäle hinweg zu erzählen. In den letzten Wochen und Monaten ist vermutlich kein Tag vergangen, an dem
sich nicht irgendjemand daran gemacht hat zu erklären, was Transmedia Storytelling ist. Noch so ein Hype,
werden Sie vielleicht denken. Aber vielleicht ist genau das der Grund, sich etwas genauer damit zu
beschäftigen.
Was verstehen wir unter Transmedia Storytelling?
Als ich im Januar den Blogbeitrag „In zwei Minuten wissen Sie, was Transmedia Storytelling ist“ 2 online stellte,
habe ich es mir noch leicht gemacht und mit Hilfe eines Videos den Begriff zu erklären versucht. So ganz ist das
nicht gelungen, wie die Kommentare gezeigt haben und rückblickend würde ich sagen, kratzt dieses Video nur
an der Oberfläche von dem, was Transmedia Storytelling sein kann. Sein kann deshalb, weil sich heute viele
Medienproduktionen damit schmücken, eine Geschichte transmedial zu erzählen und eigentlich gar nicht so
ganz klar ist, wann wir von Transmedia Storytelling sprechen können und wann nicht.
Wer sich mit dem Thema beschäftigt, landet recht schnell bei einem Blogpost, das Henry Jenkins schon im Jahr
2007 geschrieben hat und den Titel „Transmedia Storytelling 101“3 trägt. Jenkins, derzeit Professor an der
University of Southern California, hat darin eine Definition vorgeschlagen, die wohl auch heute noch Gültigkeit
besitzt:
Transmedia-Storytelling beschreibt einen Prozess, der entscheidende Bestandteile einer Geschichte systematisch
2 http://bit.ly/f32kZl (26.10.2011)
3 http://bit.ly/qL6PZe (26.10.2011)
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können, von denen die Autoren anfangs unter Umständen noch gar keine Ahnung haben. Jenkins spricht von
einem Prozess, aus dem heraus sich Handlungen in bestimmte vorher nicht festgelegte Richtungen entwickeln
können.
Der daraus entstehende Fluss der Inhalte lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise erzählen. Jenkins
arbeitet in seinen beiden Beiträgen verschiedene Aspekte heraus, mit denen sich beschäftigen sollte, wer
transmediale Welten entwerfen möchte. Ein wichtiger Aspekt ist die Erzählstruktur. Vor allem das Fernsehen
macht deutlich, welche Ansätze möglich sind. Episodenhaften Serien, bei denen jede Folge abgeschlossen ist
(siehe z.B. die Krimiserie „ Tatort“) stehen mehrteilige Filme gegenüber, deren Folgen sich unmittelbar
aufeinander beziehen, etwa die in den 1960er und 1970er Jahren gezeigten Durbridge-Mehrteiler. Egal für
welchen Ansatz man sich entscheidet, die Herausforderung besteht darin, den Erzählstoff sinnvoll zu
portionieren.
Mit Hilfe der Erzählstruktur Spannung erzeugen
Während früher, so Jenkins, das episodenhafte Erzählen im Vordergrund stand, habe vor allem das
amerikanische TV in der jüngeren Vergangenheit mehr auf das serielle Erzählen gesetzt. Diese Entwicklung
habe, so ist er überzeugt, das Publikum auf Transmedia Storytelling vorbereitet. Ein Beispiel für diese
Entwicklung ist die in den USA produzierte TV-Serie „LOST“, in der das serielle Element dominiert (siehe
dazu: Verena Schmöllers Artikel „Further Instructions“ in: „Durch das Labyrinth von LOST“). Interessant ist,
dass die Ausstrahlung im deutschen Fernsehprogramm gar kein so großer Erfolg war, während sich die DVD-
und Blu-Ray-Editionen sehr gut verkauften.
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Die meisten transmedial erzählten Geschichten weisen eine serielle Erzählstruktur auf, aber nicht jede seriell
erzählte Geschichte ist transmedial, schreibt Jenkins und verweist an anderer Stelle auf die Bedeutung der
sogenannten Cliffhanger5, die dazu dienen, verschiedene narrativ nicht abgeschlossene Folgen durch
Spannungsaufbau kurz vor dem Ende einer Folge miteinander zu verknüpfen und die
ZuseherInnen/LeserInnen dadurch dazu zu bringen, die nächste Folge anzuschauen oder den nächsten Band
zu lesen.
Serielles Erzählen bedeutet aber nicht automatisch, dass die Geschichte linear erzählt wird. Gerade der
transmediale Sprung in ein anderes Format erlaubt auch zeitliche Sprünge, die in Form einer Backstory häufig
in der Vergangenheit spielen und zum Beispiel zusätzliche Informationen über eine oder mehrere Charaktere
enthalten. Möglich ist es etwa, zwischen zwei Staffeln einer TV-Serie einen der Charaktere ein Blog betreiben zu
lassen, das in der Vergangenheit spielt und dessen Entwicklung skizziert.
Diese inhaltlich begründete Beziehung zwischen – in diesem Fall – den Folgen einer TV-Serie und den
Beiträgen eines Blogs ist eines der Kennzeichen von Transmedia Storytelling. Diese inhaltliche Verschränkung
ist nicht neu und folgt dem Prinzip der Intertextualität, das sich – wenig überraschend – nur auf das Textformat
bezieht. „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines
anderen Textes“, zitiert Wikipedia die bulgarisch-französische Psychoanalytikerin und Kultur- und
Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva, die diesen Begriff in der Beschäftigung mit Michail Bachtins
Dialogizitätsmodell entwickelt hat.
5 Wikipedia: “Der Begriff steht für den offenen Ausgang einer Episode auf ihrem Höhepunkt. Den Fortgang der Handlung
beantwortet die nächste Episode.”; http://bit.ly/mZuCLI (26.10.2011)
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Intertextualität (Jenkins spricht von „radically intertextuality“, erläutert diesen Begriff aber nicht weiter)
verneint die interpretatorische Vormachtstellung der AutorIn und geht von einem Netzwerk an Texten aus, die
erst durch die verschiedenen Verknüpfungen ihre wahre Bedeutung entfalten können. Transmedia Storytelling
funktioniert nach dem gleichen Prinzip, beschränkt sich aber nicht nur auf ein (Text)-Format, sondern nutzt
beliebig viele unterschiedliche Formate.
Unterschiedliche Formate erfordern aber einen unterschiedlichen Umgang, konstatiert Jenkins und führt in
diesem Zusammenhang den von Gunther Kress geprägten Begriff der Multimodalität ein. 6
Kress, Professor für Semiotik, beschäftigt sich mit der Frage, wie die neue Komplexität von „Texten“ verstanden
werden kann. Kommunikation läuft immer häufiger über mehrere Kanäle gleichzeitig (multimodal) und
benötigt neue Kompetenzen, die wir uns erst nach und nach aneignen müssen.
Von der Story zur transmedialen Story
Erst die Kombination von „radikaler Intertextualität“ und „Multimodalität“ macht aus einer Story eine
transmediale Story. Aber auch nur dann, wenn beide Ansätze dazu verwendet werden, die Story anzureichern.
Jenkins orientiert sich in diesem Zusammenhang an dem von Spielentwickler Neil Young eingeführten Begriff
der Bedeutungserweiterung („additive comprehension“).
Jeder zusätzliche Baustein der Geschichte muss also einen Mehrwert liefern, womit wir wieder bei der
Erzählstruktur und der Herausforderung, die Story entsprechend zu portionieren, jedes seiner Einzelteile
inhaltlich aufzuladen und ein Stück weit „autonom“ zu gestalten, gelandet sind.
6 siehe dazu: Gunther Kress: Reading Images: Multimodality, Representation and New Media; http://bit.ly/qlP6cN (26.10.2011)
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Wer Transmedia Storytelling lediglich als das Erzählen einer Geschichte mit Hilfe mehrerer Formate versteht,
wird dem Begriff nicht gerecht. Henry Jenkins versteht darunter das Zusammenspiel verschiedener sehr
komplexer Phänomene, das sich in folgender Formel darstellen lässt:
Radikale Intertextualität + Multimodalität + Bedeutungserweiterung = Transmedia Storytelling
Erst in diesem Fall dürfen wir von Transmedia Storytelling als der Kunst des digitalen Erzählens sprechen,
wobei das erst die Grundformel ist. Aber ohne die geht es wohl kaum.
Autor: Christian Henner lebt und arbeitet als Kulturberater in Wien. Er betreibt das Kulturmanagement Blog und ist
Mitorganisator der stARTconference.
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Transmedia-Storytelling in der Praxis: das wilde Dutzend (Dorothea Martin)
„Das wilde Dutzend – Loge und Verlag für Rätselhaftes und Verborgenes“. Der Name ist Programm. Seit einem
Jahr betreiben wir am Prenzlauer Berg in Berlin einen Verlag, der für die Öffentlichkeit als Fenster zu einer
Geheimgesellschaft fungiert. Dieser geheime Orden existiert bereits seit dem Mittelalter und verfolgt das Ziel,
Licht ins Dunkel bekannter und nicht so verbreiteter Mysterien in Literatur und Kultur zu bringen.
Unser Mittel dabei ist Transmedia Storytelling zwischen Realität
und Fiktion. Bücher sind ein Medium unter vielen, um die Welt von
„Das wilde Dutzend“, seiner Mitglieder und Künstler zu erzählen
und weiterzuführen. Als wir im Herbst 2010 unser erstes Buch, die
verloren geglaubte viktorianische Schreckenschronik „Die Guten,
die Bösen und die Toten“ des 1899 plötzlich verschwundenen
Totenfotografen Johan von Riepenbreuch publizierten, boten wir
daher sofort Möglichkeiten, die über das Buch hinausgingen.
Mithilfe des Online-Glossars „Dichtung und Wahrheit“ kann z.B.
mehr über die einzelnen Verse erfahren werden. Zahlreiche
Veranstaltungen beleuchteten die Entstehungszeit des Buches
genauer: Rollenspielabende erforschten das Gaslight-London Jack
the Rippers, ein Hörspiel- und Videoscreening erkundete die Kunst
der viktorianischen Totenfotografie und weitere seltsame
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Phänomene, und Magister Koepping bewies in den Lesungen der Chronik, dass der Autor bereits früher Fans
hatte.
Seit April 2011 ist nun auch die geheime Identität eines Logenmitglieds
bekannt: Adele, die literarische Detektivin der Loge. 1900 begann sie mit ihrer
Suche nach Johan von Riepenbreuch und seinem Manuskript. In einer
interaktiven Story-Ausstellung konnten die Besucher von „Adeles Salon“
online wie offline die Geschehnisse rund um Adeles Spurensuche im Berlin
des Jahres 1900 mitschreiben: Wen sollte sie befragen, welche Orte
aufsuchen? Nach fünf Ausstellungstagen in der KunstBox Berlin zog sie
weiter an den Geburtsort Johans, Stillvelde. Was sie dort erlebte wird sie
Anfang Oktober zurück im Logenladen (der nach Adeles letztem
Arbeitszimmer gestaltet wurde) in Berlin präsentieren. Dort sind rätselhafte,
geheimnisvolle und obskure Produkte zu finden, aber hier ist auch die
„Heimat“ der regelmäßigen Veranstaltungen rund um die Story Welt des
Verlags und seiner Werke – inklusive exklusiver Clubmitgliedschaft.
Autorin: Dorothea Martin ist Transmedia Konzeptionerin bei imaginary friends und leitet zusammen mit ihrer Kollegin
Simone Veenstra den unabhängigen Berliner Verlag „Das wilde Dutzend“, in dem sie für Transmedia Konzeption und
Marketing zuständig ist.
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Transmediale Kommunikation: die Kunst der modernen Geschichtenerzähler
und ihre digitalen Werkzeuge (Frank Tentler)
Die schönste Geschichte funktioniert nur, wenn auch der Rahmen stimmt.
Schon als Kind war ich begeistert von Geschichtenerzählern und ihren Auftritten. Als ich 6 oder 7 Jahre alt war,
nahmen mich meine Eltern mit auf eine Kinderbuch-Ausstellung. Damals entdeckte ich, dass es eine Welt der
unendlichen Fantasie gibt, die man einfach mit einem (Buch)-Deckel öffnen kann. Alleine diese Erkenntnis hätte
diesen Tag unvergesslich gemacht, wenn da nicht noch diese beiden Erwachsenen gewesen wären, die in einem
abgedunkelten Raum in einem Lichtkegel saßen. Leise Musik klang aus dem Raum und ich ging neugierig, aber
auch etwas besorgt hinein.
Nach über einer Stunde fanden mich meine Eltern wieder. Sie hatten die ganze Ausstellung nach mir
abgesucht. Letztendlich fanden Sie mich auf dem Boden sitzend, meinen Kopf auf die Hände gestützt und mit
offenen Mund den beiden Erwachsenen lauschend, die für mich und die anderen Kinder den Raum in ein
Wunderland verwandelt hatten.
Um sie herum war ein undurchschaubares Sammelsurium an Gerätschaften. Instrumente, Hölzer, Kästchen,
Kokosnussschalen, Taschenlampen, Bleche und viele Dinge, die ich nicht kannte, lagen in Griffweite bereit.
Einer der beiden begann eine Geschichte zu erzählen. Begleitet wurde er von seinem Kollegen, der mit den
bereit liegenden Gegenständen eine Klangkulisse erschuf, die dem Rhythmus und der Dynamik der Geschichte
und der Sprache angepasst war, sie untermalte und verstärkte. Dieses Zusammenspiel bewirkte bei uns kleinen
Zuhörern eine Art Trance. Es bewirkte auch einen Sog, dem sich keiner entziehen konnte. Immer wieder
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Plötzlich gibt es Möglichkeiten für Geschichtenerzähler, die den bis dahin bekannten geographischen und
dramaturgischen Rahmen um neue Dimensionen erweitern.
Und plötzlich sind sie wieder gefragt, die Geschichtenerzähler.
Nur dass sie heute keine Instrumente mehr bedienen, oder aus Blechen Donner zaubern.
Heute heißen ihre Werkzeuge YouTube oder Flickr und sie unterhalten ihre Zuhörer interaktiv und
multimedial in den virtuellen Hallen von Facebook, Twitter und Co.
Die Grundlagen für "Transmedia Storytelling" bestehen in meinem Beruf aus 4 verschiedenen Bereichen:
• ·der Kunst des Erzählens (Storytelling)
• dem technisch-kommunikativen Web-Know-How (Transmedia)
• Aufmerksamkeit und Interaktion (Social Marketing)
• Erfolgskontrolle (Monitoring Social Impact)
Erst wenn diese Bereiche zusammen spielen, wird eine Geschichte im Web zu einer nachweislichen und
nachhaltigen Erfolgsgeschichte.
Die Kunst des Erzählens
Es klingt so einfach wenn man gesagt bekommt: "Erzähl uns eine Geschichte!". Sicher, heute kommt das nicht
mehr so oft vor. Eltern erzählen (hoffentlich) ihren Kindern Märchen, oder an Lagerfeuern, wenn archaische
Grundmuster bei uns wieder greifen, schwingt sich jemand zum Geschichtenerzähler auf. Aber im Grunde
überlassen wir diese Kunst den Unterhaltungsmedien, die diese in unterschiedlichster Qualität ausüben.
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Beginnt man mit seiner Geschichte, tritt man immer einer Erwartungshaltung gegenüber. Der Zuhörer will
Gefühle spüren, will sich freuen, gruseln und lachen. Er will mitgenommen werden auf eine Reise. Eine Reise
voller Abenteuer, Liebe, Hass und einem überraschenden Ende, das nicht unbedingt „Happy“ sein muss.
Diese Grundmuster der Unterhaltung finden sich auch in den Geschichten wieder, die das Web erzählt. Wenn
wir im Web von „viralem Marketing“ sprechen, meinen wir besonders gut erzählte Geschichten, die via
Mundpropaganda weitererzählt werden. Nur dass hier der Mund zumeist YouTube oder ein Weblog ist, der
Marktplatz als „Tratschplatz“ von den „Social Networks“ abgelöst wurde und die Geschichte nicht durch
„Stille Post“ an Inhaltsverlust leidet, sondern durch spontane Interaktion erweitert werden kann.
Jede neue Website, jedes Event und jedes Projekt im Web braucht eine eigene Geschichte. Dafür sollte man sich
viel Zeit nehmen, diese logisch und nachvollziehbar zu entwickeln. Diese Geschichte und ihre Dramaturgie
entscheiden über den Erfolg einer Aktion.
Ist die Geschichte nicht stimmig und wenig unterhaltsam, braucht man sich über die folgenden Punkte keine
Gedanken zu machen.
Das technisch-kommunikative Web-Know-How
Erinnern Sie sich noch an die Beschreibung des Geschichtenerzählers aus meiner Kindheit? Wie er mit
Instrumenten, Licht und Geräuscherzeugern eine Stimmung aufgebaut hat und somit seine Geschichte zu
einem fesselnden Erlebnis machte? Genau das Gleiche macht der digitale Geschichtenerzähler auch, nur das er
über gänzlich andere Werkzeuge und Instrumente verfügt.
Die Werkzeuge des „Social Webs“ sind die „Web 2.0“-Angebote. Ob „Social Networks“ wie Twitter und
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• Wie gestalte ich meinen Social-Web-Auftritt?1
Und wenn ich Teile des Projekts auslagern möchte:
• Woran erkenne ich eine Web-Schmiede, die mir das richtige Social-Web-Umfeld erstellt?
• Wie erkenne ich einen erfahrenen Web-Medienproduzenten?
• Woher bekomme ich einen Social-Media-Manager mit den nötigen Social-Web-Skills? 2
Fragen, die nur auf 2 Wegen zu beantworten sind: Entweder sich die Zeit nehmen, diese Erfahrungen selbst zu
machen, oder die Leistung eines Beraters einkaufen.
Aufmerksamkeit und Interaktion
„Social Marketing“ - also das offene, authentische Marketing in den sozialen Netzwerken und der Aufbau einer
netzübergreifenden Community3 - ist für die allermeisten Werbetreibenden eine "Terra Incognita".
Gerade Deutschland tut sich hierbei besonders schwer und hinkt, egal wie groß ein Unternehmen auch ist, dem
Trend immer 2-3 Jahre hinterher4. Im Falle des „Social Web“ ist das aber besonders fatal. Denn hierbei handelt
es nicht um einen kurzfristigen Hype, sondern die Fortsetzung der persönlichen Interaktion ins Internet.
1 Social Websites: http://bit.ly/tentler_001 (26.10.2011)
2 Social Web Skills: http://bit.ly/tentler_02 (26.10.2011)
3 Cloud Community: http://bit.ly/tentler_3 (26.10.2011)
4 Unternehmenskommunikation und Social Web: http://bit.ly/tentler_004 (26.10.2011)
23. Seite 23
Aber diese Form der Selbstdarstellung, des Erlangens einer verdienten Reputation ist für Unternehmen ein
extrem schwieriges Unterfangen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, doch haben Agenturen und Marketing-
Experten durch jahrzehntelanges Frontal-Marketing verlernt, dass sie es primär mit Menschen zu tun haben,
die auch als solche behandelt werden wollen.
Einfluss und nachhaltige Aufmerksamkeit erhält man im „Social Web“ nur durch einen langen Atem, Echtheit,
Unterhaltungswert und Offenheit. Wenn nicht sogar Ehrlichkeit.
Die Welt der Web-Nutzer kann man grob in 3 Gruppen zusammenfassen: 5
• User (95%)
• Influencer (4%)
• Celebrities (1%)
Die Preisfrage: Welcher der 3 ist für ein „Social Marketing“ die wichtigste Gruppe? Auf jeden Fall der
Influencer. Er hat zu seinem Themengebiet eine treue und ihn verehrende Fan-Gemeinde. Ist er überzeugt,
stellen seine Netzwerk-Kommentare eine unbezahlbare Unterstützung für das eigene Projekt dar.
Einen Influencer zu einem Thema zu finden, ist aber nicht einfach. Denn dazu gehören lediglich 4 Prozent der
Social-Web-Nutzer, die aber das Verhalten der restlichen 96 Prozent beeinflussen können. Um sie zu finden gibt
es ein paar technische Tricks...und eine Menge Social-Web-Erfahrung kann nicht schaden.
Aber wie geht man jetzt eigentlich vor, um die nötige Aufmerksamkeit für sein Projekt zu bekommen? Um es
5 User, Influencer & Celebrities: http://bit.ly/tentler_005 (26.10.2011)
24. Seite 24
einmal bildhaft auszudrücken, hier ein Beispiel:
Wenn Sie im „Social Web“ ein Musikprojekt für Jugendliche bewerben wollen, sagen Sie, dass Sie ein Fan von
Justin Bieber sind und überzeugen Musik-2.0-Guru Gerd Leonhard, dass Ihr Projekt wirklich gut ist!
Stecken Sie sich den Celebrity deutlich sichtbar ans Rever und machen sich den Influencer durch ehrliche
Überzeugungsarbeit zum digitalen Freund. Jeder dieser Influencer sucht nach neuen und vor allem guten
Ideen. Denn er ist der Kurator für seine Follower. Sie folgen ihm, fragen ihn und verlangen von ihm, dass er sie
ständig mit neuer digitaler Vollwertkost aus seinem Kernthema füttert. Tut er das nicht, wird er seinen Status
verlieren, sein "Social Impact" wird schwächer und schwächer und sein eigenes Marketing funktioniert nicht
mehr.
Erfolgskontrolle
Im „Social Web“ hat Quantität eine geringe Bedeutung. Das ist wie im richtigen Leben: Schwätzer und deren
nervige, inhaltslose Einmischung in private Unterhaltungen mögen wir nicht. Ohne inhaltliche Qualität geht im
Web jede Botschaft verloren. Hier unterhalten sich Menschen in ihren eigenen persönlichen Umgebungen und
strafen jeden ab, der sie mit einer Flut von platter Frontal-Werbung vollspamt. Was hier zählt, ist der „Social
Impact“. Darunter versteht man die nachhaltige Wahrnehmung und Einflussnahme eines Unternehmens, eines
Projekts in einem Netzwerk. Einfach gesagt: Den Grad der kompetenten sozialen Interaktion.
Noch einfacher: die Tiefe der „Freundschaft“ zwischen Web-Nutzern. Denn im „Social Web“ ist ein Projekt
oder ein Unternehmen nicht mehr als ein normaler Web-Nutzer unter vielen, der sich seinen Respekt durch
vorbildliches Verhalten und eine Mehrwert für das Netzwerk erarbeiten muss.
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und sozialen Kommunikation, die wir aber alle genauesten aus unserem Privat- und Berufsleben kennen.
Daher fällt sie Milliarden von Menschen auch so leicht und sie nutzen sie vollkommen natürlich, sozial und
ungezwungen7.
Werbetreibende werden sich damit abfinden müssen. Sie werden sich ihre alten Marketing-Reflexe abtrainieren
und sich wieder auf ihre menschlichen Wurzeln besinnen müssen. Umkehrbar ist diese Entwicklung nicht
mehr, ganz im Gegenteil, sie wird sich permanent beschleunigen.
Autor: Frank Tentler8 berät Unternehmen, Kulturbetriebe, Kommunen und Behörden bei der Integration des Web 2.0 in
Kommunikations- und Marketing-Strategien und ist Mitorganisator der stARTconference. Heute liegt sein Schwerpunkt
auf multimedialen und nachhaltigen Marketing-Aktionen im Social Web.
7 Social Media Counter: http://bit.ly/tentler_007 (26.10.2011)
8 http://www.franktentler.com (26.10.2011)
27. Seite 27
Das Asisi Projekt (Anna E. Rentsch)1
Das Asisi Pergamon in Berlin im Innerhof des Pergamon Museums wurde am 30.09.2011 eröffnet. Die gesamten
Vorbereitungen wurden mit einer inspirierenden Social Media Strategie dem Rezipienten näher gebracht.
Dahinter steckte Frank Tentler, dessen Aufgabe gemeinsam mit dem Social Media Team der asisi GmbH darin
besteht, Kulturgeschichte für einen Rezipienten, der sich bis dato weniger bis gar nicht mit der Antike
beschäftigt hat, im Social Web erlebbar zu machen. Das ist eine große Herausforderung, die so nicht zu
unterschätzen ist.
Die asisi GmbH, die das Großprojekt erst möglich macht, hat sich ein Webteam aus etwa 4 Personen
zusammengestellt, wobei nicht alle mit den sozialen Medien von Anfang an professionell vertraut waren.
Angeleitet werden sie durch Frank Tentler, der einmal pro Woche einen Inhouse Workshop gab, damit die
Mitarbeiter das Gefühl für die sozialen Medien gewinnen können.
Beim Pergamon-Projekt geht es um ein Zukunftsmarketing der Kulturgeschichte. Dabei geht es wiederum um
die Waage von Redaktion und Kommunikation, was abhängig voneinander mit dem Ziel der nachhaltigen
Kundengewinnung und Kundenbindung korreliert.
1 Siehe Blogbeitrag „Das Asisi-Projekt“ http://bit.ly/u0drTQ (26.10.2011)
28. Seite 28
Wir haben noch näher nachgefragt:
Interview mit Yalda Bouzrina | Stellv. Geschäftsführerin der asisi GmbH | Leiterin des Bereichs Marketing und
Kommunikation
1 . Seit wann nutzen Sie Social Media für den Internet-Auftritt des Asisi-Projekts und was waren die
Beweggründe?
Seit November 2010 bauen wir unsere Kompetenz in Kommunikation und Marketing im Social Web
kontinuierlich aus. Bereits seit September 2010 beschäftige ich mich mit der Entwicklung einer Marketing- und
PR-Strategie, da der Aufbau eigener multimedialer Kommunikationswege im Web bereits heute von
grundsätzlicher Wichtigkeit für ein Unternehmen ist und – mit der Reduzierung relevanter klassischer Medien
wie Zeitungen, Radio und Fernsehen – immer schneller an Bedeutung gewinnt.
2 . Warum haben Sie sich für die genutzten Kanäle Twitter, Facebook und einen Blog sowie Vimeo und
Flickr entschieden?
Wir unterscheiden in der Nutzung zwischen „Social Networks“ (Facebook, Twitter) und „Social Web
Applikationen“ (Flickr, YouTube, Vimeo). Erstere dienen der Echtzeit-Kommunikation mit den Usern (Twitter,
Facebook Fanpages, …) und als Grundlage für ein Anzeigen- und App-Marketing (Facebook Adds). Zweitere
nutzen wir, um Medien kostenlos zu speichern, sie zum Einbetten in Websites und Blogs zur Verfügung zu
stellen und sie auch für andere Wege des „Media-Sharings“ nutzbar zu machen (Social Bookmarks,
Bewertungs-Button, …). So erzielen wir sehr einfach eine transmediale Verteilung unserer Inhalte, was
30. Seite 30
Ein „Web-Team“ betreut das Blog und die Social-Web-Anwendungen und steht als Kompetenz-Team für
andere Abteilungen und Mitarbeiter zur Verfügung.
Ausgehend von unserem Blog verteilen wir die Beiträge automatisch in die Anwendungen. Zusätzlich werden
Facebook und Twitter persönlich betreut und dienen als ein wichtiges Standbein der „Transmedia
Storytelling“-Strategie. Schnittstelle für jeden Content ist das zentrale Web-Team, das durch eine Fokussierung
der Inhalte auf Themen-Websites (wie z. B. http://flavors.me/asisi_rotunde), die sich automatisch aus dem
vorhanden Content füttern, Highlights gebündelt hervorhebt. So werden Schwerpunkte aufgebaut, die über
einen längeren Zeitraum ein wichtiges Thema im Bewusstsein der User halten.
4 . Das Panometer Dresden GmbH und das Panometer Leipzig GmbH bilden den inhaltlichen
Präsentationsort der entwickelten Ausstellungsform Yadegar Asisis. Wie stellen Sie das online dar bzw. was
wollen Sie mit Ihrem Social Media Konzept erreichen?
Wir wollen mehr für die Kunst von Yadegar Asisi werben, die Botschaften und Inhalte weiter verbreiten, mehr
Menschen zugänglich machen. Es ist eine kontinuierliche Herausforderung – wir sind noch in der Entwicklung
– Anwendungen zu schaffen, die das 3-D-Panoramaerlebnis und die Botschaften des Künstlers in die virtuelle
Welt tragen. In diesem Zusammenhang ist es ganz spannend, dass wir in der Zukunft auch unsere
Bildungsangebote vielen Leuten öffentlich machen können. Die Übertragung in die virtuelle Welt wird helfen,
sie nutzbarer und greifbarer zu machen.
5 . Was planen Sie noch im weiteren Verlauf?
Die Welt, die die Panoramen beschreiben, wollen wir immer stärker vermitteln. Ich denke, dass wir über die
Social Media endlich über die richtigen Kanäle verfügen, um die Menschen, die sich für uns interessieren, tief
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und weitreichend mitzunehmen. Das geht viel unmittelbarer und ausführlicher als in den klassischen Medien.
Außerdem können wird unser Angebot stärker nach den Bedürfnissen der interessierten Menschen gestalten.
Für Pergamon steht noch die spannendste Phase bis zur Eröffnung am 30. September bevor. Wir werden in
unseren Kanälen darüber berichten.
Vielen herzlichen Dank für das ausführliche Interview.
Weiterführende Links:
• Webseite: www.asisi.de
• Facebook: www.facebook.com/asisi
• Twitter: twitter.com/#!/asisi
• Flickr: www.flickr.com/photos/asisivc/
• Vimeo: vimeo.com/user4899769/videos
• Webseite zur Ausstellung: www.smb.museum/pergamon-panorama_/
Anna Rentsch betreut die Veranstalterplattform www.kulturkurier.de und schreibt den Blog http://blog.kulturkurier.de.
Dabei geht sie vor allem auf die Nutzung von Facebook für das Kulturmarketing ein und berät damit Kultureinrichtungen.
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Wenn der Browser laufen lernte (Manuel Scheidegger)
Das Internet ist das wichtigste Medium unserer Zeit - aber ist es tatsächlich ein Medium? Das Internet ist voller
Erzählungen – aber erzählt es tatsächlich selbst? Trotzig behauptete der Publizist Ben Macintyre 2009 in der
Times Online: „The Internet is killing storytelling!“ Heute antworten wir: Natürlich nicht! Genauso wenig wie
„video killed the radio star“. Nur ist hier etwas anders. Es wird nicht gefragt, ob das neue Medium Internet die
alten Medien verdrängt. Es wird verneint, dass es überhaupt kann, was alte Medien können: die Kunst der
Erzählung.
Sicherlich wird im Netz massenweise kommuniziert, und sicherlich gibt es Tonnen von Erzählungen. Aber
diese liegen bei YouTube als Filme, bei Flickr als Fotografien, bei Soundcloud als Musik, sie sind Texte,
Textbildcollagen oder im spannenderen Fall flashanimierte Environments. Eine Masse von alten Medien, die
auch offline funktionieren: auf dem TV, dem Plattenspieler, im Buchdruck oder auf dem PC. Die eigentliche
Vernetzung des Netzes findet anders statt: Sie liegt in der Bewegung der User von Content zu Content und in
den Meta-Kommentaren, mit denen sie sich in gemailten Links, Bookmarkern und Social Networks
austauschen. Das Internet ist noch Multimedia. Es ist eine riesige Telekommunikationsmaschine, in der
unzählige andere Medieninhalte versendet, gezeigt und besprochen werden. Das Internet könnte aber auch ein
eigenständiges Medium sein. Es wäre dann Transmedia: Die Nutzung aller Medien auf einmal. Genau das, was
eigentlich jeder User alltäglich immer schon praktiziert, wenn er mehrere Fenster offen hat.
Internet tötet nicht das Storytelling, genauso wenig wie das bewegte Bild die Fotografie getötet hat. Im
Gegenteil wurde eine völlig neue Dimension des Erzählens geschaffen, wie die User sie in ihrem kreativen
Surfen neu entdeckt haben. Vielleicht geht es nur darum, dieses Surfen selbst als Medium anzuerkennen und zu
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beginnen, es für Erzählungen zu nutzen: Der Browser wäre die Leinwand, die es zu bespielen gilt. Wie wäre es
denn, wenn Browser nicht einen Inhalt in einem Fenster auf einen Klick laden würden? Wenn stattdessen
Autoren die Anzeige von Inhalten in Browsern inszenierten? Viele Fenster könnten sich magisch animiert
öffnen, bewegen, einblenden, übereinander legen und mit einem musikalischen Fade-out wieder
verschwinden? Web-Inhalte blieben greif- und nutzbar, aber man könnte sich auch zurücklehnen, um das ganz
neue Spiel einer transmedialen Surfinszenierung zu genießen? Womöglich steht das Storytelling des Internet
ganz am Anfang, weil uns die antiquierten Browser noch nicht erlauben, mehr aus ihnen zu machen. Es fehlt an
Tools, um sie ästhetisch zu nutzen.
Mit Guido.Creative Browsing machen
wir einen Anfang. Unsere Web-
Anwendung ermöglicht jedem
User, beliebige Inhalte des Web neu
zusammenzustellen und mit
Effekten zu inszenieren und dann
von anderen Usern durch surfen zu
lassen. Unsere Vision ist eine Web-
Erzählung, in der der User seine
Bewegungsfreiheit nie verliert:
Gestaltung aus offline Medien wie
Filmen und gleichzeitig die Freiheit
für Betrachter, alle Schnipsel zu
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verwenden. Im Internet wird offen präsentiert, kommentiert und weiterverlinkt. User bewegen sich frei. Wir
glauben, dass es höchste Zeit ist, dass sie die unendlichen Materialressourcen des Web recyclen, kreativ mixen
und mit anderen teilen können. Herzlich willkommen zu browserbased Cross-Content-Storytelling – wenn
Browserfenster laufen lernen.
Manuel Scheidegger, MA Philosophie, arbeitet in Theater und Werbung und ist mit Janosch Asen Gründer von
Farfromhomepage , einem Berliner Startup, das diesen Herbst ein neuartiges Tool für Web-Storytelling lanciert.