2. FUKUSHIM A
Was genau
geschah:
Chronik einer
Katastrophe
AUGUST 2011
M AL ARIA PHILOSOPHIE EUROPE AN XFEL
Neue Strategien gegen Braucht das Denken Hamburg erhält einen
die tödliche Seuche die Sprache? Röntgenlaser der Superlative
8/11
Kosmische
Inflation
Ein Grundpfeiler der Urknall-
theorie gerät ins Wanken
7,90 € (D/A) · 8,50 € (L) · 14,– sFr.
D6179E
www.spektrum.de
3. Editorial
Hartwig Hanser
Redaktionsleiter
hanser@spektrum.com
Autoren in diesem Heft
Ausstieg aus der Unsachlichkeit
A m 30. Juni beschloss der Deutsche Bundestag unter dem Eindruck der Katastrophe von
Fukushima den Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022. Nun kann man zu der grundsätz-
lichen Frage, ob zur Sicherung der Energieversorgung Kernkraft genutzt werden sollte oder
unter Astrophysikern gilt die
»kosmische inflation« als allge-
mein anerkannt. doch es gibt
nicht, verschiedene Positionen einnehmen – Befürworter wie Gegner haben bedenkenswerte auch handfeste Gründe, die
Argumente anzubieten. Lässt man jedoch die Entwicklung seit dem 11. März 2011 Revue pas- gegen diese theorie sprechen.
sieren, beschleichen einen ernsthafte Zweifel, ob Sachargumente in dieser Diskussion die der Physiker Paul J. Steinhardt,
wichtigste Rolle gespielt haben. Eher drängt sich der Eindruck auf, dass politisch-taktische direktor des Princeton Center
und emotionale Aspekte den Diskurs dominierten. Doch sollten auf dieser Basis wirklich Ent- for theoretical science an der
scheidungen von derartiger Tragweite gefällt werden? Ich bin überzeugt: Auch auf einer wis- Princeton university im us-Bun-
senschaftlich fundierten Basis hätte man bei entsprechendem Willen einen Ausstieg be- desstaat new Jersey, stellt sie
schließen können – was ihm womöglich eine weitaus dauerhaftere Legitimation und auch ab s. 40 vor.
Akzeptanz in der Gesamtbevölkerung verschafft hätte.
In diesem Sinn präsentiert unser Artikel ab S. 76 die Fakten. Vier Experten für Nuklear-
sicherheit und Reaktortechnik, darunter Joachim Knebel, Chief Science Officer am Karlsru-
her Institut für Technologie (KIT), analysieren minutiös den Unfallhergang in Japan. Außer-
dem geht der französische Biophysiker Pierre Henry vom CNRS ab S. 68 der Frage nach, war-
um mit einem derart starken Beben wie am 11. März kaum gerechnet wurde – wo solche doch
in der Geschichte Japans immer wieder vorkamen. Pierre Henry ist Geophysiker am
französischen Zentrum für
Erdbeben und Tsunami haben in Japan mehr als 20 000 Todesopfer gefordert. An Malaria wissenschaftliche forschung
sterben jedes Jahr rund eine Million Menschen, etwa die Hälfte von ihnen Kinder unter fünf (Cnrs). Ab s. 68 geht er den
Jahren. Schon seit Jahrzehnten versuchen Forscher, einen wirksamen Impfstoff gegen die ursachen des schweren erd-
Seuche zu entwickeln, bislang ohne Erfolg. Jetzt gibt es einen neuen, viel versprechenden An- bebens vom 11. märz in Japan
lauf, der ein so genanntes Adjuvans nutzt – einen Impfstoffverstärker. Damit besteht offen- auf den Grund.
bar eine realistische Chance, in wenigen Jahren Säuglinge in Afrika großflächig mit einer Vak-
zine zu impfen, die dann zumindest jedes zweite Kind vor der Krankheit schützt (S. 24).
Daneben verfolgen Wissenschaftler andere, auf den ersten Blick oft verblüffende Strate-
gien: So immunisiert Rhoel Dinglasan von der Johns Hopkins University in Baltimore nicht
die Menschen, sondern die Anopheles-Mücken, die den Malariaerreger beim Blutsaugen an
ihre Opfer weitergeben. Forscher von der Yale University wiederum konzentrieren sich auf
die hochselektiven Riechrezeptoren der Moskitos. Sie suchen nach Stoffen, die ganz spezi- den Geruchssinn von stech-
fisch deren Funktion beeinflussen, um sie dann als Lockmittel für Fallen, zur Abschreckung mücken haben John R. Carlson
der Insekten oder zu ihrer Irritation einzusetzen (S. 34). Derart vielschichtige Forschung ist und Allison F. Carey von der Yale
wichtig: Um die Malaria eines Tages wirklich besiegen zu können, wird vermutlich ein ganzes university im Visier – speziell
Bündel solcher Maßnahmen nötig sein. jenen der Anopheles-moskitos,
welche den gefährlichen malaria-
Herzlich Ihr erreger übertragen (ab s. 34).
sie fanden heraus, dass einige
wenige riechrezeptoren der
mücken hochselektiv mensch-
liche Gerüche registrieren.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · AUgUST 2011 3
4. inhalt
24 Tropenseuche Malaria 56 Sprache und Denken
86 Röntgenlaser der Superlative 76 Fukushima-Katastrophe
biologie & medizin Physik & astronomie mensch & kultur
TITELThEma
r 24 Neue Waffen gegen Malaria r 40 osmische Inflation
K
ary Carmichael
M auf dem Prüfstand serie PhilosoPhie
Rund eine Million Menschen tötet Paul J. Steinhardt r 56 prache und Denken
S
der Malariaerreger jedes Jahr. Was geschah direkt nach dem Gottfried Vosgerau
Endlich geben neue Impfstoffe Urknall? Das Inflationsszenario Ist Denken immer ein innerer
Anlass zu Hoffnung. Daneben beruht auf derart willkürlichen Monolog, oder kommt es auch
erproben Mediziner auch unge Annahmen, dass einige Forscher ohne Wörter aus?
wöhnliche Strategien gegen die jetzt nach Alternativen suchen
Tropenseuche – etwa das Immuni 62 en anderen verstehen
D
sieren der krankheitsübertragen Physikalische UnterhaltUngen Albert Newen, Kai Vogeley
den Moskitos 50 alendergeschichten
K Was passiert, wenn wir uns in
Norbert Treitz unsere Mitmenschen hinein
34 er Duft der Menschen
D Wodurch genau entstehen die fühlen oder denken? Eine neue
John R. Carlson, Allison F. Carey Jahreszeiten, und wozu braucht Theorie soll diese Frage beant
Forscher haben jetzt jene Riech man eigentlich Zeitzonen? worten
rezeptoren von Stechmücken
identifiziert, die selektiv auf schlichting!
menschlichen Schweiß reagieren – 54 paziergang am Meer
S
Titelmotiv: iStockphoto / Dominic Current,
ein weiterer neuer Ansatzpunkt H. Joachim Schlichting iStockphoto / Vladimir Nikitin,
für die Malariabekämpfung Weil sich Wasser gern um Sandkör Bearbeitung: Spektrum der Wissenschaft
ner legt, läuft man am Strand die auf der titelseite angekündigten
oft wie auf einem befestigten Weg themen sind mit r gekennzeichnet
4 SPEKTRUMDERWISSENSCHAFT·AUgUST2011
5. sPektrogramm
8 Quarks in ungesehener Eintracht •
Weibchen auf Wanderschaft • Wurm
lebt einen Kilometer tief unter der
Erde • Warum Rauchen schlank hält •
Die Quelle der Eisfontänen auf
Enceladus • End ose Nanodrähte aus
l
dem Ofen
bild des monats
11 iologische Schraube
B
forschung aktuell
12 Planet der Phagen
Welche Rolle spielen Bakterio
phagen in der Natur?
40 14 Großes Sterben
durch große Brände
Vulkanismus als Ursache von
TITELThEma Massen xtinktion bestätigt
e
Kosmische Inflation 16 Spinblockade in Solarzellen
Grund für geringen Wirkungsgrad
von Plastiksolarzellen aufgedeckt
20 as politische Gehirn
D
Ob konservativ oder liberal, lässt sich
erde umwelt technik comPuter an der Hirnstruktur vorher agen
s
21 Springers Einwürfe
Wasser entmystifiziert
68 as Megabeben in Japan
D r 86 anowelt im Röntgenlicht
N
Pierre Henry Gerhard Samulat
Seismologische Untersuchungen Bei Hamburg entsteht der über weitere rubriken
schlossen ein Erdbeben der drei Kilometer lange Röntgenlaser 3 Editorial
Stärke 9 in der Region Fukushima European XFEL. Er wird die For
6 Leserbriefe /Impressum
so gut wie aus. Im Nachhinein schung an Biomolekülen und
zeigt sich, welche Warnzeichen die Katalysatoren beschleunigen und 95 ezensionen
R
Experten übersehen haben und LiveEinblicke ins molekulare Stephen Hawking, Leonard
welchen Trugschlüssen sie aufge Geschehen erlauben Mlodinow: Der große Entwurf
sessen sind Gerhard Schurz:
interview Evolution in Natur und Kultur
r 76 ukushima
F 92 ukunftsbaustelle
Z David P. Barash, Judith Lipton: Wie
auch in Deutschland? Photonenfabrik die Frauen zu ihren Kurven kamen
Bernhard Kuczera, Ludger Mohrbach, Welche Chancen eröffnet die Daniel Lingenhöhl:
Walter Tromm, Joachim Knebel Umwandlung eines Beschleu Vogelwelt im Wandel
Was genau geschah in den Tagen niger entrums in eine »Fabrik«
z Klaus Michael Meyer-Abich:
nach dem 11. März im Kernkraft für Synchrotronstrahlung? Was es bedeutet, gesund zu sein
werk FukushimaDaiichi, und »Spektrum« sprach mit DESYChef Duncan Jones: Moon (Film) u. a.
inwiefern könnten sich die Ereig Helmut Dosch
104 issenschaft im Rückblick
W
nisse in Deutschland wiederholen?
Vom Panamakanal zur Glasfaser
Die Chronik einer Katastrophe
105 xponat des Monats
E
Oskar Salas Mixturtrautonium
WWW.SPEKTRUM.DE 106 Vorschau 5
7. Was den heutigen Ansätzen fehlt, ist Karl Popper
die Einbeziehung der Spiritualität (da- folgen sie uns
mit meine ich nicht die Religion) als
und der Objektbegriff im internet
transzendenten oder teleologischen Philosoph Michael Esfeld beleuchtete,
Zweck jeder Gesellschaft oder jedes wie die Quantenphysik das philoso-
Staates. Solange dieser Punkt, den Pla- phische Denken verändert. (»Das Wesen
ton sehr wohl in seine Überlegungen der Natur«, Juni 2011, S. 54) www.spektrum.de/facebook
mit einbezogen hat, außer Acht gelas-
sen wird, bleibt Gerechtigkeit ein theo- Norbert Hinterberger, Hamburg: Ich
retisches Konzept bar jeder praktischen halte Michael Esfelds Artikel nicht nur www.spektrum.de/youtube
Relevanz für den Bürger, der der Will- deshalb für den besten in dieser Philo-
kür einer sich selbst genügenden politi- sophieserie, weil er bisher der Einzige
schen Kaste ausgeliefert ist. war, der Karl R. Poppers Relevanz für die www.spektrum.de/studivz
Damit wäre Gerechtigkeit auf institu- schwierige Diskussion des Objektbe-
tioneller Ebene idealerweise platonisch griffs erkannt hat, sondern vor allem
in dem Sinn, dass jeder das erhält, was auch, weil ihm eine sehr dichte und ge-
www.spektrum.de/twitter
er braucht (nicht was er sich wünscht), schliffene Darstellung der wichtigsten
und auf individueller Ebene kantia- philosophischen Probleme der physika-
nisch, indem jeder so handelt, dass die lischen Kosmologie auf diesem engen Esfeld befreit uns hier mit seiner
Grundlagen seines Handelns jederzeit Raum gelungen ist. korrekten Beschreibung der Kausalität
zum universellen Gesetz erklärt wer- Popper hat bekanntlich schon sehr auf Quantenebene auch von der nicht
den könnten. Das dürfte auch Platon früh darauf aufmerksam gemacht, dass funktionierenden klassischen Vorstel-
gemeint haben, als er vom »besonne- wir nicht dazu gezwungen sind, Wahr- lung von Determinismus. Das hat mir
nen« Bürger sprach. scheinlichkeit (antirealistisch) als »Maß persönlich am besten gefallen – nicht
unseres Unwissens« zu betrachten, wie zuletzt wohl deshalb, weil ich seine Auf-
das in der Kopenhagener Interpreta- fassung von Kausalität selbst vertrete.
Elektronenübertragung tion (Bohr, Heisenberg, Born, von Neu-
auf den Schwefel mann und andere) geschehen ist, son-
Walkadaver sind ganze Ökosysteme, die dern als »Verwirklichungs-Tendenz« be-
Glas leitet Wärme doch
jahrzehntelang eine Vielfalt von Lebe- ziehungsweise »Propensität« bestimm- Eines der ersten Rastertunnelmikros-
wesen ernähren, wie der Paläontologe ter physikalischer »Dispositionen«, et- kope bestand großteils aus Glas. (»Ex-
Crispin T. S. Little herausfand. (»Oasen wa von Teilchen-Ensembles. All diese ponat des Monats«, April 2011, S. 91)
der Tiefsee«, März 2011, S. 74) Begriffe stammen schon von Popper.
Letzterer hat gegenüber der Untersu- Jörg Michael, Hannover: Die Behaup-
Winfried Nelle, Dortmund: Der Autor chung individueller Objekteigenschaf- tung, dass Glas keine Wärme leitet,
behauptet, die Bakterien würden Sau- ten den Begriff des physikalischen Pro- stimmt so nicht. Jedes Material leitet
erstoff aus Sulfat im Meerwasser ex- zesses bevorzugt (im Übrigen auch für Wärme. Glas leitet Wärme immerhin
trahieren und damit Knochenfett ver- makrophysikalische Objekte), den man schlechter als Metalle, aber immer noch
dauen. Die Aussage ist falsch, da die ja durchaus zwanglos und ohne Infor- besser als gängige Kunststoffe.
Bakterien die bei der (strikt) anaeroben mationsverlust auf der fundamentalen
Oxidation des Fettes zum Zweck der Beschreibungsebene rein energetisch
Energiegewinnung freigesetzten Elekt- ausformulieren kann. B r i e f e a n d i e r e da k t i o n
ronen unter anaeroben Bedingungen Anders gesagt: Auf den Materie- … sind willkommen! Schreiben Sie uns auf
auf den Schwefel des Sulfats und nicht beziehungsweise Objektbegriff werden www.spektrum.de/leserbriefe
auf Sauerstoff übertragen. wir vermutlich wesentlich leichter ver- oder schreiben Sie mit Ihrer kompletten
Adresse an:
Der Schwefel des Sulfats ist der Elek- zichten können als auf den Begriff der
tronenakzeptor, der von der Oxidati- Energie beziehungsweise der äquiva- Spektrum der Wissenschaft
onsstufe +VI durch Aufnahme von acht lenten Masse. Der Begriff Materie könn- Leserbriefe
Sigrid Spies
Elektronen zum Sulfid (Oxidationszahl te sich als idealistisch herausstellen –
Postfach 10 48 40
–II) reduziert wird (dissimilatorische und damit mindestens als überflüssig, 69038 Heidelberg
Sulfatreduktion). Der im Sulfat gebun- wenn nicht gar als irreführend in fun- E-Mail: leserbriefe@spektrum.com
dene Sauerstoff spielt bei der Reaktion damentalen Diskussionen. Das sollten
Die vollständigen Leserbriefe und Antwor-
keine Rolle. Das kann er auch nicht, da wir allein schon aus dem von Bell und
ten der Autoren finden Sie ebenfalls unter
er bereits vollständig reduziert ist (Oxi- Aspect hervorragend gestützten Phäno- www.spektrum.de/leserbriefe
dationszahl –II). men der Nichtlokalität gelernt haben.
WWW.SPEKTRUM.DE 7
8. spektrogramm
ElEMENTARTEIlCHENPHySIK
Quarks in ungesehener Eintracht
B islang gelten Quarks als mäßig
gesellige Elementarteilchen: Sie
gruppieren sich lediglich zu Paaren
sind: Hadronen, zu denen die Atom-
kernbausteine Proton und Neutron
gehören, mit je drei Quarks und Meso-
verschmelzen dabei zu Deuterium;
zusätzlich entstehen so genannte
Pi-Mesonen (Pionen). Mit Hilfe des so
oder Dreierbünden. Dementsprechend nen, die aus einem Quark und einem genannten WASA-Detektors nahmen
existieren nur zwei Sorten von Teil- Anti-Quark bestehen. Zwar erlaubt das die Wissenschaftler nun die Teilchen-
chen, die aus Quarks zusammengesetzt Standardmodell der Elementarteil- reaktionen mit bisher unerreichter
chenphysik Partikel, die aus mehr als Präzision unter die Lupe. Sie konnten
ForSChungSzentruM JüliCh
drei Quarks bestehen – nachgewiesen so einen extrem schnell vergänglichen
wurden sie aber noch nicht. Nun haben Zwischenzustand untersuchen, dessen
Physiker möglicherweise erstmals ein Eigenschaften sich nicht allein mit
Teilchen entdeckt, das sogar aus sechs herkömmlichen Teilchen erklären
Quarks besteht. lassen.
Beobachtet wurde es am Teilchen- Wie das Forscherteam berichtet,
beschleuniger COSY (COoler SYnchro- könnte es sich dabei um ein so genann-
tron) des Forschungszentrums Jülich, tes Multiquark-Hadron aus sechs
wo ein Forscherkonsortium mit 120 Quarks handeln. Allerdings ist es auch
Beteiligten Protonen und Neutronen möglich, dass diese gar kein kompaktes
miteinander kollidieren lassen. Die Teilchen bilden, sondern ein winziges
zusammenprallenden Hadronen »hadronisches Molekül«: Es wäre
analog zu einem normalen chemi-
schen Molekül aufgebaut, aber viel
Der schwedische WASA-Detektor kleiner und mit Quarks als Bausteinen
lieferte Hinweise auf ein Teilchen aus statt Atomen.
sechs Quarks. Phys. Rev. Lett. 106, 242302, 2011
ANTHRoPologIE
Weibchen auf Wanderschaft
V or rund zwei bis vier Millionen
Jahren lebten in Ost- und Süd-
afrika die Australopithecinen, zu
Die Wissenschaftler um Sandi Cope-
land rekonstruierten die Lebensge-
schichte von 19 Individuen der Arten
sich über die aufgenommene Nahrung
im Zahnschmelz niederschlägt.
So gelang es Copeland und ihrem
denen auch die berühmte Lucy gehör- Australopithecus africanus und Par Team, die Reviergröße der untersuch-
te, unsere »Urahnin«. Die Lebensweise anthropus robustus, indem sie winzige ten Australopithecinen zu ermitteln.
dieser Vormenschen liegt noch weit Mengen an Zahnschmelz aus den Demnach beschränkten sich die Männ-
gehend im Dunkeln, da sich Fossilfun- fossilen Gebissen verdampften und chen beider Arten auf ein Gebiet von
den Informationen darüber nur schwer darin das Verhältnis zweier Strontium- rund 30 Quadratkilometern. Ihr Revier
entnehmen lassen. Aus der Zusam- isotope bestimmten. Jede geologische war damit vergleichbar dem heutiger
mensetzung von Zähnen zweier Aus- Formation rund um die südafrikani- Gorillas, während etwa Schimpansen-
tralopithecinen-Arten schlossen nun schen Fundstellen Swartkrans und gruppen durchaus Gebiete von 600
Forscher vom Max-Planck-Institut für Sterkfontein weist ihr eigenes charakte- Quadratkilometern durchstreifen.
evolutionäre Anthropologie in Leipzig, ristisches Isotopenverhältnis auf, das Nature 474, S. 76 – 78, 2011
dass die Männchen ein Leben lang
Sandi Copeland, Mpi eVa
ihrem Geburtsort treu blieben, wäh-
rend die Weibchen auf Wanderschaft Die Forscher analysierten den fossilen
gingen – möglicherweise um sich Zahnschmelz mittels Laser Ablation
anderen Gruppen anzuschließen und Multicollector Inductively Coupled Plasma
dort Partner zu suchen. Ähnlich ver- Mass Spectrometry. Hierzu trugen sie mit
halten sich heute Schimpansen und einem Laser kleinste Mengen an biolo-
Bonobos, während bei den Gorillas gischem Material ab (als Riffelung auf der
beide Geschlechter wandern. Oberfläche im Bild erkennbar).
8 SPEKTRUMDERWISSENSCHAFT·AUgUST2011
9. autoren: Jan dönges, antje Findeklee, lars Fischer, Christian Maier, Maike pollmann
lEbENSRäUME
Wurm lebt einen Kilometer tief unter der Erde
I n tiefen Gesteinsschichten sind
die Lebensbedingungen hart:
Es ist heiß, Sauerstoff und Nahrung
Im Kluftwasser einer südafrikanischen
Goldmine, mehr als einen Kilometer
sind Mangelware. Entsprechend unter der Erde, lebt Halicephalobus
ließen sich dort bislang nur ein- mephisto, ein winziger
zellige Spezialisten nachweisen, die Fadenwurm.
immerhin bis zu drei Kilometer
unter der Oberfläche ihr Dasein
gaetan Borgonie, uniVerSität gent, Belgien
fristen. Jetzt entdeckten Wissen-
schaftler in mehr als einem Kilome-
ter Tiefe erstmals verschiedene
Fadenwürmer, darunter auch eine
neue Art: Halicephalobus mephisto.
Ein einziges Exemplar davon kam
mit dem Kluftwasser aus 1,3 Kilo-
meter Tiefe der südafrikanischen sich sogar, und zwar durch Partheno- dort also eine jahrtausendealte
Beatrix-Goldmine ans Tageslicht. genese, also mittels unbefruchteter Lebensgemeinschaft. Diese wird
Es ist etwa einen halben Millime- Eizellen. jedoch bei der Bohrung zerstört,
ter lang, sein Körper ist deutlich Gaetan Borgonie von der Uni- wenn Wasser mit hohem Druck den
geringelt und endet in einem relativ versität Gent und seine Kollegen Biofilm aus den Gesteinsklüften
langen, fadenförmigen Schwanz. Im vermuten, dass Halicephalobus spült, und regeneriert sich erst einige
Labor zeigte sich das Tier recht mephisto vor Ort Bakterienrasen Zeit nach Abschluss der Arbeiten
unempfindlich gegenüber hohen abweidet. Mittels Radiokarbonmes- wieder. Wohl deshalb habe man
Temperaturen: Erst bei 41 Grad sungen datierten die Forscher das zuvor noch keine Fadenwürmer in
Celsius stellte es das Wachstum ein – Kluftwasser auf ein Alter von 3000 solchen Bohrungen gefunden, meint
in seinem Lebensraum herrschen bis 12 000 Jahren. Die Fadenwürmer Borgonie.
37 Grad Celsius. Und es vermehrte und die Mikroorganismen bilden Nature 474, S. 79 – 82, 2011
MEDIZIN
Warum Rauchen schlank hält
R auchen ist zwar ungesund, steht
aber im Ruf, schlank zu machen.
Jetzt entdeckte ein Team um Marina
Er bindet bestimmte Signalmoleküle,
die nach einer ausreichenden Mahlzeit
freigesetzt werden, und aktiviert
blockierten. Die Nager fraßen darauf-
hin trotz Nikotingabe genauso viel wie
ihre Artgenossen, die kein Nikotin
Picciotto von der Yale University in daraufhin so genannte Proopiomela- erhielten. Bemerkenswert sei, so
New Haven, dass Nikotin tatsächlich nocortin-Zellen (kurz POMC-Zellen). Picciotto, dass es sich bei dem entdeck-
über einen speziellen Rezeptor auf Diese sorgen dafür, dass das Hunger- ten alpha-3-beta-4-nikotinischen
Hypothalamuszellen einwirkt und so gefühl verschwindet. Beim Rauchen Azetylcholinrezeptor um einen ande-
das Hungergefühl dämpft. scheint das aufgenommene Nikotin ren Typ handele als bei jenem, der für
Rezeptoren, die auf Nikotin reagie- den Regulationsmechanismus kurzzu- Nikotinabhängigkeit verantwortlich
ren, sind im Gehirn weit verbreitet – schließen: Es aktiviert über den Rezep- ist. Somit ließe sich ein maßgeschnei-
so auch im Hypothalamus, der den tor die POMC-Zellen, ohne dass man derter Appetitzügler entwickeln, der
Stoffwechsel reguliert. Der von Pic- sich dafür vorher satt essen müsste. die schlank machende Wirkung von Ni-
ciotto und Kollegen identifizierte Re- Auf die Spur kamen die Forscher kotin imitiert, ohne über das Beloh-
zeptortyp gehört dort zum körpereige- dem Rezeptor, indem sie bei Mäusen nungssystem Sucht auszulösen.
nen Hungerregulationsmechanismus: den POMC-Signalweg gentechnisch Science 332, S. 1330 – 1332, 2011
WWW.SPEKTRUM.DE 9
10. spektrogramm
Aktuelle Meldungen und
SoNNENSySTEM Hintergründe finden Sie auf
Die Quelle der Eisfontänen auf Enceladus
Z ahlreiche lange Risse ziehen sich
nahe dem Südpol über den eisbe-
deckten Saturnmond Enceladus. Was-
Analyse zeigt nun so deutlich wie keine
zuvor, dass es seinen Ursprung in
einem riesigen Salzmeer hat, das sich
Postberg und seine Kollegen extra-
polierten die gemessenen Häufigkeiten
auf die Ausbruchsstelle. Demnach
serdampf und Eispartikel schießen aus unter der Eisdecke verbirgt. machen die salzreichen Teilchen rund
diesen »Tigerstreifen« ins All – mehre- Die Gelegenheit ergab sich, als die 70 Prozent aller ausgeworfenen Parti-
re tausend Kilometer weit – und liefern Raumsonde Cassini mehrfach durch kel und mehr als 99 Prozent der insge-
Nachschub für den diffusen E-Ring die von den Fontänen gebildete Wolke samt ausgeworfenen Masse aus. Diese
des Saturns. Doch woher stammt das flog und sich dem Saturnmond dabei Ergebnisse seien jedoch unvereinbar
ausgespiene Material? Eine neue bis auf 21 Kilometer näherte. Forscher mit der Annahme, dass die Eiskörn-
um Frank Postberg vom Max-Planck- chen von der gefrorenen Eisoberfläche
naSa, Jpl / SpaCe SCienCe inStitute
Institut für Kernphysik in Heidelberg des Mondes stammen. Stattdessen
konnten dadurch zahlreiche frisch sprechen sie für einen unterirdischen
ausgespuckte Eiskörnchen im Massen- Ozean als Quelle, der aus dem Ge-
spektrometer der Sonde analysieren. steinskern des Mondes ausgewaschene
Dabei verglichen sie die Häufigkeiten Salze enthält. Die salzhaltigen Teilchen
der verschiedenen Typen dieser kalten seien schockgefrostete Salzwasser-
Krümel. Sie stellten fest, dass nahe der tröpfchen, die sich über dem Ozean bil-
Auswurfstelle gut 40 Prozent der den und schließlich – mitgerissen von
Entlang der »Tigerstreifen«, vulkanisch Partikel dem salzreichen Typ angehö- Dampf und Gas – durch Risse in der
aktiver Spalten in der Südpolregion des ren, der große Mengen an Natrium- Eiskruste ins All geschleudert werden.
eisigen Saturnmonds Enceladus, werden und Kaliumsalzen enthält, während Da sie schwerer sind als salzarme
an verschiedenen Stellen Fontänen aus der von den Fontänen gespeiste Körnchen, schaffen es nur wenige von
Eispartikeln und Wasserdampf in den Saturnring nur zu sechs Prozent aus ihnen bis in den E-Ring des Saturns.
Weltraum geschleudert. diesem Typ besteht. Nature 474, S. 620 – 622, 2011
NANoTECHNIK
Endlose Nanodrähte aus dem Ofen
K ilometerlange Bündel aus weni-
ger als zehn Nanometer dicken
Drähten und Röhren lassen sich mit
zieren und die gewünschten Eigen-
schaften während des Herstellungs-
prozesses zu erhalten.
vom anderen Ende aus mit etwa 50 Zen-
timetern pro Minute zu einem Draht
zogen. Zwar verringerte sich der Durch-
einem recht simplen Heißziehverfah- Die türkischen Forscher gingen von messer des Rohlings dabei – je nach
ren herstellen, wie Mehmet Bayindir einem Rohling aus einem speziellen den Bedingungen – um den Faktor
von der Bilkent-Universität in Ankara Halbleitermaterial mit etwa einem Zen- 25 bis 300, seine innere Struktur blieb
und seine Kollegen demonstrierten. timeter Durchmesser aus, den sie unter jedoch bewahrt. Einzelne, dennoch
Diese Bauteile sind für sehr unter- Vakuum langsam in einen 275 Grad entstehende Materialfehler heilten die
schiedliche Anwendungen begehrt – heißen Ofen schoben, während sie ihn Forscher durch Erhitzen im Vakuum
von der Mikrofluidik bis hin zu opti- aus. Die so erhaltenen, weniger als ein
schen Techniken. Bislang war es aber Millimeter dünnen Drähte verdrillten
nature MaterialS 10, S. 494 – 501, 2011, Fig. 4
nicht gelungen, lang ausgezogene sie dann zu regelmäßigen Bündeln, die
Nanofäden homogen genug zu produ- sie in einem zweiten Schritt wiederum
zu Drähten auszogen. Nach drei dieser
Schritte erhielten sie abhängig von
Das Herstellungsverfahren erhält die Ausgangsmaterial und Ziehgeschwin-
innere Struktur des knapp 60 Mikrometer digkeit Drähte oder Röhren mit Durch-
starken Nanodrahts, wie Querschnittauf- messern von einigen Nano- bis Mikro-
nahmen zeigen: Die gebündelten Fasern 2 µm metern – sowie einer Länge von meh-
bleiben am Drahtanfang (unten links) und reren hundert Metern bis Kilometern.
-ende (rechts) regelmäßig angeordnet. 20 µm 20 µm Nature Mat. 10, S. 494 – 501, 2011
10 SPEKTRUMDERWISSENSCHAFT·AUgUST2011
11. Bild des monats
BIOLOGISCHE SCHRAUBE
Beide auFnahMen: thoMaS Van de KaMp et al., KarlSruher inStitut Für teChnologie (www.Kit.edu)
Der Mensch hat sich viele technische Prinzipien von der Natur
abgeschaut – die klassische Schraube-Mutter-Verbindung
schien jedoch seine alleinige Erfindung zu sein. Irrtum: Ein
kleiner Rüsselkäfer verknüpft damit seit Millionen Jahren
seine Beinglieder.
Trigonopterus oblongus lebt in den Wäldern Neuguineas.
Das Schraubengelenk an der Hüfte verbesserte möglicherwei-
se sein Klettervermögen. Die 3-D-Rekonstruktion links zeigt,
wie das Außengewinde des Trochanters (gelb) in der Coxa
(grün) verankert ist. Die lang ausgezogene Spitze des Trochan-
ters mündet in einem Loch der Coxa und stabilisiert so das
Bein entlang der Drehachse.
Science 333, S. 53, 2011
12. forschung aktuell
BIologIE
Dwight L. AnDerson
Planet der Phagen
Elektronenmikro
BakteriophagensindViren,dieBakterieninfizieren.InderAnfangszeit skopische Auf
derMolekularbiologiedientensiealseinfacheModellsysteme, nahme von zwei
docherstjetztbeginntman,ihreRolleinderNaturzuverstehen. T4 und einem
Phi29Bakterio
VoNMICHAElgRoSS phagen (Mitte)
B akteriophagen, oft auch kurz Pha
gen genannt, sind der Wissenschaft
schon seit rund 100 Jahren bekannt,
voneinander unabhängiger Entwicklun
gen: Zum einen führte die bedrohliche
Verbreitung von Antibiotikaresistenzen
nerationen hinweg weitervererbt wer
den können. Auch das Gen für das Cho
leratoxin erhält Vibrio von solchen Pha
doch wurde ihre Erforschung immer in Bakterien zu einer Suche nach ande gen. Ohne diese wäre das Bakterium
wieder vernachlässigt, sobald die For ren Möglichkeiten, mit denen man Bak harmlos. Die so genannten lytischen
scher ein neues Interessengebiet ent terien bekämpfen kann. Zum anderen Phagen hingegen sind Zellpiraten, die
deckten. Schon früh rückte die anti arbeiten die Genomsequenzierer inzwi grundsätzlich keine Gefangenen neh
bakterielle Wirkung dieser für den schen sogar mit Proben direkt aus Ge men. Wenn sie eine Zelle infizieren,
Menschen völlig harmlosen Viren ins wässern oder dem Boden und entde wird diese zur Phagenfabrik umge
Rampenlicht, doch dann kamen die An cken, dass solche Proben aus der Umwelt modelt und im Zuge dessen zerstört.
tibiotika, und die so genannte Phagen sehr viel mehr Phagen enthalten, als Diese Art von Phagen kann vermutlich
therapie kam aus der Mode. Nur in der man gedacht hatte. Selbst die von den die Übertragung der Cholera bremsen,
Sowjetunion – insbesondere in Tiflis, Bakterien getrennt einzuordnenden Ar doch um sie zu nutzen, müsste man die
der Hauptstadt von Georgien – blieb chäen (»Archäobakterien«) haben eige komplizierten Wechselwirkungen zwi
man den Phagen treu. ne Phagen, die bisher kaum erforschten schen Phagen, Bakterien und Menschen
Ab den 1940er Jahren benutzten die Archäophagen. Man schätzt inzwischen, besser kennen.
Pioniere der Molekularbiologie auf An dass es auf der Erde zehnmal mehr Pha
regung des berühmten Genetikers Max gen als zelluläre Lebewesen gibt – wir le Modellsystem Rosskastanie
Delbrück (1906 – 1981) Phagen als einfa ben sozusagen als tolerierte Minderheit Erste Ansätze zu einem tieferen Ver
che Modellsysteme. Die Forscher jener auf dem Planeten der Phagen. ständnis der Rolle der Phagen in der
Zeit beschränkten sich dabei auf einige Welche Rolle diese allgegenwärtigen Natur kommen aus der zoologischen
wenige Phagen, darunter T4 und Lamb Viren für die Populationsdynamik und Fakultät der University of Oxford – ob
da, die das Bakterium Escherichia coli Evolution ihrer Wirtsorganismen spie wohl in diesen Untersuchungen gar
befallen und heute ebenso wie ihr Wirt len, ist noch weit gehend unbekannt. keine Tiere vorkommen. Britt Koskella
zu den am besten untersuchten Arten Seit 2008 wissen wir immerhin, dass und ihre Kollegen wählten die Rosskas
gehören. Aber ein umfassenderes Inter Phagen in nährstoffarmen Biotopen der tanie als Modellsystem. Diese Baumart
esse für Phagen und ihre Rolle in der Tiefsee eine wichtige Funktion haben: leidet auch hier zu Lande seit einigen
Natur entstand daraus nicht. Indem sie Bakterien auflösen, setzen sie Jahren zunehmend unter einer neuen
Auch die ersten vollständig sequen die in ihnen enthaltenen Stoffe frei und Rindenkrankheit, ausgelöst durch Bak
zierten Genome waren Phagengenome. entziehen sie so dem Zugriff von höhe terien der Art Pseudomonas syringae.
Zuerst kam MS2, das aus RNA besteht, ren Organismen. Auf diese Weise stehen Die Bakterien ihrerseits werden von
und dann, als erstes DNAGenom, die die knappen Ressourcen weiterhin den Phagen infiziert.
Sequenz von PhiX174. Doch dann streb Mikroben zur Verfügung. Bisher untersuchten Forscher die
ten die Genomsequenzierer ebenfalls Ein besseres Verständnis der Pha wechselseitige Anpassung zwischen
nach Höherem. Sie entwickelten ihre genökologie wäre auch aus medizini Phagen und Bakterien vor allem im La
Methoden weiter, sequenzierten erst scher Sicht wünschenswert. Der Erreger bor – und wenn in der Natur, dann nur
Bakterien, dann Pflanzen, Tiere und der Cholera, Vibrio cholerae, wird zum in wässrigen Habitaten. Koskella konn
Menschen und ließen die Phagen wie Beispiel von rund 200 verschiedenen te mit der Rosskastanie erstmals auf ein
der in Vergessenheit geraten. Phagenarten infiziert. Einige davon Modellsystem zurückgreifen, wo diese
Wiedererweckt wurde das Interesse sind so genannte lysogene Phagen – das Wechselwirkung in einer klar definier
an den natürlichen Bakterienkillern erst heißt, sie schleusen ihre Gene in das ten räumlichen Matrix stattfindet. Sie
nach der Jahrtausendwende dank zweier Genom des Wirts ein, wo sie über Ge wies nach, dass der »Lebensraum« der
12 SPEKTRUMDERWISSENSCHAFT·AUgUST2011
13. Phagen jeweils der ganze Baum ist: Bak achtet man normalerweise einen »Rüs digungsmaßnahmen des Gegners zu
terien aus anderen Blättern, auch von tungswettlauf« der Bakterien und Pha kontern. Dabei handelt es sich aber eher
weit entfernten Zweigen desselben gen, wobei sowohl die Aggressivität der um ein zeitweiliges Ausweichen, nicht
Baums, konnten die Phagen im Labor Phagen als auch die Resistenz der Bakte um eine bleibende Aufrüstung. Das
versuch ebenso leicht infizieren wie die rien mit der Zeit zunimmt. Dies kann zeigte sich daran, dass sowohl Phagen
aus demselben Blatt isolierten Bakteri man testen, indem man Phagen zu ei als auch Bakterien am wirksamsten ge
en. Mit aus anderen Bäumen isolierten nem bestimmten Zeitpunkt der Ent gen Kontrahenten kämpften, die zum
Bakterien derselben Art taten sich die wicklung entnimmt und mit Bakterien selben Zeitpunkt entnommen worden
Phagen hingegen schwer. Offenbar de aus derselben Kultur, aber von einem waren. Sowohl gegen spätere wie auch
finiert also der einzelne Baum die Gren anderen Zeitpunkt zusammenbringt. gegen frühere Gegner sahen sie nicht so
zen der Gemeinschaft aus Bakterien Von den beiden Kontrahenten gewinnt gut aus (Science 332, S. 106 – 109, 2011).
und Phagen, innerhalb deren die wech stets der später entnommene – das Eines ist klar: Es bleibt noch viel zu
selseitige Anpassung stattfindet (Ame heißt, die Kampfkraft beider Seiten erforschen, bis wir diese zahlreichsten
rican Naturalist 177, S. 440 – 451, 2011). nimmt mit der Zeit immer weiter zu. Bewohner unseres Planeten wirklich
Wie ein solches Wechselspiel zeitlich Gómez und Buckling führten eine verstehen. Doch die Mühe könnte sich
abläuft, untersuchte Angus Buckling, analoge Untersuchung nun erstmals in lohnen – als Belohnung winkt die Hoff
der auch an der Kastanienstudie betei einem natürlichen Umfeld durch, näm nung, dass sie uns eines Tages dabei
ligt war, zusammen mit seinem Postdoc lich in Bodenproben. Die Forscher fan helfen können, jene bakteriellen Infek
Pedro Gómez. In Laborversuchen beob den heraus, dass in der Natur kein Wett tionen zu besiegen, gegen die unsere
rüsten stattfindet, bei dem beide Seiten Antibiotika immer machtloser werden.
immer besser werden. Zwar ändern sich
Ein einzelner Kastanienbaum wie dieser beide Seiten auch in der Natur konti Michael Groß ist Biochemiker und freier
enthält jeweils eine spezifische Gemein nuierlich und schnell, um die jewei wissenschaftsjournalist in oxford, england.
schaft aus Bakterien und Phagen. ligen Angriffs beziehungsweise Vertei www.michaelgross.co.uk
fotoLiA / CoLoreLLo
WWW.SPEKTRUM.DE 13
14. forschung aktuell
ERDgESCHICHTE
Großes Sterben durch große Brände
Wiesogingvor250MillionenJahrenfastalleslebenaufderErdezugrunde?FlugaschefundeinKanada
bestätigennundieTheorie,dassverheerenderVulkanismusinSibiriendieKatastropheauslöste.
VoNKARlURBAN
sibirische
Buchanan- Trapps
N iemals in der bekannten Erd
geschichte stand das Leben
so nahe am Abgrund wie vor
See können sie jedenfalls nicht allein
erklären: den jähen Anstieg im
Verhältnis des leichteren Kohlen
etwa 250 Millionen Jahren. Erst stoffisotops der Atommasse 12
vereinigten sich die Landmas zum schwereren Kohlenstoff13.
sen Laurasia und Gondwana im Er ist so ausgeprägt, dass die Um
späten Karbon zum Großkontinent n At u
welt im späten Perm mit Material or
re geo s C , fi g . 1
ien Ce 4, s. 1 04 – 1 07, 20 11
Pangäa. Immer mehr Arten konkurrier ganischen Ursprungs geradezu überflu
ten um einen schrumpfenden Lebens Vor 250 Millionen Jahren waren alle tet worden sein muss. Denn jedes Lebe
raum, weil viele der besonders dicht be irdischen Landmassen im Superkontinent wesen nimmt bevorzugt Kohlenstoff12
siedelten Küstenhabitate verschwanden. Pangäa vereint. Damals schuf eine aus der Umwelt auf, wodurch etwa fossi
Dann entwickelte sich ein Treibhauskli Serie gewaltiger Vulkanausbrüche die le Lagerstätten aus abgestorbenen Orga
ma und setzte das Leben auf der Erde sibirischen Trapps: Flutbasalte mit nismen stark mit dem leichten Isotop
weiter unter Druck – bevor schließlich einer Ausdehnung von 2,5 Millionen angereichert sind. Der Paläontologe Paul
eine bislang rätselhafte Folge von Ereig Quadratkilometern. Bei diesen Eruptionen Wignall von der University of Leeds
nissen am Ende des Perms die Ökosyste gebildete Flugascheteilchen fanden (England) hat errechnet, dass selbst das
me rund um den Globus fast völlig kol Forscher nun am Grund eines Sees in Absterben fast aller damaligen Erdbe
labieren ließ: 96 Prozent der marinen Kanada, wohin Westwinde sie einmal um wohner zusammen mit den geschätzten
Spezies und 70 Prozent aller Arten an den Globus herum verfrachtet hatten. vulkanischen Ausgasungen nicht aus
Land verschwanden für immer. reichen würde, die anomalen Messwerte
Die Katastrophe übertraf damit auch zu erklären. Deshalb müsste zusätzlich
das viel bekanntere Artensterben, dem ren Indizien für einen Einschlag blieb fossiler Kohlenstoff freigesetzt worden
vor rund 65 Millionen Jahren die Dino erfolglos; Berichte über Iridium oder sein, der etwa in Kohlevorkommen un
saurier zum Opfer fielen. Als Ursache durch hohen Druck zerrüttete Quarz ter Tage oder Methanhydraten am Mee
dieser Massenextinktion gilt der Ein kristalle ließen sich nicht erhärten. resgrund gespeichert ist.
schlag eines gigantischen Himmelskör Andere Forscher brachten die Flut Eine mögliche Quelle dafür entdeck
pers, seit der Geologe Luis Alvarez 1981 basalte in Sibirien mit dem rätselhaften te ein Forscherteam um Henrik Svensen
weltweit an der Schichtgrenze zwischen Artensterben vor 250 Millionen Jahren von der Universität Oslo (Norwegen) im
Kreide und Tertiär das in Meteoriten in Verbindung. Dort nämlich spien just Jahr 2008: Im sibirischen Tunguska
häufige Metall Iridium fand. zur selben Zeit Vulkane über knapp becken bahnte sich das Magma einst
Der Grund für das Artensterben an 600 000 Jahre hinweg Unmengen an seinen Weg durch Erdöl führende Schie
der PermTriasGrenze ist dagegen un Lava aus, die mindestens 2,5 Millionen fer, Karbonate und Salze, was in zweifa
klar. Aus dieser Zeit existieren nur weni Quadratkilometer – das Siebenfache der cher Hinsicht fatale Folgen hatte. Zum
ge Gesteine, die zudem kein eindeutiges Fläche Deutschlands – bedeckte. Mit den einen trieben die hohen Temperaturen
Bild abgeben. Zwar behauptete Luann Ausbrüchen gelangten auch immer wie aus dem Ölschiefer zehntausende Giga
Becker von der University of Washing der massenhaft Kohlendioxid, Schwefel tonnen flüchtige Kohlenwasserstoffe
ton in Seattle 2001, an der Grenzschicht gase und Asche in die Atmosphäre. aus, die mit dem Magma an die Oberflä
Fullerene außerirdischen Ursprungs ge Die sibirischen Trapps, wie die Flut che gelangten und dort verbrannten.
funden zu haben: In den fußballförmi basalte fachsprachlich heißen, markie Dabei entstand doppelt so viel Kohlen
gen Kohlenstoffmolekülen entdeckte ren damit eine der gewaltigsten vulkani dioxid, wie die Vulkane selbst in die Luft
sie Edelgase, deren Isotopenverhältnis schen Epochen der Erdgeschichte. Doch bliesen. Zudem zeigten die norwegi
dem in einer speziellen Form von Mete ob sie wirklich den Untergang so vieler schen Wissenschaftler in Experimen
oriten glich (Spektrum der Wissenschaft Arten weltweit verursachten, war bisher ten, dass schon bei Temperaturen von
7/2002, S. 60). Doch die Suche nach ei fraglich. Einen markanten Einschnitt an 275 Grad Celsius im Untergrund enor
nem passenden Krater und nach ande der permotriassischen Schichtgrenze me Mengen an organischen Chlor und
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15. Bromverbindungen entstanden, die über den panthalassischen Ozean mehr te zu erklären. Außerdem lässt sich das
gleichfalls in die Atmosphäre ausgasten. als 20 000 Kilometer weit bis in das Muster des Massenaussterbens mit dem
Dort wirkten sie wie die vom Menschen heutige Nordkanada. »Wir sehen das Ascheregen allein nicht erklären. Dieser
freigesetzten Fluorchlorkohlenwasser gleiche Phänomen bei großen Stürmen behinderte zwar die Fotosynthese und
stoffe (FCKWs) und zerstörten die Ozon in der Sahara«, erläutert Grasby. »Die vergiftete Ökosysteme, doch legte sich
schicht. Dadurch konnte erbgutschädi feinen Staubteilchen sind in ihrer Grö die Asche gleichermaßen auf Kontinen
gende ultraviolette Sonnenstrahlung ße vergleichbar mit der permischen te und Meere. Warum aber war dann das
am Ende des Perms die Atmosphäre fast Flugasche und werden bis nach Nord Leben an Land deutlich weniger betrof
ungehindert durchdringen. amerika geweht. Gelangen solche Par fen als das in den Ozeanen? Und wieso
Die massive Verbrennung fossiler tikel bei besonders heftigen vulkani wurden im Meer vor allem solche Arten
Kohlenwasserstoffe müsste weltweit schen Ausbrüchen bis in die Strato stark dezimiert, die am Boden lebten
Spuren hinterlassen haben. Die Suche sphäre, können Winde sie spielend über und Nährstoffe aus dem Wasser filter
danach gestaltete sich jedoch mühsam. sehr große Distanzen transportieren.« ten – darunter Korallen, Armfüßer und
Nun wurden Stephen Grasby vom Geo Die Eigenschaften der Flugaschepar Seelilien? Dagegen überlebten viele Vor
logical Survey of Canada in Calgary und tikel deuten auf sehr hohe Verbren läufer der modernen Fauna mit einem
zwei Kollegen fündig (Nature Geosci nungstemperaturen hin. Denn nur un aktiveren Stoffwechsel (Spektrum der
ence 4, S. 104, 2011). Auf der Insel Axel ter diesen Bedingungen schmilzt die Wissenschaft 9/1996, S. 72).
Heiberg in der kanadischen Arktis ent Asche auf und erstarrt beim Kontakt
deckten sie in Schiefern an der Perm mit der kalten Luft zu winzigen tröpf Tote Meere
TriasGrenze winzige Flugascheparti chenartigen Gebilden, die von Gasbläs Wahrscheinlich waren die Meere schon
kel, die sie mit den sibirischen Trapps chen durchzogen sind. Auch fest geblie vor dem Ausbruch des heftigen Vulka
in Verbindung bringen. Ihrer Ansicht bene Kohlereste in den kanadischen nismus in keinem guten Zustand. Auf
nach zeugen die Teilchen davon, dass Schiefern lassen durch Risse und Defor dem Großkontinent Pangäa breiteten
das heiße Magma damals auch in Koh mationsstrukturen erkennen, dass sie sich Wüsten aus. Zuvor hatten Nieder
leflöze eindrang und sie verschwelte, stark erhitzt wurden. Tatsächlich ist die schläge Kohlendioxid aus der Luft aus
das heißt unter Luftausschluss zersetz permische Flugasche laut Grasby und gewaschen, das am Boden dann bei Ver
te. Den dabei gebildeten Teer sowie Kollegen kaum von den Verbrennungs witterungsprozessen gebunden wurde.
Kohlegrus und geschmolzene Schlacke rückständen moderner Kohlekraftwer Bei der nun herrschenden Trockenheit
beförderte es mit an die Oberfläche ke zu unterscheiden. Die Kanadier fan aber reicherte sich das bei natürlichen
und schleuderte das brennbare Ge den in Rauchgasfiltern solcher Anlagen Prozessen gebildete Treibhausgas in
misch kilometerhoch in die Atmosphä Partikel mit vergleichbaren Größen, der Atmosphäre an und heizte die Erde
re. Dort entzündete sich das Material Formen und optischen Eigenschaften. auf. Dadurch löste sich auch mehr Koh
in der heißen Lava und erzeugte gewal Trotzdem bleiben offene Fragen. So lendioxid in den Meeren, so dass diese
tige Rauchwolken, die sich durch Luft ist bisher unklar, wie groß die sibiri versauerten und Tiere mit Kalkgehäu
strömungen über die gesamte Hemi schen Kohlelager am Ende des Perms sen zu Grunde gingen.
sphäre verteilten. wirklich waren – und ob ihr Anteil an Durch die Erderwärmung schmol
So gelangte die Asche mit dem vor leichtem Kohlenstoff12 ausreichte, die zen im Lauf des Perms die Eiskappen an
herrschenden Westwind auch quer abnormen Isotopenwerte der Sedimen den Polen, wodurch möglicherweise die
Umwälzpumpe erlahmte, die heute
eine globale Ozeanzirkulation in Gang
nAture geosCienCe 4, s. 104 – 107, 2011, fig. 2
Buchanan-See modernes Kohlekraftwerk
hält. Schlecht durchlüftete Bereiche in
den Ozeanen waren also schon verbrei
tet, als massive Vulkanausbrüche und
Brände nicht nur zusätzliches Kohlen
dioxid freisetzten, sondern auch den
Sauerstoffmangel verschärften, indem
sie die Ozeane mit Eisen und anderen
20 µm 20 µm Metallen aus den Aschewolken düng
ten. Es kam zu Algenblüten, und auch
Die im BuchananSee in Kanada gefundenen fossilen Teilchen sehen der Flugasche Zyanobakterien breiteten sich explosi
moderner Kohlekraftwerke sehr ähnlich. Das deutet darauf hin, dass das Magma der sibi onsartig aus. Als die Organismen nach
rischen Flutbasalte beim Aufstieg Kohleflöze durchquerte und sie verschwelte, also in ihrem Absterben verwesten, zehrten sie
Abwesenheit von Sauerstoff zersetzte. Teer, Asche und Kohlegrus gelangten so mit an die die letzten Sauerstoffreste auf: Weite
Oberfläche, wo sich das brennbare Gemisch entzündete. Die Rauchwolken stiegen bis Meeresregionen verwandelten sich so
in die Stratosphäre empor und verteilten sich über die gesamte Nordhalbkugel. in tote, stinkende Kloaken.
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