Nr. 1/2024 - Mittelstandsfinanzierung + Nachhaltigkeit
Europalinks ND beilage-2014
1. europalınks
Beilage der Tageszeitung neues deutschland
in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift LuXemburg
Februar 2014
Europa hat eine andere Zukunft
Was ist uns Europa? Vor den Wah-len
zum Europäischen Parlament im
Mai und eine der schwersten Kri-sen
vor Augen suchen die Linken auf
dem Kontinent nach Antworten.
Europa ist mehr als die EU, mehr
als ihre von neoliberalen Paradig-men
getränkten Institutionen,
mehr als der Euro, sagen die einen
– und verweisen auf die großen
Ideale der Integration, auf die
Chancen linker Veränderung.
Europa ist das, was uns in Ge-stalt
undemokratisch-autoritärer
Apparate, als Motor der Militari-sierung
und Verwertungslogik, was
uns als deutsches Machtprojekt ge-genübertritt,
sagen die anderen –
und betonen die Dauerhaftigkeit der
ökonomischen und politischen Ver-hältnisse,
die dem zugrunde liegen.
Was ist uns Europa? So wichtig
ein – mit Gramsci gesprochen –
mitreißender Optimismus des Wil-lens
europäischer linker Politik und
Praxis ist, so notwendig ist ange-sichts
der Krise Europas ein Pessi-mismus
des Verstandes. Das Un-behagen
gegenüber Brüssel, Stras-bourg,
gegenüber einer von der
deutschen Regierung orchestrier-ten
Krisenpolitik; die Wut ob der
sozialen und politischen Folgen, die
Hoffnungslosigkeit, die angesichts
der schieren Unbeweglichkeit eu-ropäischer
Verhältnisse und der
momentanen Schwäche der euro-päischen
Linken aufkommen kann
– all das beruht auf der realen Er-fahrung
von Millionen. Und es lässt
sich nicht allein mit wohlfeilen Ap-pellen
an eine bessere europäische
Idee überwinden.
Was ist unser Europa?, ist die
Frage der Stunde für eine euro-päische
Linke, die sich ihrer
Schwierigkeiten und Fehler be-wusst
ist, die nach neuen Wegen
und besseren Antworten sucht –
und dabei nicht vergisst, dass es am
Ende die Menschen selbst sein wer-den,
die über ihre Geschicke ent-scheiden
wollen.
Ein anderes Europa ist möglich.
Und es ist nötig. Die seit 2008 gras-sierende
Krise macht den Charak-ter
der gegenwärtig herrschenden
politischen, ökonomischen und
konstitutionellen Grundlagen der
EU für alle sichtbar. Die Linken sind
aufgerufen, Europa eine andere
Zukunft vorzuschlagen.
Die hier vorliegende Sammlung,
die Beiträge aus Griechenland,
Spanien, Frankreich, Kroatien, Ös-terreich,
Italien, Deutschland und
anderen Ländern zusammen-bringt,
soll dazu einen Beitrag leis-ten.
Tom Strohschneider
Daniel Albarracín
Nacho Álvarez
Fabio Amato
Walter Baier
Mario Candeias
Stipe Ćurković
Giorgos Galanis
Thomas Händel
Michel Husson
Pierre Laurent
Francisco Louçã
Bibiana Medialdea
Sandro Mezzadra
Mariana Mortagua
Toni Negri
Lukas Oberndorfer
Özlem Onaran
Bernd Riexinger
Anne Steckner
Armando F. Steinko
Alexis Tsipras
Stavros Tombazos
2. 2 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg
Inhalt
Mario Candeias, Lukas Oberndorfer, Anne Steckner
Neugründung Europas?
Strategische Orientierungen 3
Pierre Laurent
Ein geschichtlicher Moment.
Die Linke und Europa 6
Alexis Tsipras
Move Forward.
Die Veränderung hat begonnen 8
Daniel Albarracín, Nacho Álvarez, Bibiana Medialdea,
Francisco Louçã, Mariana Mortagua, Michel Husson,
Stavros Tombazos, Giorgos Galanis, Özlem Onaran
Schulden und Euro: Was tun? Ein Manifest 10
Armando Fernández Steinko
Ein mediterraner Block?
Südeuropa sucht einen Ausweg 12
Fabio Amato
Liste Tsipras.
Um die Zersplitterung zu überwinden 15
Stipe Ćurković
Ein lebendiges Netzwerk:
Europa und die Neue Linke in Kroatien 17
Walter Baier
Drei Aufgaben.
Zeit der Monster und der Mutigen 18
Thomas Händel
Soziales Europa?
Zukunft in die eigenen Hände nehmen 19
Sandro Mezzadra, Toni Negri
Kampffeld Europa:
Den neoliberalen Zauber brechen 21
Bernd Riexinger
Eine Vision:
Einstieg in ein anderes Europa 23
Eine andere EU? Mit links? Diese in Kooperation von »neues
deutschland« und »LuXemburg«, der Zeitschrift der Rosa-Luxem-burg-
Stiftung entstandene Beilage kann nur einen Ausschnitt aus
der Debatte über die Krise Europas und Alternativen dokumen-tieren.
»nd« und »LuXemburg« setzen die Diskussion im Internet un-ter
anderem mit Beiträgen von Sahra Wagenknecht, Joachim Bi-schoff
und Heinz Bierbaum fort. Eine Sammlung an Texten zur lin-ken
Europadebatte und zum Wahlprogramm der Linkspartei, un-ter
anderem vom Schriftsteller Raul Zelik, findet sich unter
dasND.de/europalinks. Weitere Texte gibt es unter www.zeitschrift-luxemburg.
de. Die Zeitschrift »LuXemburg« gibt es übrigens ab Heft
1/2014 kostenfrei.
Herausgeber Verlag Neues Deutschland Druckerei und Verlag GmbH
Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin
www.neues-deutschland.de, (030) 2978-1111
Redaktion Mario Candeias, Barbara Fried, Rainer Rilling
Gestaltung Michael Pickardt
Illustrationen Raúl Soria
Anzeigen Friedrun Hardt
V.i.S.d.P. Tom Strohschneider
Druck Druckhaus Schöneweide GmbH, Ballinstr. 15, Berlin
GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS
3. europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 3
Neugründung Europas?
Strategische Orientierungen
Von Mario Candeias, Lukas Oberndorfer, Anne Steckner
Europa ist mehr als die Europäische Uni-on
und die EU mehr als ihre neoliberale
und zunehmend undemokratisch-autori-täre
Gestalt. Doch ist letztere die gegen-wärtig
existierende. Simple Bekenntnisse
zu Europa oder gar »mehr Europa« ver-fehlen
den zu Recht skeptischen Alltags-verstand.
Immer wieder wurde die euro-päische
Ebene als Hebel genutzt, um So-zial-
und Arbeitsrechte auszuhöhlen so-wie
Kapital- und Marktlogik zu stärken –
und zwar nicht erst seit der Krise 2008,
sondern spätestens mit dem Mitte der
1980er Jahre einsetzenden Projekt des
europäischen Binnenmarktes.
Hieraus die Rückbesinnung auf die
Verteidigung nationaler Errun-genschaften
abzuleiten ist
ebenso kurzschlüssig.
Zentrale Richtungsent-scheidungen
fallen
nach wie vor im eu-ropäischen
Rat, also
durch nationale Re-gierungen,
aber jen-seits
nationaler Par-lamente.
Die Prekari-sierung
der Arbeit ist
durch europäische Ent-scheidungen
erleichtert
worden. Angetrieben wurde sie
über nationale Parlamente: die
Workfare-Programme in Großbritannien
ebenso wie die Agenda 2010 in Deutsch-land.
Die Privatisierung kommunaler
Stadtwerke ist von der EU gewünscht, be-trieben
wurde sie schon zuvor durch
klamme Kommunen, die sich dadurch
schnelle Einnahmen und Effizienzge-winne
versprachen. Dienstleistungen
müssen laut EU-Recht europaweit aus-geschrieben
werden, doch niemand hatte
die Kommunen gezwungen darauf zu
verzichten, diese Dienste selbst anzubie-ten.
Gerade die Bundesregierung nützt
das europäische Krisenmanagement, um
die Interessen der deutschen und trans-nationalen
Export- und Finanzindustrie
durchzusetzen: Neoliberale Politik wird in
der ganzen EU verallgemeinert und durch
Recht auf Dauer gestellt.
Von rechts bedient die AfD im Chor mit
anderen rechtspopulistischen Parteien in
der EU den Traum von der Rückkehr zur
nationalen Währung. Indem sie zur Kri-senbewältigung
»imaginäre Gemein-schaften
« (Benedict Anderson) be-schwört
– ›wir Deutschen‹ ohne Klassen
oder andere gesellschaftliche Gegensätze
– bedient sie die Sehnsucht nach einem
überschaubaren und beeinflussbaren
Währungs- und Wirtschaftsraum. Sie malt
das Bild einer »imaginären Ökonomie«
von Volkswirtschaften, die es längst nicht
mehr gibt. Transnationalisierte Produk-tionsnetze
und liberalisierte globale Fi-nanzmärkte
bestimmen das Bild.
Im Ensemble von Institutionen und
Abkommen der EU sind lokale, regiona-le,
nationale, supranationale und inter-nationale
Ebenen zu einem komplexen
Geflecht verwoben. Zwar hat dieser Um-stand
keineswegs zur Überwindung der
Nationalstaaten geführt. Vielmehr spie-len
nationale Wettbewerbsstaaten eine
entscheidende Rolle im Prozess der
Transnationalisierung. Doch übersieht
bspw. die Forderung nach einem gere-gelten
Euro-Austritt eben diese transna-tionale
Qualität: Wie soll auf nationaler
Ebene die Reregulierung internationaler
Finanzmärkte erfolgen? Wie soll das Aus-spielen
von Standorten in transnationa-len
Produktionsnetzen verhindert wer-den?
Wie soll angesichts globaler Märkte
eine national ausgerichtete keynesiani-sche
Strategie greifen? Sie würde in kür-zester
Zeit mit der Transnationalisierung
von Kapitalströmen und Machtstruk-turen
kollidieren. National-staatlich
beschränkte Politik
wird nicht einmal zur Ver-teidigung
sozialer Er-rungenschaften
aus-reichen.
Und auch für
Griechenland unter
einer möglichen
Linksregierung gilt:
Sozialismus in einem
Land war schon in we-niger
transnationali-sierten
Zeiten ein gera-dezu
unmögliches Unter-fangen.
Es gibt keine Möglich-keit
des Exodus.
Dabei ist nicht jeder Euroskeptiker
gleich Nationalist. Es gibt ein wachsen-des
Unbehagen gegenüber der EU, auch
innerhalb linker Parteien, das nicht dumpf
nationalistisch, sondern erfahrungsge-sättigt
ist. Dem kann mit der Predigt ei-nes
hilflosen Internationalismus nicht be-gegnet
werden. Schließlich war in den
letzten Jahrzehnten fast jeder Schritt zur
europäischen Integration ein Mittel zur
Durchsetzung neoliberaler Politiken. Die
EU gleicht immer mehr einem wirt-schaftsnahen
Lobbyverein, der ange-sichts
eines schwachen Europäischen
Parlaments kaum der politischen Kont-rolle
oder der Beeinflussung durch zivil-gesellschaftliche
Auseinandersetzungen
unterliegt. Die parteiförmige Linke be-wegt
sich also in einem strategischen Di-lemma,
welches im Europa-Wahlpro-gramm
der LINKEN auf den Punkt ge-bracht
wird: »Für DIE LINKE stellt sich
keine Entscheidung für oder gegen das ei-ne
oder andere – wir führen die Kämpfe
dort, wo sie stattfinden, in der EU, in
Deutschland, weltweit. Nicht, indem wir
uns zurückziehen auf den Nationalstaat,
in der Hoffnung, dass sich Löhne und So-zialstandards
leichter verteidigen lassen.
Nicht, indem wir uns Illusionen machen
über die neoliberale Europäische Union.«
Autoritärer Konstitutionalismus
Neben den Troika-Auflagen für »Hilfs-kredite
«, die auch gegen Grund- und
Menschenrechte (z.B. das Recht auf Ta-rifautonomie)
verstoßen, steht eine New
Economic Governance mit diversen Aus-teritäts-
und Wettbewerbspeitschen im
Zentrum des europäischen Krisenma-nagements.
Hierbei werden demokrati-sche
Prinzipien und geltendes Rechts,
wenn nötig, umgangen oder gebrochen.
Das geschieht über den Umweg zwi-schenstaatlicher
Abkommen (wie z.B. im
Fall des Fiskalpaktes) oder über die eu-roparechtswidrige
Einpressung von Se-kundärecht
in die geltenden Verträge
(wie im Fall der New Economic Gover-nance).
Hierbei werden die Exekutivap-parate
mit umfassenden Beschluss- und
Sanktionskompetenzen ausgestattet,
während die parlamentarischen Arenen
geschwächt werden – sowohl auf natio-naler
wie auf europäischer Ebene. Dieser
autoritäre Konstitutionalismus zählt we-der
auf Recht noch auf Zustimmung. Sein
Zwangscharakter tritt nicht nur in Süd-europa
offen zutage.
Das heißt: Selbst die im europäischen
Recht verdichteten Handlungsräume
werden nun zu eng für die Radikalisie-rung
des neoliberalen Projekts. Nachdem
die Regeln für eine strikte Austeritätspo-litik
europaweit auf Dauer gestellt und
damit einer demokratischen Infragestel-lung
entzogen wurden, geht es nun um
eine Europäisierung der im südeuropäi-schen
Laboratorium erprobten Struktur-reformen.
In den »Verträgen für Wettbe-werbsfähigkeit
« sollen sich die Mitglied-staaten
gegenüber der Europäischen
Kommission zur Deregulierung ihrer Ar-beitsmärkte,
zur Reform ihrer Pensions-systeme
und zur Senkung ihrer Löhne
verpflichten (vgl. Thomas Händel, Seite
19). Die geplanten wie die beschlossenen
Instrumente der Krisenpolitik gehen noch
wesentlich weiter als das mögliche Frei-handelsabkommen
mit den USA. Die
Kommission erklärt ganz offen, dass die
angedachten Verträge auf die Überwin-dung
politischer Widerstände zielen. Die
zentrale Konfliktachse im autoritären
Konstitutionalismus lautet daher nicht
Europa vs. Nationalstaat, sondern euro-päisches
Staatsapparate-Ensemble vs.
(repräsentative) Demokratie.
Strukturelle Selektivität der EU
Jeder Versuch einer linken Reform muss
sich außerdem mit der strukturellen Se-lektivität
der EU-Institutionen auseinan-dersetzen.
DIE LINKE etwa fordert daher
zu Recht einen »Neustart mit einer Revi-sion
jener primärrechtlichen Grundele-mente
der EU, die militaristisch, unde-mokratisch
und neoliberal sind«, wie es
noch im Entwurf des Leitantrages hieß.
Entsprechende Vertragsänderungen sind
aber schwierig. Das in Artikel 48 des Ver-trages
über die Europäische Union fest-geschriebene
Prozedere sieht die Zu-stimmung
jedes Nationalstaates vor.
Durch diese zentrale Rolle im Vertrags-änderungsverfahren
können sich Inte-ressen
im Wesentlichen nur als nationale
Interessen und nur durch ihre Exekuti-ven
hindurch artikulieren. Französische
ArbeiterInnen sitzen so im selben Boot mit
französischen Großbauern und Konzer-nen
anstatt nach gemeinsamen Interes-sen
mit deutschen oder österreichischen
Lohnabhängigen zu suchen. Dieser nati-
Es gibt
ein Unbehagen
gegenüber der EU,
das nicht dumpf
nationalistisch,
sondern erfahrungs-gesättigt
ist.
Anne Steckner, Sozialwissen-schaftlerin
und in der politischen
Bildung tätig.
Foto: Mauricio Bustamante
Lukas Oberndorfer, Wissenschaft-ler
in Wien und aktiv im Arbeits-kreis
kritische Europaforschung der
AkG.
Foto: Harri Mannsberger
Mario Candeias ist Direktor des
Instituts für Gesellschaftsforschung
der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Foto: privat
4. 4 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg
Neugründung Europas?
Strategische Orientierungen
Von Mario Candeias,
Lukas Oberndorfer, Anne Steckner
onalstaatliche Flaschenhals führt zu ei-ner
Horizontalisierung der Konfliktach-sen:
›Die Deutschen/Österreicher/Belgi-er‹
müssen vermeintlich für ›die Grie-chen/
Portugiesen/Irländer‹ die Zeche
zahlen. Klassenwidersprüche, Ge-schlechterhierarchien
und andere Macht-verhältnisse
werden unsichtbar, die Ver-ursacher
der Krise bleiben ungenannt.
Zudem ist die komplexe Rechtslage ein
Feld für ausgewiesene ExpertInnen mit
Spezialkenntnissen: Nur wer sich im ju-ristischen
Dschungel der EU zu bewegen
weiß, kann Vorschläge einbringen, die ins
bisherige Vertragsgefüge passen. Das
führt nicht nur zu einer Verrechtlichung
und Bürokratisierung der Debatte. Es
stärkt auch die Exekutiven und schließt
die Bevölkerungen von realer Beteili-gung
aus. Darüber hinaus kann das Veto
jedes Mitgliedslandes (bzw. seines Staats-und
Regierungschefs) dafür sorgen, dass
auch nur die kleinste Infragestellung der
autoritär-neoliberalen Integration zu-nichte
gemacht wird. Ohne den Konsens
aller Mitgliedsstaaten keine wesentliche
Vertragsänderung. Auf diese Weise kann
sich die Vetomacht einer einzigen Regie-rung
gegen die große Mehrheit der Be-völkerung
in Europa wenden. Auf dieser
Grundlage lässt sich eine Neugründung
Europas von unten nicht einmal in An-sätzen
erringen. Was bedeutet das für
strategische Orientierungen der Linken?
Kritik des autoritären Krisenmanage-ments
und Solidarität
Die klare Ablehnung des Krisenmanage-ments
war medial durchaus erfolgreich
und wurde an der Wählerbasis von Par-teien
links der Sozialdemokratie durch-aus
positiv aufgenommen. Es gelang, die
Ursachen der Krise mit einer Perspektive
der Solidarität mit den Krisenopfern zu
verbinden, statt sich durch nationalisti-sche
Deutungen spalten zu lassen.
Sinnvoll bleibt auch, auf nationalem
Terrain Möglichkeiten gegen neoliberale
und autoritäre Maßnahmen auf europäi-scher
Ebene zu nutzen, etwa mit Klagen
vor dem Bundesverfassungsgericht. Auch
vor europäischen Gerichten, insbeson-dere
dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte, lassen sich innerhalb
des bestehenden Rechts soziale und de-mokratische
Rechte verteidigen, z.B. mit
Klagen gegen die Economic Governance,
den Fiskalpakt, das grund- und kompe-tenzrechtlich
nicht gedeckte Vorgehen
der EU-Organe im Rahmen der Troika
oder gegen das Agieren von Frontex. All
diese möglichen Schritte sind wichtiger
Teil einer linken Gegenstrategie und er-reichen
ein beachtliches Medienecho.
Verknüpfung von Krise, Alltag und
Kommune
Trotz kleiner (kommunikativer) Erfolge
zeigt sich, dass das Thema Eurokrise oft
schwer vermittelbar ist. Linke Strategien
sollten weniger von der großen Krise als
vom Lebensalltag der Menschen ausge-hend
entwickelt werden: Wie hängen Kri-se
und Alltag miteinander zusammen?
Was haben meine Probleme mit den For-derungen
vieler Menschen in den Kri-senländern
zu tun? Wie lässt sich daraus
eine gemeinsame, solidarische Perspek-tive
entwickeln? Für die am stärksten von
der Krise betroffen Länder in Europa ist
ein Schuldenaudit eine unverzichtbare
Forderung, um sich von der erdrücken-den
Schuldenlast zu befreien. Solch ein
Audit zielt darauf ab, die Unrechtmäßig-keit
der Schulden herauszustellen, in-dem
gefragt wird: Muss der Schulden-dienst
an jene, eben noch vom Staat ge-retteten
Finanzinstitutionen überhaupt
geleistet werden? Sind diese Schulden
nicht zu großen Teilen illegitim, also un-rechtmäßig?
Welche Schulden soll-ten
zurückgezahlt werden – und
vor allem: welche nicht?
Darüber wäre in demo-kratischen
Konsultati-ons-
und Entschei-dungsprozessen
zu
beraten.
In Deutschland lie-ße
sich die Schulden-problematik
mit For-derungen
verknüpfen,
die der Situation hier-zulande
Ebene so einzusetzen,
dass europäische Ver-hältnisse
entsprechen. Ein
Es geht
darum, Möglich-keiten
auf nationaler
wichtiges Thema wäre die
Schuldenbremse. Sie bedroht
die ohnehin schon recht prekäre Fi-nanzlage
in Bewe-gung
geraten.
der Kommunen ganz unmittel-bar.
Die Einschränkung von öffentlichen
Leistungen bekommt die Bevölkerung di-rekt
zu spüren. Zahlreiche Auseinander-setzungen
um die soziale Infrastruktur,
von der Ausstattung der Schulen über
ausreichende Kindergartenplätze, öf-fentlichen
Nahverkehr, die Rekommu-nalisierung
von Wasserwerken und Ener-gieversorgern
bis hin zu Kämpfen um be-zahlbaren
Wohnraum, spielen sich auf
kommunaler Ebene ab. Hier ist die Krise
am deutlichsten zu spüren. Und es ste-hen
zahlreiche Kommunalwahlen an.
Ein Beispiel für eine europaweit ver-bindende
Perspektive unterschiedlicher
Kämpfe um soziale Grundbedürfnisse
wäre die Arbeit an einer Forderung für ei-ne
entgeltfreie soziale Infrastruktur für
alle, eine bedingungslose sozial-ökologi-sche
Grundversorgung in den Bereichen
Energie, Wasser, Mobilität, Internet etc.,
sowie kostenlose Gesundheit und Bil-dung.
Europäische Bewegungen und trans-nationale
Widerstände
Die Eröffnung des neuen EZB-Hochhau-ses
im Jahr 2014 und die Neuauflage der
Blockypy-Proteste in Frankfurt können als
Verdichtungspunkt transnationaler Or-ganisierung
eine wichtige symbolische
Bedeutung entfalten. Wichtiger noch als
das Ereignis selbst dient die Mobilisie-rung
dem europaweiten Austausch über
gemeinsame Strategien und Aktionen.
Dabei konnte die Orientierung auf na-tionale
und europäische Schuldenaudits
von unten bislang nicht die gewünschte
Dynamik entfalten. So wichtig dies ist,
so sehr drehen sich die Leidenschaften
der Vielen auch bei den Bewegungen
eher um alltagsnahe Kämpfe im prekä-ren
Leben: Gesundheit, Ausbildung, Er-nährung
und Wohnen – ob in Istanbul
oder Berlin, Detroit oder Madrid. In Spa-nien
sind die darin involvierten Organi-sationen
ein institutionell-strategisches
Rückgrat der gesamten Mobilisierung
und können sogar erste substanzielle Er-folge
vorweisen. Auch bei uns gehören
Mobilisierungen gegen Zwangsräumun-gen
oder Initiativen wie Kotti&Co und für
ein Recht auf Stadt zu den Hoffnungs-zeichen
einer ansonsten wenig bewegli-chen
bundesdeutschen Protestgesell-schaft.
Doch wie können die lokalen
Kämpfe transnational ver-knüpft
werden? Mit ge-meinsamen
Aktionstagen
ist ein Anfang gemacht.
Blockupy kann dafür
genutzt werden, lo-kale
und transnatio-nale
Perspektiven
zusammenzubringen.
Eine Europäische
Bürgerinitiative (EBI)
gegen Zwangsräumung
und Vertreibung und für
bezahlbares Wohnen wäre
möglicherweise eine unterstüt-zende
Initiative, die den Alltags-kämpfen
einen europäischen Resonanz-raum
geben könnte. Der Forderung nach
Kommunalisierung von leerstehenden
Wohnungen und nach demokratisch ver-waltetem,
sozial-ökologischem Wohn-raum
müssten klare Finanzierungsquel-len,
wie die Trockenlegung von Steuer-oasen
und eine europaweite Harmoni-sierung
der Unternehmenssteuern, ge-genübergestellt
werden.
Auch wenn die Kommission sich vor-erst
für unzuständig erklären könnte, wä-re
darüber die Asymmetrie zwischen
wirtschaftlicher und sozialer Integration
thematisierbar. Die erste EBI gegen die
Privatisierung der Wasserversorgung war
erfolgreich und erzwang, dass sich die
Kommission mit den Forderungen zu-mindest
auseinandersetzen musste: Sie
klammerte daraufhin Wasser und sani-täre
Grundversorgung von der geplanten
europäischen Konzessionsrichtline aus.
Der EBI voraus gingen z.B. das Volksbe-gehren
gegen die Privatisierung kom-munaler
Dienstleistungen in Italien
(2007) und der Volksentscheid zur Re-kommunalisierung
der Wasserbetriebe in
Berlin (2011). So könnte auch eine EBI
gegen Zwangsräumungen und Vertrei-bung
mit anderen Initiativen auf kom-munaler
und nationaler Ebene verknüpft
werden.
Sofern eine solche Initiative nicht mit
der Bewegung an sich verwechselt wird,
sondern diese begleitet und mit ihr ver-bunden
ist, kann sie ein mobilisierendes
Moment sein. Zurzeit planen die Ge-werkschaften
des DGB mit europäischen
Schwesterorganisationen eine EBI zur
5. europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 5
Realisierung eines »Marschall-Plans für
Europa«. Wäre dieser Prozess begleitet
von einer Debatte innerhalb des EGB, mit
den jeweiligen Gewerkschaften bis hin zu
den betreffenden Regionen in den Kri-senländern,
die den Plan mit konkreten
Ideen für seine Umsetzung vor Ort er-gänzen,
könnte dies eine sinnvolle Kam-pagne
werden. Andernfalls bliebe es ein
isolierter Versuch, Einzelforderungen
durchzusetzen.
Im Unterschied dazu betreiben die Be-wegungen
gegen Zwangsräumung in
Spanien – wie die Plattform der von den
Hypotheken Betroffenen (PAH) – ihre
Organisierung als Arbeit an der breiten
Neuformierung der Linken für eine wei-tergehende
gesamtgesellschaftliche Ver-änderung.
Jeder konkrete Einzelerfolg ist
zwar individuell bedeutsam, verpufft je-doch,
wenn er nicht zugleich die Hand-lungsfähigkeit
der Vielen und die Orga-nisationsmacht
der Bewegung stärkt.
Vorschläge für eine programmatische
Reform der EU
Die vielen nach vorne gerichteten Vor-schläge
linker Parteien zur Bearbeitung
der Eurokrise und zur sozialen Gestal-tung
Europas könnten noch deutlicher als
Elemente eines solidarischen Prozesses
der Neukonstitution Europas vertreten
werden: erstens durch kurzfristige Kri-senintervention
soziale und finanzielle
Not von den Menschen abwenden – zu-lasten
derjenigen, die die Krise verur-sacht
und mit ihr noch Profite gemacht
haben; zweitens einen alternativen wirt-schaftlichen
Entwicklungspfad in Europa
möglich machen, der soziale und ökolo-gische
Gerechtigkeit in den Mittelpunkt
stellt; und drittens eine langfristige Visi-on
für die Zukunft der europäischen Ei-nigung
zur Diskussion stellen.
Zugleich deuten sich in der gegen-wärtigen
EU-Politik Veränderungen
herrschender Politik an, die gewisse De-battenräume
öffnen. Diese Verschie-bungen
können genutzt werden, um lin-ken
Vorschlägen mehr Gehör zu ver-schaffen:
Wie könnte eine kooperative
europäische Wirtschaftskoordination
aussehen, was wären Elemente einer so-zial-
ökologischen Industriepolitik in Eu-ropa,
wie wären solidarische Perspekti-ven
europäischer Arbeitsteilung zu ent-wickeln?
Vor falschen Hoffnungen sollte man je-doch
auf der Hut sein: Linke Reformen in-nerhalb
des autoritären Konstitutionalis-mus
der EU sind aufgrund der genannten
Selektivitäten kaum durchsetzbar. Viel-mehr
droht mit sinnvoll erscheinenden
Reformen die Vertiefung neoliberaler Po-litik:
So wird Industriepolitik im Sinne der
Kommission auf verbesserte Wettbe-werbsbedingungen
und Zugang zu Märk-ten
reduziert. Ansätze einer europäi-schen
Arbeitslosenversicherung zur kon-junkturellen
Abfederung von Krisen soll
in einzelnen Mitgliedsstaaten an eine
weitere Flexibilisierung von Arbeits-märkten
gekoppelt werden.
Strategien eines demokratisierenden
Bruchs
Es ist fraglich, wie lange die gegenwär-tige
Regierung in Griechenland noch
hält. Für die Herrschenden in Europa ist
dies ein Fanal, sie fürchten den Präze-denzfall:
Gelänge es dem Bündnis der ra-dikalen
Linken, Syriza, dem drakoni-schen
Kürzungs- und Wettbewerbsdiktat
wirksamen Widerstand entgegenzuset-zen,
droht ein politischer Dominoeffekt.
In Griechenland haben sich breite Be-wegungen
organisiert, wodurch die Lin-ke
bei den Wahlen reüssiert. Die For-mulierung
eines klaren Antagonismus
führte das Bündnis nicht in die Isolation.
Vielmehr scheint es zu gelingen, die in
den Bewegungen und größeren Teilen
der Bevölkerung geäußerten Leiden-schaften
und Forderungen aufzuneh-men
und zu verdichten: Gegen die au-toritär-
neoliberale EU und die Macht des
Finanzkapitals, aber für Europa. Auf in-telligente
Weise umgeht Syriza die Di-lemmata,
in denen sich die Linke in Eu-ropa
sonst häufig verfängt.
Es geht also darum, Möglichkeiten auf
nationaler Ebene so einzusetzen, dass
europäische Verhältnisse in Bewegung
geraten. Die demokratische Neugrün-dung
Europas wäre das Ziel. Möglicher-weise
wird diese Perspektive aber erst
durch ein Ereignis geöffnet, gar hervor-gebracht,
das in nur einem Land einen ef-fektiven
Bruch erzeugt: etwa durch eine
griechische Linksregierung, die die Kür-zungspolitiken
der Troika zurückweist,
Neuverhandlungen und einen Schul-denschnitt
erzwingt, Kapitalverkehrs-kontrollen
einführt, Steuerreformen
umsetzt und mit einem sozial-ökologi-schen
Umbau des Wirtschaftens beginnt.
Das politische Risiko, gegen Europa-recht
zu verstoßen, ist einzugehen. An-dere
werden folgen. So könnten die in ei-nem
oder mehreren Ländern begonne-nen
Reformschritte innerhalb Europas
ausgedehnt werden. Doch stellt sich die-se
Perspektive bislang realistisch nur in
Griechenland. Und die Herrschenden tun
alles, um eine solche Position zu isolie-ren.
Und doch ist die Unzufriedenheit mit
der Politik und den Institutionen der EU
so groß, dass Brüche mit den geltenden
Regeln, quasi ein staatlicher ziviler Un-gehorsam
aus Notwehr, durchaus auf
Zustimmung treffen könnte.
Verfassungsgebende Prozesse und
Neugründung Europas
Das Grundsatzprogramm der LINKEN
formuliert einen anspruchsvollen Aus-gangspunkt:
»Wir setzen uns […] weiter
für eine Verfassung ein, die von den Bür-gerinnen
und Bürgern mitgestaltet wird
und über die sie zeitgleich in allem EU-Mitgliedsstaaten
in einem Referendum
abstimmen können. Wir wollen nicht we-niger
als einen grundlegenden Politik-wechsel.
«
Angesichts der hochgradig vermacht-eten
EU-Institutionen müssen linke Par-teien
in Europa scheitern, wenn sie nicht
darauf hinarbeiten, die Anordnung der
Strukturen selbst zu verändern und das
Terrain des Kampfes zu verschieben: Oh-ne
grundlegende Infragestellung und
Schaffung neuer Institutionen bliebe auch
eine linke Regierung in Spanien oder
Griechenland chancenlos. Die Asymmet-rien
der Macht in Europa sind ungeheu-er.
So wäre die alleinige Konzentration
aufs Parlament innerhalb des europäi-schen
Ensembles von Staatsapparaten ei-ne
Selbstbeschränkung auf ein nahezu
hoffnungslos vermachtetes Terrain. Es
gälte daher, einen Terrainwechsel zu
vollziehen und demokratische Gegen-institutionen
aufzubauen. Ein partizipa-tiver,
lokal und überregional verknüpfter
verfassungsgebender Prozess der Bera-tung
und Organisierung in Räte-Struk-turen
– von den Vierteln bis zur europäi-schen
Ebene – hätte die enorme Aufgabe
zu bewältigen, vielfältige Positionen der
gesellschaftlichen Linken zu einer ge-meinsamen
Alternative zu verdichten.
Zahlreiche gesellschaftliche Kräfte in
Südeuropa und darüber hinaus diskutie-ren
in diese Richtung. Am Ende stünde ei-ne
verfassungsgebende Versammlung für
Europa, die zumindest durch allgemeine
und gleiche Wahlen zusammengesetzt
sein müsste – eine Strategie, die schon zu
Beginn des 20. Jahrhunderts das Ein-dringen
der Massen in die Politik er-möglicht
hat.
Ein solcher Prozess wäre ein wichti-ger
Verdichtungspunkt einer bereits be-gonnenen
Dynamik für ein anderes Eu-ropa.
Er kann begonnen werden ohne ein
Mandat der gegebenen Institutionen. So
ließe sich die Mobilisierung gegen die
Hauptquartiere der Macht und gegen das
europäische Ensemble von Staatsappa-raten
mit ihrer notwendigen Umgestal-tung
verbinden: nicht weiter mit diesem
Herrschaftsprojekt EU! Es gälte, die
durch die EU-Institutionen erzwungene
horizontale Konfliktachse zwischen na-tionalen
Interessen in eine vertikale Ach-se
zwischen den subalternen Gruppen
und Klassen in der EU einerseits und den
herrschenden Machtgruppen und domi-nanten
Kapitalfraktionen andererseits zu
drehen. Ein solcher Prozess könnte – an-ders
als richtige, aber nicht durchsetz-bare
Einzelforderungen – eine größere
Wirkung entfalten, weil es ums Ganze
geht und alle Menschen sich potenziell
beteiligen können: Welches Europa wol-len
wir? Wie wollen wir darin leben? Zu-gleich
unterbricht er die katastrophale
Kürzungsmaschine, klagt Zeit ein und
nimmt sie sich – für eine wirkliche Neu-gründung
Europas.
Zuvor braucht es jedoch auch auf eu-ropäischer
Ebene einen effektiven Bruch.
Dieser ist unmittelbar auf transnationa-ler
Ebene nicht zu erwarten. Ohne den
Sturz der neoliberalen Regierungen droht
das Potenzial eines verfassungsgebenden
Prozesses zu verpuffen. Bruch und Neu-gründung
sind keine Gegensätze, sie ver-weisen
aufeinander.
Neugründung Europas?
Strategische Orientierungen
Von Mario Candeias,
Lukas Oberndorfer, Anne Steckner
6. 6 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg
Ein geschichtlicher Moment.
Die Linke und Europa
Von Pierre Laurent
Wir erleben in Europa einen historischen
Moment. Die EU befindet sich in einer
existenziellen Krise, alle Grundlagen der
europäischen Integration, alle EU-Ver-träge
sind in Frage gestellt. Ich werde die
schreckliche Krise, die unser Kontinent
durchlebt nicht erneut beschreiben. Wir
alle kennen ihre Auswirkungen. Statt-dessen
will ich mich darauf konzentrie-ren,
Europa eine andere Zukunft vorzu-schlagen.
Die europäischen Regierungen, Skla-ven
ihren Dogmen, haben keine Vision für
Europa. Sie sind dabei, die Idee eines Eu-ropas
der Kooperation und der Solidarität
zu beerdigen. Der Autoritarismus raubt
den Menschen und Parlamenten immer
mehr Einfluss. In den Ländern, die dem
Diktat der Troika unterworfen sind, haben
drakonische Maßnahmen, die der Bevöl-kerung
wie Strafen aufgezwungenen wer-den,
das europäische Modell und seine Re-präsentanten
in Misskredit gebracht. In
trüben Wassern fischend versucht die ext-reme
Rechte diese Skepsis für sich zu nut-zen.
Die Gefahren sind ernst: Es geht um
die Durchsetzung einer immer autoritärer
werdenden Europäischen Union, um die
Rückkehr eines »Einzelkämpfertums« im
Dschungel der Globalisierung, ja sogar um
die Rückkehr von Kriegen, von National-chauvinismen
und Rassismus.
In dieser Situation werden Stimmen
lauter, die für den Rückzug des einen oder
anderen Landes aus der Euro-Zone plä-dieren,
was früher oder später zu deren
Auflösung führen würde. Die Debatte
durchzieht auch die Linke. Es ist ver-ständlich,
dass einige solche Schritte in
Betracht ziehen – aus Verzweiflung und
weil das Kürzungsdiktat die einzige Pers-pektive
zu sein scheint. Dennoch handelt
es sich aus unserer Sicht um einen fal-schen,
sogar gefährlichen Weg. In der er-barmungslosen
Welt, in der wir leben,
würden die Subalternen in verschärfte
Konkurrenz zueinander gesetzt, müssten
einen gnadenlosen Wirtschaftskrieg aus-tragen.
Die großen Unternehmensgrup-pen
und die hegemonialen Staaten wä-ren
die einzigen Gewinner eines solchen
»Einzelkämpfertums«. Um Solidarität und
Kooperation zu fördern, die uns so dra-matisch
fehlt, wäre eine radikal andere
Europäische Union nötig: ein auf völlig
anderen Grundlagen neu gegründetes
Europa.
Die Situation in Osteuropa ist beson-ders
besorgniserregend. Die Einwohner-
Innen dieser Länder laufen Gefahr, zu
Geiseln der Konfrontation zwischen den
Mächten – EU gegen Russland – zu wer-den;
zu Geiseln der Konfrontation natio-naler
Oligarchien um die Kontrolle über
Ressourcen und Märkte.
Die Eckpunkte der Neugründung sind
folgende:
– ein Ende der Austeritätspolitik und ei-ne
Umkehr zu sozialer, ökologischer
und solidarischer Entwicklung, zu öf-fentlichen
Dienstleistungen.
– die Übermacht der Finanzmärkte muss
zerschlagen werden, indem Schulden
neuverhandelt und ihr illegitimer Teil
erlassen wird, und indem die Rolle der
EZB so neu bestimmt wird, dass sie da-zu
beiträgt eine soziale Entwicklung zu
finanzieren.
– wir müssen die Durchsetzung von so-zialen
Rechten und Menschenrechten
in ganz Europa voran bringen – sie
müssen nach und nach an den jeweils
höchsten Stand angeglichen werden.
– wir müssen gerechte Handelsbezie-hungen
unter den europäischen Staa-ten
und mit dem Rest der Welt auf-bauen
- zunächst gilt es das Projekt ei-nes
Transatlantischen Freihan-delsabkommens
zu stop-pen.
– ein friedliches Europa
muss die NATO ver-lassen,
Abrüstung
betreiben und an
politischen, nicht-militärischen
Lö-sungen
von Kon-flikten
arbeiten.
– Zu guter Letzt geht
es darum, die Demo-kratie
befindet sich in
einer existenziellen
Krise, alle Grundlagen
der Integration sind
(wieder)herzu-stellen:
die Bevölkerung
Die EU
infrage gestellt.
muss das letzte Wort über
strukturelle Entscheidungen in der EU
haben, ihre Souveränität und die heu-te
lächerlich gemachten Parlamente
müssen wieder respektiert werden.
Wir alle sind dieses Europa, das mit allen
Mitteln nach menschlicher Emanzipation
sucht.
Wie können wir auf diesem Weg voran
kommen?
Die Europäische Linke hat sich an vielen
Bündnissen beteiligt, die für eine – wie
wir es nennen – »soziale und politische
Front in Europa« zentral sind. Sie hat ih-re
Zusammenarbeit mit sozialen und ge-werkschaftlichen
Bewegungen intensi-viert
und eine Politik verfolgt, die darauf
zielt, neue gesellschaftliche Kräfte und
politische Akteure zu gewinnen.
Wir wollen unsere Beziehungen mit ei-ner
ganzen Reihe von linken Kräften in
Europa intensivieren. Ich denke an den
Balkan, die nordischen Ländern, Groß-britannien,
die Länder im Osten. Wir
schlagen vor, unsere Statuten so zu än-dern,
dass andere Parteien »Partner«-Or-ganisationen
der Europäischen Linken
werden können. Auf diese Weise wollen
wir die Zusammenarbeit verbessern und
unsere Strahlkraft vergrößern.
Wir haben an einer Annäherung mit
dem Sao Paulo-Forum, den Organisatio-nen
der lateinamerikanischen Linken und
der mediterranen Linken gearbeitet. All
das ist von großer Bedeutung. Wir wol-len,
dass dieser Austausch in praktisches
Handeln mündet, für eine konkrete
Transformation Europas, der Welt und
des Lebens der Menschen.
Ein Symbol der Hoffnung
Die Europäische Linke ist nicht mehr nur
ein Ort des politischen Austauschs. Sie ist
eine Partei der konkreten Zusammenar-beit,
der Aktion – eine Partei der Verän-derung.
Wir schlagen vor, dass die Europäi-sche
Linke Kampagnen durchführt, die es
ermöglichen, kämpferisch und bürger-schaftlich
neue gemeinsame Ziele zu ver-folgen.
Darum ging es bei der Europäi-schen
Bürgerinitiative, die wir ins Leben
gerufen haben, um eine öffentliche eu-ropäische
Bank oder einen Fonds für so-ziale
und ökologische Entwicklung zu
gründen.
In diesem Sinne wollen wir im Jahr
2014 eine große Kampagne gegen
das Transatlantische Freihan-delsabkommen
starten, zu-sammen
mit Bewegun-gen
und NGOs. Das
Freihandelsabkommen
ist für die Europäe-rInnen
ebenso ge-fährlich
wie für die
Menschen im Rest der
Welt. Seine Inhalte
müssen offengelegt
werden. Wir können die
Unterzeichnung des Ab-kommens
verhindern – un-sere
lateinamerikanischen
Freunde haben es uns mit dem ALCA-Ab-kommen
vorgemacht. Nichts ist ent-schieden.
Außerdem wollen wir im März einen
Schuldengipfel in Brüssel organisieren.
Diese Positionen müssen wir auch in den
Europa-Wahlkampf tragen. Schulden sind
zu einer ideologischen Waffe geworden,
um eine Politik sozialer Ungleichheit und
das Kürzungsdiktat zu legitimieren. Wir
wollen die Austerität stoppen, eine Bele-bung
der Wirtschaft anders finanzieren
und den Reichtum wieder gerechter ver-teilen.
Schließlich möchte ich betonen, dass
wir 2014 – dem hundertsten Jahrestag des
Ersten Weltkriegs – Friedensinitiativen
starten. Ich denke besonders an Veran-staltungen,
die Anfang des Jahres in Ver-dun
und später in Sarajewo stattfinden
werden.
Wir setzten uns für ein stärkeres poli-tisches
Zusammenwachsen ein. Die EL
schlägt vor, jedes Jahr ein »Europäisches
Forum der Alternativen« zu veranstalten
– als neuen, offenen Raum für alle Orga-nisationen
und gesellschaftlichen Kräfte,
die an einer Zusammenarbeit mit uns in-teressiert
sind. Das erste Forum könnte
im Herbst 2014 stattfinden, in einer neu-en,
aus den Wahlen hervorgegangenen
politischen Landschaft.
Selbstverständlich sind alle unsere po-litischen
Anstrengungen bis Mai 2014 auf
die Vorbereitung der europäischen Wah-len
gerichtet. Wir sehen auch die Gefahr
der radikalen Rechten. Die Vorsitzende
der Front National, Marine Le Pen, ist ge-rade
durch die europäischen Hauptstäd-te
gereist, um die Gründung einer rechts-extremen
Fraktion im Parlament vorzu-bereiten.
Sie werden versuchen, auf der
Welle einer Europa-Ablehnung zu reiten.
Pierre Laurent ist Vorsitzender
der Europäischen Linken.
Dies ist die gekürzte Fassung seiner
Eröffnungsrede zum Kongress
der Europäischen Linken, Madrid,
15. Dezember 2013
Foto: dpa/Maxppp/Hugues Leglise Bataille
Übersetzung: Raul Zelik
7. europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 7
Die Sozialdemokraten werden sich be-mühen,
als Bollwerk gegen diese Gefahr
zu erscheinen. In einer gemeinsamen, am
23. Oktober in Berlin veröffentlichten Er-klärung
verkünden die deutsche Sozial-demokratie
und die französischen Sozia-listen
von François Hollande: »Wir wollen
neues Vertrauen in Europa schaffen, in-dem
wir für den Wandel in Europa, für
ein demokratischeres, sozialeres und
nachhaltigeres Europa werben. Das ist es,
was wir den Menschen als Vorschlag für
die Europawahlen 2014 unterbreiten
möchten.« In dieser Erklärung bekundet
die französische Sozialistische Partei au-ßerdem
ihre Unterstützung für Martin
Schulz als Vorsitzenden der Europäischen
Kommission. Aber welche Glaubwürdig-keit
haben sie noch, wo doch die SPD jetzt
Stakeholder einer Großen Koalition unter
der Führung von Angela Merkel ist? Sie
halten die Menschen zum Narren.
Dazu bieten wir eine linke Alternative
– ›wir‹ das sind all jene, die wie wir eine
Stärkung der GUE-NGL, der Vereinten
Europäischen Linken/Nordischen Grü-nen
Linken anstreben. Die Europäische
Linke hat sich entschlossen, für diese Auf-gabe
einen Kandidaten für den Vorsitz der
Europäischen Kommission zu nominie-ren:
Alexis Tsipras. Diese Entscheidung
gründet auf dem Wunsch, Europa zu ei-nigen
und es auf einer demokratischen
und fortschrittlichen Grundlage neu zu
begründen.
Für die Europäische Linkspartei ist die-se
Kandidatur ein starkes Symbol der
Hoffnung für Europa. Griechenland hat
der Austeritätspolitik als Versuchskanin-chen
gedient. Aber Griechenland hat Wi-derstand
geleistet und leistet ihn immer
noch. Syriza hat es verstanden, unter-schiedliche
gesellschaftliche Kräfte gegen
die barbarischen Memoranden, gegen den
Autoritarismus und für eine Wiederbele-bung
Griechenlands innerhalb eines so-lidarischen
Europas zu vereinen. Die
Stimme von Alexis Tsipras ist die Stimme
der Hoffnung und des Widerstands ge-gen
eine ultraliberale Politik und gegen
die Drohung der radikalen Rechten. Die-se
Kandidatur könnte zahlreiche Bürger
und politische Organisationen zusam-menbringen.
8. 8 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg
Move Forward.
Die Veränderung hat begonnen
Von Alexis Tsipras
Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten.
Europa ist an einem kritischen Scheide-weg
angelangt, und es gibt zwei Rich-tungen,
die es einschlagen kann: Entwe-der
entscheiden wir uns für Stillstand
oder wir bewegen uns vorwärts. Entwe-der
wir finden uns mit dem neoliberalen
Status quo ab und tun so, als könne die
Krise mit derselben Politik gelöst wer-den,
die sie hervorgerufen hat, oder wir
machen uns mit der europäischen Linken
daran, die Zukunft in unsere Hand zu
nehmen. Denn der Neoliberalismus be-droht
die Existenz der Menschen überall
in Europa und damit ist auch die Demo-kratie
in Gefahr, insbesondere durch das
Erstarken der extremen Rechten.
Diejenigen, die behaupten, dass die
verabreichte »Medizin« zum Kurieren der
Krise geführt hat, sind Heuchler. Denn der
europäische Traum hat sich für Millionen
von Menschen in einen Albtraum ver-wandelt.
Umfrageergebnisse des Euro-barometers
zeigen, dass wir es mit einer
erheblichen Vertrauenskrise in der EU zu
tun haben und dass die Popularität der
ultrarechten Parteien wächst.
Wir waren es, die europäische Linke,
die noch vor der Etablierung der Euro-zone
zu Recht vor den Schwächen, Män-geln
und destabilisierenden Ungleichge-wichten
dieses Projektes gewarnt haben.
Aber die Eurozone existiert nun einmal.
Wir haben eine Wirtschaftsunion und ei-ne
gemeinsame Währung, und die un-mittelbaren
Alternativen sind kei-nen
Deut besser. Ein Aus-scheiden
aus der Eurozone
würde keinem Krisen-staat
etwas nutzen. Im
Gegenteil. Damit wür-den
nur neue Proble-me
entstehen wie ei-ne
instabile Wäh-rung,
ein möglicher
Sturm auf die Banken,
Inflation, Kapitalflucht
und massenhafte Ab-wanderung.
Schon des-halb
sollte etwa Griechen-land
nicht freiwillig die Euro-zone
verlassen. Das Ausscheiden Grie-chenlands
oder eines der anderen Kri-senländer
wäre eine Katastrophe für ganz
Europa. Denn sobald ein Land aus der
Währungsunion austritt, werden die
Märkte und die Spekulanten sofort da-rauf
reagieren und fragen, wer der Nächs-te
ist. Dies ist ein Prozess, der – einmal be-gonnen
– nicht mehr zu stoppen ist.
Unser Interesse als EuropäerInnen ist
ein anderes: Wir wollen die Eurozone
verändern. Und hier stellen sich drei Auf-gaben:
Erstens müssen wir in Bezug auf
Europa neue Ideen entwickeln, zweitens
müssen wir dementsprechend eine ver-änderte
Krisenpolitik betreiben und drit-tens
müssen wir zwangsläufig die Insti-tutionen,
ja die ganze Grundlage der EU
verändern. Diesen politischen Kampf
müssen wir an zwei Fronten führen: zum
einen zu Hause, zum anderen in Brüssel,
Frankfurt und Berlin.
Denn das europäische Establishment
hat die Schuldenkrise zum willkomme-nen
Anlass genommen, die wirtschaftli-che
und politische Nachkriegsordnung
Europas in seinem Sinne umzugestalten.
Aus diesem Grund lehnen sie auch unse-ren
Vorschlag ab, eine europäische Schul-denkonferenz
einzuberufen, die sich an
der Londoner Konferenz zur Regelung der
Auslandsschulden von 1953 orientieren
soll und auf der eine endgültige und trag-fähige
kollektive Lösung für das Problem
erarbeitet werden könnte.
In Europa kämpfen...
Denken wir uns für einen Moment zu-rück
in die Vergangenheit: Es ist der 27.
Februar 1953. Die Bundesrepublik
Deutschland ächzt unter ihrer Schulden-last
und droht die übrigen europäischen
Länder in einen Krisenstrudel mit hi-neinzuziehen.
Die Gläubigerstaaten, da-runter
Griechenland, machen sich ernst-hafte
Sorgen um ihre eigene Zukunft. Erst
in dieser Situation begreifen sie, was ab-gesehen
von den Neoliberalen längst al-len
klar war: Die Politik der »internen Ab-wertung
« – gemeint ist eine Senkung der
Lohnkosten – sorgt nicht dafür, dass die
Schulden abbezahlt werden können.
Ganz im Gegenteil.
Auf einem Sondergipfel in London be-schließen
21 Staaten, ihre Forderungen
an die tatsächliche wirtschaftliche Leis-tungsfähigkeit
der Schuldnerländer an-zupassen.
Sie streichen 60 Prozent
der deutschen Schulden, ge-währen
dem Land ein fünf-jähriges
Zahlungsmora-torium
(von 1953 bis
1958) und verlängern
die Rückzahlungsfrist
um 30 Jahre. Über-dies
führen sie eine
Art Nachhaltigkeits-klausel
ein: Demnach
muss Deutschland
nicht mehr als ein
Zwanzigstel seiner Ex-porteinnahmen
für den
Schuldendienst aufwenden.
Diese Beschlüsse waren also das ge-naue
Gegenteil des Versailler Vertrags
von 1919 und bildeten die Grundlage für
die erfolgreiche wirtschaftliche Ent-wicklung
der Bundesrepublik nach dem
Zweiten Weltkrieg.
Nichts anderes fordert heute die »Ko-alition
der Radikalen Linken« (SYRIZA).
Wir sollten uns also daran machen, all die
vielen Mini-Versailler-Verträge, die Bun-deskanzlerin
Merkel und ihr Finanzmi-nister
Schäuble den europäischen
Schuldnerstaaten aufgeherrscht haben,
wieder rückgängig zu machen. Lassen wir
uns also von jenem großen Tag in der jün-geren
Geschichte Europas inspirieren, an
dem seine Führung so viel außerge-wöhnliche
Weitsicht unter Beweis ge-stellt
hat. Die verschiedenen Rettungs-programme
für die südeuropäischen Län-der
sind gescheitert. Sie haben ein Fass
ohne Boden hinterlassen – die Zeche da-für
müssen, wie meistens, die einfachen
SteuerzahlerInnen zahlen.
Nun bestehen die politischen Eliten in
Europa – die sich freiwillig in die Geisel-haft
von Frau Merkel begeben haben –
aber darauf, diese Maßnahmen, die die
Probleme in den südlichen Ländern nur
verschlimmert haben, auf den gesamten
Euroraum auszudehnen. Wir dagegen
meinen, dass Europa einen »New Deal«
benötigt, um das Problem der Arbeitslo-sigkeit
in den Griff zu bekommen und um
ausreichend Mittel für die Finanzierung
der Zukunft unserer Länder zu generie-ren.
Europa benötigt mehr Umverteilung
und Solidarität, wenn es überleben will.
Dies sind die Grundpfeiler des neuen
Europas, für das wir uns engagieren und
kämpfen. Es soll an die Stelle des heuti-gen
Europas treten, das unter den Armen
nur Angst und Schrecken verbreitet, wäh-rend
es das Vermögen der Reichen an-wachsen
lässt. In Griechenland hat das
Memorandum eine für die Nachkriegs-zeit
beispiellose humanitäre Krise nach
sich gezogen. Sie stellt eine Schande für
die europäische Zivilisation dar. Zwei
Millionen GriechenInnen sind nicht mehr
in der Lage, Grundbedürfnisse zu befrie-digen,
es fehlt an Geld für ordentliche
Mahlzeiten und zum Heizen. Vor kurzem
ist in Thessaloniki ein Mädchen an einer
Rauchvergiftung gestorben, weil ihre Fa-milie
die Stromrechnung nicht bezahlen
konnte und versucht hatte, die Wohnung
mit Hilfe eines selbst installierten Holz-ofens
zu beheizen. In Athen und anderen
größeren Städten gehört es inzwischen
zum Alltag, dass gut gekleidete Frauen
und Männern in Mülltonnen nach Essen
wühlen. Eine Währungsunion, die zu ei-ner
Spaltung ihrer Mitgliedsstaaten und
deren Gesellschaften führt, die für wach-sende
Arbeitslosigkeit verantwortlich ist
und für ein Mehr an Armut und sozialer
Polarisierung steht, muss entweder um-gestaltet
werden oder wird zusammen-brechen.
Eine Umgestaltung bedeutet ei-nen
grundsätzlichen Wandel.
...und zu Hause
Vergessen wir jedoch nicht die anderen
Ursachen der griechischen Finanzkrise.
So hat sich in Griechenland nach wie vor
nichts an der Verschwendung öffentli-cher
Gelder geändert. Nirgends in Euro-pa
kommt etwa der Bau eines Kilometers
Straße teurer wie hier. Ein weiteres Bei-spiel:
Die Privatisierung der Autobahnen
dient angeblich der »Vorfinanzierung«
neuer Strecken – deren Bau ist aber auf
Eis gelegt, gefüllt werden die Taschen der
»Investoren«.
Die wachsende Ungleichheit kann da-her
nicht einfach als Nebeneffekt der Kri-se
abgetan werden. Das griechische Steu-ersystem
ist ein Ausdruck von Klientelis-mus,
der die Eliten des Landes zusam-menschweißt.
Dank zahlloser Ausnah-meklauseln
ist das System löchrig wie ein
Sieb, wobei die zahlreichen Ausnahme-regelungen
und Vergünstigungen spezi-ell
auf die Oligarchen zugeschnitten sind.
Diejenigen,
die behaupten,
dass die verabreichte
»Medizin« zum
Kurieren der Krise
geführt hat, sind
Heuchler.
Alexis Tsipras ist Spitzenkandidat
der Europäischen Linken für die
Wahlen zum Europäischen Parla-ment
und damit zugleich für das
Amt des Präsidenten der Europäi-schen
Kommission.
Foto: dpa/Manuel De Almeida
Übersetzung: Britta Grell
9. europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 9
Dieses Arrangement beruht seit dem
Ende der Diktatur auf einem informellen
Pakt zwischen Unternehmern und der
doppelköpfigen Hydra des Zweipartei-ensystem,
bestehend aus Nea Dimokratia
und Pasok. Das ist einer der Gründe, wa-rum
der griechische Staat bis heute nicht
die so dringend benötigten Steuern von
den Wohlhabenden eintreibt, sondern
vorzugsweise die Löhne und Renten
kürzt.
Aber das politische Establishment – das
übrigens die letzten Wahlen nur überlebt
hat, weil es erfolgreich die Angst der
Menschen vor einem Ausscheiden aus der
Eurozone schüren konnte – verfügt noch
über ein zweites Lebenselixier: die Kor-ruption.
Die geheimen Absprachen zwi-schen
den politischen und wirtschaftli-chen
Eliten aufzubrechen, gehörte daher
zu den Prioritäten einer von SYRIZA an-geführten
popularen Regierung. Wir for-dern
ein Schuldenmoratorium also auch,
um in Griechenland einen grundlegen-den
Wandel herbeizuführen.
Der Wandel Europas ist übrigens weit
mehr als eine längst fällige Forderung, es
handelt sich vielmehr um eine existenzi-elle
Frage. In Griechenland hat der Pro-zess
des Wandels bereits begonnen. SY-RIZA
ist nur noch einen Schritt von der
Machtübernahme entfernt. Die gegen-wärtige
griechische Regierung versucht
der EU dadurch zu imponieren, dass sie
die Rolle des »Musterzöglings« spielt.
Aber auch das hat ihr nichts gebracht.
Nehmen wir als Beispiel die Zusage, die
griechische Schuldenlast zu mindern. Die
Debatte darum wurde ein ganzes Jahr
lang ausgesetzt, weil man die Bundes-tagswahlen
in Deutschland abwarten
wollte. Jetzt erklärt man uns, wir müss-ten
uns noch bis zu den Europawahlen
im Mai 2014 gedulden. Die Herrschen-den
in Europa werden uns aber erst dann
Gehör schenken, wenn wir einen politi-schen
Wandel in Griechenland herbeige-führt
haben und sich die Unzufriedenheit
mit der Austeritätspolitik in den bevor-stehenden
europäischen Wahlen in ent-sprechenden
Stimmenzuwächsen für lin-ke
Parteien niederschlägt.
Hin zu einem anderen Europa
Die anstehende Europawahl bietet eine
Gelegenheit, einen wirklichen Dialog mit
den Menschen in Europa zu beginnen –
vor allem mit denjenigen, die den Ein-druck
haben, dass sich niemand für ihr
Schicksal interessiert. Wir zählen dabei
auf jede Einzelne und jeden Einzelnen
von euch. Wir setzen auf die Solidarität,
um bei den ersten entscheidenden
Schritten unserer Regierung nicht allein
dazustehen. Denn unter einer von SY-RIZA
geführten Regierung wird es in
Griechenland eine Abkehr von all den
Kürzungspolitiken geben. Wir werden
einen tragfähigen Plan zur Förderung der
griechischen Wirtschaft vorlegen, aber –
was noch von größerer Bedeutung ist –
einen realistischen Plan für einen Um-bau
hin zu einem anderen Europa. Was
wir in Europa brauchen, ist eine mög-lichst
breite Front gegen den vorherr-schenden
Kurs, eine Solidaritätsbewe-gung
für die Rechte der Lohnabhängi-gen
sowohl im Norden als auch im Sü-den.
Was wir brauchen, wenn die euro-päische
Linke an Stärke gewinnen und
einen maßgeblichen Unterschied ma-chen
will im Alltag der einfachen Leute,
sind möglichst umfassende soziale und
politische Bündnisse. Die Europawahl im
kommenden Mai bietet eine historische
Chance, die Voraussetzungen für diesen
Wandel mit zu schaffen. Wenn versucht
wird, das Rad der Geschichte zurückzu-drehen,
ist es an der Linken, Europa in ei-ne
bessere Zukunft zu führen.
10. 10 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg
Schulden und Euro:
Was tun?
Ein Manifest von Daniel Albarracín, Nacho Álvarez, Bibiana Medialdea, Francisco Louçã,
Mariana Mortagua, Michel Husson, Stavros Tombazos, Giorgos Galanis, Özlem Onaran
Ein falsches Dilemma
Diese Krise hat gezeigt, dass dieses neo-liberale
Projekt in Europa nicht tragfähig
ist. Progressive Alternativen zu dieser Kri-se
erfordern eine Neugründung Europas:
Kooperation ist notwendig sowohl auf
europäischer als auch auf internationaler
Ebene, für die Restrukturierung der In-dustrie,
für ökologische Nachhaltigkeit
und für die Schaffung von zusätzlichen
Arbeitsplätzen.
Da aber eine globale Neugründung an-gesichts
des derzeitigen Kräfteverhält-nisses
utopisch erscheint, stellt sich der
Ausstieg aus den Euro für einige Länder
als eine unmittelbare Lösung dar. Das Di-lemma
scheint also klar: riskanter Aus-stieg
aus der Euro-Zone oder hypotheti-sche
europäische Harmonisierung, die
aus den sozialen Kämpfen hervorgehen
soll.
Wir denken, dass diese Gegenüber-stellung
falsch ist; es ist im Gegensatz da-zu
wichtig, an einer gangbaren Strategie
für die unmittelbare Konfrontation zu ar-beiten.
Jeder soziale Wandel beinhaltet
eine Infragestellung der vorherrschenden
gesellschaftlichen Interessen, deren Pri-vilegien
und deren Macht. Diese Kon-frontation
spielt sich hauptsächlich auf
nationaler Ebene ab. Der Widerstand der
herrschenden Klasse und ihr Potential an
Vergeltungsmaßnahmen reichen jedoch
über den nationalen Rahmen hinaus. Die
Strategie des Ausstiegs aus dem Euro be-inhaltet
nicht ausreichend die Notwen-digkeit
einer europäischen Alternative.
Deswegen muss eine Strategie aufgestellt
werden, welche mit dem »Euroliberalis-mus
« bricht und Mittel für eine andere
Politik frei setzt. Es geht in hier nicht um
das Programm, sondern um die Mittel der
Umsetzung.
Sich von dem Griff der Finanzmärkte
befreien
Kurzfristig müsste eine der ersten Maß-nahmen
einer linken Regierung sein, ei-nen
Weg zu finden, mit dem das Haus-haltsdefizit
unabhängig von den Finanz-märkten
finanziert wird. Das erlauben die
europäischen Regeln nicht, und es wäre
der erste Bruch, der durchzuführen wä-re.
Es gibt ein großes Spektrum an mög-lichen
Maßnahmen, die nicht neu sind
und die früher in unterschiedlichen eu-ropäischen
Ländern durchgeführt wur-den:
eine Zwangsanleihe bei den reichs-ten
Haushalten; das Verbot, Kredite bei
Devisenausländern aufzunehmen; eine
Verpflichtung von Banken, eine be-stimmte
Quote an Staatsanleihen aufzu-nehmen;
eine Steuer auf internationale
Dividendentransfers sowie auf Kapital-transfer
usw.; und selbstverständlich ei-ne
radikale Steuerreform.
Der einfachste Weg wäre, dass die na-tionale
Zentralbank den öffentlichen
Haushalt finanziert, wie es in den USA,
in Großbritannien, Japan usw. gemacht
wird. Es wäre möglich, eine besondere
Bank ins Leben zu rufen, welche sich ge-genüber
der Zentralbank refinanzieren
darf, welche aber als Hauptfunktion den
Kauf öffentlicher Anleihen hätte (etwas,
was die EZB bereits gemacht hat).
Natürlich ist das nicht wirklich eine
technische Frage. Es wäre ein politischer
Bruch mit den bisher geltenden Regeln in
Europa. Ohne einen solchen Bruch wäre
jegliche Politik, die nicht »die Finanz-märkte
beruhigen« würde, sofort blo-ckiert
durch einen Anstieg der Kosten für
die Finanzierung der öffentlichen Schul-den.
Dieses erste Paket von Sofortmaß-nahmen
würde jedoch nicht die bereits
angehäuften Last von Schulden und der
Zinsen auf diese Schulden reduzieren. Die
Alternative sieht folgendermaßen aus:
entweder weiter andauernde Austerität
oder ein sofortiges Moratorium auf die öf-fentlichen
Schulden.
Nach einen solchen Moratorium sollte
ein öffentliches Audit organisiert wer-den,
um die illegitimen Schulden he-rauszufinden
– was vor allem vier Berei-che
betreffen würde:
– die »Steuergeschenke« zugunsten der
reichsten Haushalte, der großen Fir-men
und der »Rentiers«;
– die »illegalen« Steuerprivilegien: Steu-erflucht,
Steueroptimierung, Steuer-oasen
und Amnestien für Steuer-flüchtlinge;
– die Bankenrettungsaktionen seit Aus-bruch
der Krise;
– die Schulden, die per Schneeballeffekt
aus den Schulden selbst entstanden
sind durch die Differenz zwischen der
Höhe der Zinsen und der Wachstums-raten
des BIP, weil letztere infolge der
neoliberalen Kürzungspolitik und der
Arbeitslosigkeit stark in Mitleiden-schaft
gezogen wurden.
Auf ein solches Audit muss ein Austausch
der Schuldtitel folgen mit dem Ergebnis,
dass ein Großteil der Schulden annulliert
wird. Das wäre der zweite Bruch.
Die öffentlichen Schulden sind aber
auch eng verwoben mit der Bilanz der pri-vaten
Banken. Darum sind die soge-nannten
Rettungsaktionen für die Staa-ten
in der Regel Bankenrettungsaktio-nen.
Also ist ein dritter Bruch mit der neo-liberalen
Ordnung erforderlich: interna-tionale
Kapitalverkehrskontrolle, Kont-rolle
über das Kreditwesen und Soziali-sierung
der Banken. Das ist der einzige
vernünftige Weg, um das Geflecht der
Schulden zu entwirren. Immerhin war das
die Option, die in Schweden in den 1990-
er Jahren gewählt wurde (auch wenn die
Banken später wieder privatisiert wur-den).
– Das sind die Mittel für eine echte
soziale Transformation. Aber wie kom-men
wir dahin?
Eine linke Regierung ist notwendig
Diese drei bedeutenden und notwendi-gen
Brüche, um erfolgreich Widerstand
gegen eine finanzpolitische Erpressung zu
leisten, können nur von einer linken Re-gierung
zu einem guten Ende gebracht
werden. Obwohl die sozialen und politi-schen
Bedingungen für eine abgestimmte
Strategie des Kampfes für eine solche Re-gierung
von Land zu Land sehr unter-schiedlich
sind, richtete sich im Sommer
2012 in ganz Europa alles Augenmerk auf
die Aussichten von Syriza (dem Bündnis
der Radikalen Linken), die Wahlen zu ge-winnen
und damit das Rückgrat für eine
solche Regierung in Griechenland zu bil-den.
Seit dieser Zeit führt Syriza eine Kam-pagne
mit den grundlegenden Themen,
die wir in diesem Manifest entwickeln:
Eine Regierung der linken Kräfte ist ein
Bündnis für die Aufkündigung der Me-moranda
der Troika und die Umstruku-rierung
der Schulden, so dass Löhne,
Renten, Öffentliche Gesundheitsversor-gung,
Bildung und Sozialversicherung
geschützt werden könnten.
Für eine Strategie des unilateralen
Bruchs und Ausbau
Die fortschrittlichen Lösungen stehen im
Gegensatz zu dem neoliberalen Projekt
verallgemeinerten Wettbewerbs. Sie sind
von Grund auf kooperativ angelegt und
funktionieren umso besser, auf je mehr
Länder sie ausgedehnt werden. Wenn
beispielsweise alle europäischen Länder
die Arbeitszeit reduzieren und eine ein-heitliche
Kapitalertragssteuer erheben
würden, könnte eine solche Koordinie-rung
den Gegenschlag vermeiden, den
genau diese Politik erleiden würde, wenn
sie in einem einzigen Land umgesetzt
würde.
Um diesen kooperativen Weg einzu-schlagen,
muss eine Regierung der lin-ken
Kräfte eine unilaterale Strategie ver-folgen:
– Die »geeigneten Maßnahmen« werden
unilateral getroffen, wie beispielswei-se
die Ablehnung der Austeritätspoli-tik
oder die Besteuerung von Finanz-transaktionen.
– Sie müssten einhergehen mit Schutz-maßnahmen
wie beispielsweise die
Kontrolle der Kapitalmärkte.
– Die Durchführung einer Politik, die auf
nationaler Ebene nicht im Einklang mit
den europäischen Bestimmungen
steht, stellt ein politisches Risiko dar,
das zu beachten ist.
Die Antwort dazu besteht in einer Logik
der Erweiterung, damit solche Maßnah-men
wie beispielsweise fiskalpolitische
Impulse oder die Finanztransaktions-steuer
von anderen Mitgliedstaaten an-genommen
werden.
Die politische Konfrontation mit der EU
und den herrschenden Klassen anderer
Staaten, insbesondere der deutschen Re-gierung,
kann jedoch nicht vermieden wer-den,
und die Drohung eines Verlassens des
Euroraums darf nicht a priori von mögli-chen
Optionen ausgeschlossen werden.
Das Manifest entstand auf Initiati-ve
von Michel Husson, Ökonom am
Institut de recherches économiques
et sociales (IRES) in Paris und Mit-glied
des Wissenschaftlichen Bei-rats
von Attac. Die weiteren Auto-ren:
Daniel Albarracín, Nacho
Álvarez, Bibiana Medialdea (Spa-nien),
Francisco Louçã, Mariana
Mortagua (Portugal), Stavros
Tombazos (Zypern) Giorgos Gala-nis,
Özlem Onaran (Großbritanni-en).
Die AutorInnen sind als linke
WissenschaftlerInnen aktiv in un-terschiedlichen
europäischen Be-wegungen
und Parteien der Lin-ken.
Eine Langfassung des Mani-fests
gibt es unter:
http://gesd.free.fr/euromani.htm
11. europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 11
Dieses strategische Schema erkennt
an, dass die Neugründung Europas nicht
eine Vorbedingung für die Umsetzung ei-ner
alternativen Politik sein darf. Die
möglichen Vergeltungsmaßnahmen ge-gen
eine linke Regierung müssen von Ge-genmaßnahmen
neutralisiert werden,
die in der Tat einen Rückgriff auf pro-tektionistische
Systeme implizieren.
Doch diese Orientierung ist nicht im üb-lichen
Sinne des Wortes protektionis-tisch,
denn sie schützt einen sozialen
Transformationsprozess, den die Bevöl-kerung
mit trägt, und nicht die Interes-sen
des nationalen Kapitals, das sich im
Wettbewerb mit anderen Kapitalinte-ressen
befindet.
Es handelt sich also um einen »Erwei-terungsprotektionismus
«, der obsolet
wird, sobald die sozialen Maßnahmen für
Arbeitsplätze und gegen die Austeritäts-politik
sich quer durch Europa durchge-setzt
haben.
Der Bruch mit den Bestimmungen der
Europäischen Union ist keine Prinzipi-enfrage,
sondern stützt sich auf der Le-gitimität
von gerechten und effizienten
Maßnahmen, die den Interessen der
Mehrheit entsprechen und ebenso den
Nachbarländern vorgeschlagen werden.
Diese strategische Orientierung kann
durch die soziale Mobilisierung in den
anderen Ländern verstärkt werden und
sich schließlich auf ein Kräfteverhältnis
stützen, das in der Lage ist, die Institu-tionen
der EU in Frage zu stellen. Die
jüngste Erfahrung mit den neoliberalen
Rettungsschirmen der EZB und der Eu-ropäischen
Kommission zeigt, dass es ab-solut
möglich ist, eine Reihe von Be-stimmungen
der EU-Verträge zu umge-hen,
und dass die europäischen Behör-den
nicht gezögert haben, dies auf Ge-deih
und Verderb zu tun. Daher fordern
wir das Recht auf Maßnahmen, die in die
richtige Richtung gehen, inklusive der
Einrichtung einer Kapitalverkehrskont-rolle
und jeglichen Systems, das geeig-net
ist, um Löhne und Renten zu si-chern.
In diesem Rahmen wäre das Ver-lassen
des Euroraums eine Drohung oder
ein allerletzter Ausweg.
Diese Strategie stützt sich auf die Le-gitimität
der fortschrittlichen Lösungen,
die aus ihrem Klassencharakter er-wächst.
Es handelt sich hier also um ei-ne
auf Kooperation bauende Strategie
des Bruchs mit dem aktuellen Rahmen
der EU, dies im Namen eines anderen
Entwicklungsmodells, das auf einer
neuen Architektur für Europa beruht: ein
erweiterter europäischer Haushalt auf
der Grundlage einer gemeinsamen Ka-pitalsteuer,
der Harmonisierungsfonds
und sozial und ökologisch sinnvolle In-vestitionen
finanziert. Eine an den In-teressen
der Bevölkerungsmehrheiten
orientierte Strategie einer linken Re-gierung
muss für diesen demokrati-schen
Kampf alles tun, was erforderlich
ist.
12. 12 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg
Ein mediterraner Block?
Südeuropa sucht einen Ausweg
Von Armando Fernández Steinko
Spanien gehört neben Portugal, Grie-chenland,
Italien und Irland zu den von
der Finanzkrise am stärksten betroffenen
Ländern, den sogenannten PIIGS. Ihre
politischen, wirtschaftlichen und Sozial-systeme
sind einem Strukturwandel un-terworfen,
dessen Ergebnis noch nicht
absehbar ist. Während Irland als Son-derfall
gelten kann, besitzen die anderen
vier Länder viele Gemeinsamkeiten und
haben ähnliche historische Entwicklun-gen
durchlaufen. Nichtsdestotrotz gelten
für Italien einige Besonderheiten: Das
Land verfügt als Gründungsmitglied der
Europäischen Gemeinschaft (EG) über ei-ne
größere Verhandlungsmacht als die
anderen südeuropäischen Staaten. Seine
wirtschaftliche, politische und institutio-nelle
Modernisierung fand über drei
Jahrzehnte innerhalb eines regulierten
Kapitalismus statt und war über zwei Ge-nerationen
in politische und Sozialpakte
eingebettet. Dieser Sozialpakt beinhalte-te
ein System politischer Freiheiten und
individueller Rechte, ein (minimales)
Gleichgewicht der Interessen von Kapital
und Arbeit und die Umleitung von einem
Teil der Produktivitätszuwächse in die
Ausdehnung des Binnenmarktes und die
Erhöhung des Konsumniveaus der Be-völkerung.
Der Pakt beruhte des
Weiteren auf einer Anglei-chung
der Lebensbedin-gungen
innerhalb Itali-ens
durch öffentliche
Infrastrukturinvestiti-onen
(steuerfinan-zierte
Verkehrswege,
Gesundheits- und Bil-dungseinrichtungen
usw.) sowie auf der
Schaffung von Indust-rien
und Dienstleistungs-sektoren,
die in der Lage
waren, die durch die schritt-weise
und regulierte Auflösung der
traditionellen Sektoren freigesetzten Ar-beitskräfte
zu absorbieren. Von dieser Po-litik
hat v.a. die Landbevölkerung profi-tiert,
die im Rahmen der europäischen
Agrarpolitik in den Genuss dauerhafter
Ressourcentransfers kam, was eine »An-passung
des Lebensniveaus« ermöglichte
(vgl. Art. 39.1.b des Vertrags von Rom).
Die schrittweise Öffnung gegenüber den
Weltmärkten ermöglichte das Entstehen
eines dynamischen und innovativen Ex-portsektors,
der sich dank der chronisch
unterbewerteten Lira und einer auch von
anderen Gründungsmitgliedern der Ge-meinschaft
(wie Frankreich und Deutsch-land)
verfolgten Handelspolitik in den
Jahrzehnten des ›regulierten Kapitalis-mus‹
weiter entfalten konnte. Diese Ex-portkapazität
sorgte dafür, dass die Zah-lungsbilanz
Italiens über viele Jahrzehn-te
und selbst nach der Krise 2008 ausge-glichen
blieb. Und das obwohl die öf-fentlichen
Schulden in Italien heute bei
160 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
liegen.
Die kapitalistische Modernisierung in
Portugal, Griechenland und Spanien (von
nun an PGS) nahm andere Bahnen. Die
drei Länder durchliefen einen Prozess des
nachholenden Fordismus und kamen
nicht in den Genuss jener Pakte, die den
Kapitalismus nach 1945 einhegten. Als sie
der EG beitraten (Griechenland 1981,
Portugal und Spanien 1986), verloren
diese Pakte selbst in den Gründungs-staaten
an Bedeutung, und mit den Ver-trägen
von Maastricht beschleunigte sich
die Kehrtwende auf dem ganzen Konti-nent.
Der verspätete Zugang zu einem
eingehegten Kapitalismus, d.h. zu einem
Zeitpunkt, als die Regulation in der ge-samten
westlichen Welt aufgekündigt
wurde, trieb die für den EG-Beitritt zu
zahlenden gesellschaftlichen und öko-nomischen
Kosten in die Höhe.
In Richtung eines mediterranen
Blocks?
Wegen dieser historischen Entwicklung
befinden sich die PGS in der aktuellen po-litischen
und wirtschaftlichen Konjunk-tur
in einer ähnlichen Situation. Der Ver-fall
ihrer Sozialsysteme könnte im Prin-zip
dazu führen, dass sich neue, der Aus-teritätspolitik
entgegen gesetzte Mehr-heiten
bilden. Es ist allerdings ausge-sprochen
unwahrscheinlich, dass sich
die drei Länder dieser Politik
einzeln mit Erfolg wider-setzen
können. Daraus
leitet sich die Notwen-digkeit
ab, einen ge-meinsamen
Block zu
bilden. Dieser Block
könnte das notwen-dige
politische und
wirtschaftliche Ge-wicht
erlangen, um ei-ne
Abkehr von der Aus-teritätspolitik
zu erzwin-gen,
die Zahlung der Schul-den
an das Wirtschaftswachs-tum
zu koppeln und öffentliche In-vestitionsprogramme
zur Schaffung von
Beschäftigung im Rahmen einer sozialen
und ökologischen Konversion in Gang zu
setzen. Für den Fall, dass es nicht zu ei-nem
Abkommen mit den großen Export-nationen
kommt und die Austeritätspo-litik
weiter fortgesetzt wird, hätte nur ein
Block der Staaten im Süden eine realis-tische
Aussicht, außerhalb der heutigen
EU zu bestehen. Genauer gesagt: ein eu-ropäisch-
mediterraner Block.
1 Er würde seine Mitgliedsländer auf-grund
des Volumens seiner Auslands-schulden
in eine viel bessere Ver-handlungsposition
bringen. Die Dro-hung
eines Zahlungsstopps könnte das
europäische und globale Finanzsystem
an den Rand des Abgrunds bringen.
Dieses Szenario würde hohe Kosten für
die PGS implizieren, wäre jedoch für
die Gläubiger der zentralen Staaten
noch gefährlicher, weshalb diese ein
derartiges Risiko vermutlich vermei-den
würden.
2 Die vereinten PGS hätten mehr Kraft,
eine internationale Gläubigerkonfe-renz
zu erzwingen, wie es sie 1953 in
London gab. Damals wurden in einem
multilateralen Abkommen die Zah-lungen
der von Deutschland seit dem
Ersten Weltkrieg gegenüber den USA,
Großbritannien und Frankreich ange-häuften
Auslandsschulden an das
Wirtschaftswachstum und die Ent-wicklung
der Produktivkräfte in der
Bundesrepublik gekoppelt. Dieses Zu-geständnis
war keinem plötzlichen
Ausbruch von Menschlichkeit bei den
Westmächten geschuldet, sondern
hatte damit zu tun, dass West-
Deutschland nach 1945 aufgrund der
neuen Militärstrategie gegenüber dem
sozialistischen Lager eine zentrale Be-deutung
erlangt hatte. Das deutsche
Argument lautete, dass es seinen mi-litärischen
Verpflichtungen ohne eine
Neuverhandlung der Schulden nicht
würde nachkommen können und dass
eine wirtschaftlich schwache, am Bo-den
liegende Bundesrepublik das
Image des Kapitalismus zum Schaden
des gesamten westlichen Lagers in
Mitleidenschaft ziehen könnte. Das
deutsche »Wirtschaftswunder« wäre
ohne diese Konferenz unmöglich ge-wesen,
bei der die BRD Auslands-schulden
in Höhe von etwa 14,6 Mil-liarden
Mark erlassen bekam. Die PGS
werden heute einzeln niemals die nö-tige
Kraft entfalten, um wie die Bun-desrepublik
Deutschland nach dem
Krieg eine derartige Konferenz durch-zusetzen.
Da sie jedoch für das atlan-tische
Bündnis zentrale geostrategi-sche
Positionen innehaben, könnte ihr
Zusammenschluss eine ähnliche Wir-kung
besitzen wie die Existenz der so-zialistischen
Staaten in den 1950er
Jahren.
3 Deutschland, die neue europäische
Hegemonialmacht, ist dazu ver-dammt,
sein Währungssystem weiter-hin
an die schwächsten Ökonomien des
Südens zu binden, um den Euro zu-gunsten
der eigenen Exporte abzu-werten,
die Rückzahlung der Kredite
zu garantieren und eine aufgrund des
Ansteckungseffekts drohende Implo-sion
der Euro-Zone zu verhindern:
Deutschland benötigt die PGS. Wenn
diese sich zusammenschlössen und ei-ne
gemeinsame Strategie entwickel-ten,
könnten sie mit der Schaffung ei-ner
eigenen Währung drohen: dem Eu-rosur.
Dieser Schritt hätte positive und
negative Auswirkungen, die gründlich
einzuschätzen wären. Auf jeden Fall
wären nachteilige Effekte im Block
leichter zu bewältigen als getrennt. Ein
solcher Bruch würde in jedem Fall da-zu
führen, dass die heute von Deutsch-land
verfolgte Exportstrategie wegen
der schnellen Aufwertung eines hypo-thetischen
Euronorte an ihr Ende kä-me.
Dies würde in Deutschland den ge-sellschaftlichen
Konsens, wie er von
Teilen der Gewerkschaftsbewegung,
der Sozialdemokratie und den Grünen
mitgetragen wird, zum Zerbrechen
bringen. Es ist wahrscheinlich, dass die
In Portugal,
Spanien und
Griechenland könnten
sich neue Mehrheiten
gegen die
Austeritätspolitik
bilden.
Armando Fernández Steinko lehrt
– von links und kritisch – Soziolo-gie
an der Universidad Complu-tense
in Madrid, Spanien. Er ar-beitet
in der Fundación de Investi-gaciones
Marxistas mit, der Part-nerorganisation
von Transform!
und der RLS, und ist Mitglied der
Izquierda Unida. Sein Blog heißt
Piensa y Actúa.
Foto: privat
Übersetzung: Raul Zelik
13. europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 13
deutschen Eliten zur Vermeidung ei-nes
solchen Szenarios die nötigen Res-sourcen,
wenn auch keinen Euro mehr,
zur Verfügung stellen würden.
4 Nichtsdestotrotz wäre es ein Irrtum zu
glauben, dass diese Situation – so sehr
der Norden den Süden auch benötigt –
den Süden ökonomisch besser stellen
würde. Tatsächlich droht der Süden in
eine sozial unerträgliche Lage abzu-rutschen.
In der aktuellen Lage ist es
zumindest ausgesprochen unwahr-scheinlich,
dass Deutschland oder an-dere
Exportnationen Ressourcen zur
Verfügung stellen würden, damit die
PGS eine eigenständige produktive Ba-sis
entwickeln könnten, um den politi-schen
und sozialen Konsens ihrer jun-gen
Demokratien nachhaltig zu finan-zieren.
Die einzige Hoffnung bestünde
darin, die Kräfteverhältnisse in Europa
zu verschieben. Für eine solidarische
Politik müssten dann eine neue euro-päische
Arbeitsteilung definiert, geld-politische
Mittel für eine schrittweise
Annäherung der Produktivität festge-legt
und die heute die Wirtschaftsbe-ziehungen
zwischen den europäischen
Staaten regulierenden Grundregeln ei-ner
Prüfung unterzogen werden. Es ist
jedoch unwahrscheinlich, dass es dazu
kommt, ohne dass die wichtigsten
Nutznießer eines solchen Politikwech-sels
– die PGS – die dafür notwendige
Verhandlungsmacht erlangen.
5 Nur wenn einige Grundpfeiler dessen,
was wir als »atlantisches Projekt« (sie-he
unten) bezeichnen, in Frage ge-stellt
werden, besteht die Möglichkeit
eines alternativen Produktionsmo-dells.
In den PGS, nicht aber im Rest
der EU-Staaten, verlieren die Parteien
des atlantischen Konsenses zurzeit
massiv an Unterstützung. Diese Pa-rallelität
der Entwicklung im Süden er-möglicht
ein gemeinsames politisches
Handeln. Die nach den Wahlen im
Februar 2013 in Italien geschaffene Si-tuation
deutet ebenfalls in diese Rich-tung.
6 Abgesehen von der strategischen Be-deutung
des Mittelmeerraums können
die PGS ihre privilegierten Beziehun-gen
nach Lateinamerika (Portugal und
Spanien) und zur arabischen Welt und
Russland (Griechenland) als Faust-pfand
einsetzen. Auch dies kann aber
nur in Absprache untereinander ge-lingen.
Das Problem der Asymmetrie
Die Eliten Portugals, Spaniens und Grie-chenlands
waren in den vergangenen 30
Jahren dem atlantischen Projekt ver-pflichtet.
Seit dem Ausbruch der Krise
2008 – und schon zuvor – haben sie im-mer
wieder den Beweis erbracht, dass sie
den Interessen einer Minderheit Vorrang
einräumen, und damit den Konsens der
demokratischen Transition faktisch auf-gekündigt.
Ihre Politik zielt nicht darauf,
die Gesellschaften gegenüber den gro-ßen
europäischen Exporteuren und den
Vermögensbourgeoisien des Planeten zu
schützen, sondern die Interessen des Ka-pitals
noch rücksichtsloser als bisher
durchzusetzen – und zwar sowohl nach
innen (Umwidmung öffentlicher Mittel
zur Sanierung von Banken ohne politi-sche
Gegenleistung, deflationäre Politik
bei Preisen und Löhnen, »interne Ab-wertung
« usw.) als auch nach außen (Er-höhung
der Handelsaggressivität, Be-günstigung
multinationaler Unterneh-men,
latente Währungskriege usw.). Ihr
erklärtes Ziel ist es, diese Politik anderen
Staaten, die dadurch noch verwundbarer
sind als man selbst, aufzuzwingen. Die
deutsche Politik der vergangenen 15 Jah-re
wird reproduziert: auf Kosten des
Nachbarn Arbeitsplätze schaffen und die
politische Legitimität der eigenen Regie-rung
stärken. Diese Dynamik bringt die
beiden angreifbarsten Ökonomien des
Südens (Portugal und Griechenland mit
ihren 22 Millionen Einwohnern) in eine
besonders komplizierte Lage und er-schwert
die Aussicht, dass das größere
Spanien (mit seinen 47 Millionen Ein-wohnern)
Teil eines Solidarblocks im Sü-den
werden könnte. Spanien ist in vielen
Bereichen ein direkter Konkurrent beider
Länder und verfügt über ein größeres
wirtschaftliches Potenzial als diese, was
die Hoffnung weckt, das deutsche Mo-dell
auf Kosten kleinerer und schwäche-rer
Länder wie Portugal und Griechen-land
umsetzen zu können (der Fall Itali-en
ist dem Spaniens in dieser Hinsicht
ähnlich). Aber Spanien fehlen einige Vo-raussetzungen,
um den deutschen Weg
kopieren zu können:
1 Es verfügt über wenig Zeit. Die Ar-beitslosigkeit
könnte in wenigen Mo-naten
über 27 Prozent steigen, und es
wird, nicht zuletzt wegen der Korrup-tionsskandale
der konservativen Re-gierungspartei,
über den Ausbruch un-kontrollierbarer
sozialer Unruhen spe-kuliert.
2 Mehrere lateinamerikanische Regie-rungen
verteidigen heute die Interes-sen
ihrer Bevölkerungen und haben
den aggressiven Strategien spanischer
Multis in Lateinamerika deshalb Gren-zen
gesetzt. Dies führt zu einer Ver-ringerung
der Gewinntransfers durch
die auf dem Kontinent tätigen spani-schen
Multis an ihre Firmenzentralen
sowie zu einem Verfall ihrer Börsen-notierungen.
3 Die Erschließung alternativer Märkte
in Indien, China oder den Golfstaaten
hat zu einer Erholung der spanischen
Leistungsbilanz geführt. Diese Erho-lung
ist jedoch weniger einer gestie-genen
Wettbewerbsfähigkeit als dem
Zusammenbruch der Binnennachfrage
AKTUELLE PUBLIKATIONEN
LUXEMBURG 3/4 2013
Gesellschaftsanalyse
und linke Praxis
Die Kampfzone ausweiten
Mit Beiträgen von Rodrigo Nunes |
Corinna Trogisch | Lena Ziyal | Assef
Bayat | Sarah Bormann | Andrew
Herod | Göran Therborn | Nicole
Mayer-Ahuja | Michael Vester u. a.
www.zeitschrift-luxemburg.de
WELT
LINKE STRATEGIEN
IN DER EUROKRISE
Eine Übersicht einschließlich
einer kommentierten Synopse
der europapolitischen Positio-nen
der Partei DIE LINKE
Analyse von Mario Candeias,
ISSN 2194-2951
Download unter:
www.rosalux.de/publication/39479
LINKE PARTEIEN
IN EUROPA
Ein Vergleich der europa-politischen
Positionen vor
den Europawahlen 2014
Studie von Thilo Janssen,
ISSN 2194-2242
Download unter:
www.rosalux.de/publication/39751
BESTELLUNG
VON ANALYSEN
UND STUDIEN
TEL. 030 44310-123,
BESTELLUNG@
ROSALUX.DE
DIE EUROPAPOLITIK DES
DEUTSCHEN MACHTBLOCKS
UND IHRE WIDERSPRÜCHE
Eine Untersuchung der Positionen
deutscher Wirtschaftsverbände
zur Eurokrise
Studie von Frederic Heine,
Thomas Sablowski, ISSN 2194-2242
Download unter:
www.rosalux.de/publication/39834
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14. 14 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg
geschuldet. So hat die Steigerung der
Exporte keine neue Beschäftigung ge-schaffen,
und es ist unwahrscheinlich,
dass den spanischen Unternehmen dies
in der Zukunft auf ähnliche Weise ge-lingen
könnte wie den deutschen Fir-men:
Das aggressiv exportorientierte
Modell hat seine Grenzen.
4 Die Sozial-, Umwelt- und stadtplane-rischen
Standards sind in Spanien be-reits
sehr niedrig, so dass deren Ab-senkung
– wie sie von der PP-Regie-rung
vorgeschlagen wird – kaum zu ei-nem
neuen, vom Immobiliensektor ge-tragenen
Wachstumszyklus führen
kann. Beschäftigungseffekte, wie sie
sich ab 1997 ergaben, sind daher eben-falls
unwahrscheinlich.
5 Die Krise verschärft auch das Problem
der innerstaatlichen Verfasstheit Spa-niens.
In mehreren reichen Regionen
wie Katalonien wächst die Unterstüt-zung
verarmter Mittelschichten für das
Selbstbestimmungsrecht. Dass die Re-gierungen
in Anbetracht einer derar-tigen
Situation die soziale Lage zur
Durchsetzung eines deutschen Mo-dells
weiter verschärfen können, ist
eher unwahrscheinlich. Der politische
Handlungsspielraum für unpopuläre
Maßnahmen ist begrenzt.
Vor diesem Hintergrund gibt es Argu-mente
dafür, dass Spanien als bevölke-rungs-
und ressourcenreichstes der drei
Länder ebenfalls ein strategisches Inte-resse
an einem mediterranen Block ha-ben
könnte, um einen Politikwechsel in
Brüssel bzw. Berlin zu erzwingen. Wenn
dieser Block zustande käme, könnte auch
die öffentliche Meinung in Italien zu-gunsten
eines Eurosur kippen (Italien ist
eine Exportnation, deren Konkurrenzfä-higkeit
durch eine Abwertung der Wäh-rung
unmittelbar steigen würde). Die vor
allem von Frankreich wahrgenommene
Gefahr, dass diese Situation zu einem Al-leingang
Deutschlands in Europa führen
würde, ist hingegen kalkulierbar. Ein
deutscher Alleingang, der zu einer Auf-kündigung
der europäischen Charta und
zu einer ausschließlichen Orientierung
an den Märkten der Schwellenländer
führen würde, ist im Land selbst kaum
konsensfähig: Die deutsche Vergangen-heit
wiegt zu schwer und die Ungewiss-heiten
eines solchen Abenteuers sind zu
groß.
Damit dieser Vorschlag nicht bloßer
Voluntarismus bleibt, müsste man zei-gen,
dass die drei Länder im Süden ähn-liche
Entwicklungen hinter sich haben
und mit gemeinsamen Problemen kon-frontiert
sind, die sich im Block besser
oder realistischer bewältigen ließen. Die
zentrale Frage lautet in diesem Sinne
nicht, ob man aus dem Euro austreten soll
oder was mit den Schulden geschieht. Die
Angelegenheit ist grundlegender – was
den Währungs- und Finanzproblemen al-lerdings
nichts von ihrer Dramatik nimmt.
Es wird darum gehen, wie, mit was und
mit wem eine Beschäftigungs- und Wirt-schaftsstruktur
geschaffen werden kann,
die eine gerechte, demokratische und
nachhaltige soziale und politische Ord-nung
dauerhaft finanzieren könnte. Da-für
gilt es gemeinsame Praxen zu entwi-ckeln.
Ein mediterraner Block?
Südeuropa sucht einen Ausweg
Von Armando Fernández Steinko
15. europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 15
Liste Tsipras.
Um die Zersplitterung zu überwinden
Von Fabio Amato
Die italienische Linke ist scheinbar hoff-nungslos
zersplittert und als parlamen-tarische
Linke seit dem letzten Jahren
praktisch verschwunden – mit Ausnahme
der Sinistra ecologia e libertà (SEL, die
Linke für Ökologie und Freiheit), die als
Koalitionspartner der Mitte-Links-Regie-rung
für die neoliberalen Kürzungspoli-tiken
im Zuge der Krise mitverantwort-lich
gemacht wird. Hoffnung macht nun
der Versuch, die nationalen Probleme ei-ner
Fragmentierung der Linken mit einer
ausdrücklich europäischen Perspektive zu
überwinden: der Aufstellung einer »Liste
Tsipras« gegen die Austritt bei den an-stehenden
Wahlen zum Europäischen
Parlament.
Krise und Antipolitik
Was ist der Hintergrund? Sieben Jahre
wirtschaftlicher Rezession, eine Ver-dopplung
der Arbeitslosigkeit auf jetzt of-fiziell
13 Prozent (aber in Wirklichkeit viel
höher), die Jugendarbeitslosigkeit über 40
Prozent, das Prekariat immer prekärer, die
Reichen immer reicher und eine soziale
Ungleichheit wie nur in wenigen anderen
Teilen Europas – dies ist das Ergebnis der
Umsetzung eines Programms von sozia-len
Anti-Reformen in Italien, die den oh-nehin
schon fragilen Sozialstaat zusätz-lich
geschwächt haben, mit Kürzungen im
Rentensystem, im Gesundheitswesen, im
Bildungswesen und in den Kommunen.
Maßnahmen, die parteiübergreifend vom
sozialdemokratischen Partito Democrati-co
(PD) und Berlusconis Mitte-Rechts-
Bündnis verabschiedet wurden.
Vorhersehbar war: diese Anti-Refor-men
haben die hohe Staatsverschuldung
des Landes nicht gesenkt, sondern im Ge-genteil
auf einen Wert von 132 Prozent
des BIP angewachsen lassen. Seit Jahren
macht die Bedienung der Zinsen den
größten Posten des Staatshaushalts aus.
Sein Anwachsen ist die Konsequenz der
Zinsentwicklung, der Schrumpfung des
BIP und des ausbleibenden Wachstums.
Und doch gibt es in der öffentlichen De-batte
kaum Auseinandersetzung darüber,
wie einer Alternative zu den Kürzungs-politiken
und zum neoliberalen Modell
aussehen könnte, welche Positionen zur
Funktion und Rolle der EU, zur Einheits-währung
oder zur Verschuldung sinnvoll
wären. Die Diskussion dreht sich nach wie
vor um die Person Berlusconi, der inzwi-schen
in letzter Instanz verurteil wurde,
und um die Reform des Wahlgesetzes. Die
dominierenden Kräfte, die sich in den
Talkshows beschimpfen, segnen im poli-tischen
Alltag gemeinsam die Umsetzung
der Vorgaben der EZB und die Durchset-zung
der Kürzungspolitik ab. Gemeinsam
stimmten sie für die Aufnahme der Schul-denbremse
in die Verfassung und für den
berüchtigten Fiskalpakt, der Italien und
die anderen Länder Südeuropas zu im-mer
neuen Einschnitten verurteilt, deren
einziger Effekt es ist, die Krisenlasten auf
den Sozialsektor abzuwälzen, die Ar-beitslosigkeit
anschwellen, die schwache
Binnennachfrage weiter schrumpfen zu
lassen und weitere Jahre wirtschaftlichen
Abschwungs zu begünstigen. Gerade in
diesen Tagen beschließt die Regierung
weitere Privatisierungen, wie die der Post.
Vor diesem Hintergrund ist es kein Zu-fall,
dass Pepe Grillos Populismus seinen
Masseneinfluss behauptet. Seine Reden
gegen die politische Kaste fallen ange-sichts
ihres politischen Spektakels auf
fruchtbaren Boden. Eine Mehrheit der
ItalienerInnen glaubt, dass man durch die
Reduzierung der Politikergehälter und
der öffentlichen Parteienfinanzierung
(vor wenigen Monaten als Ergebnis einer
Initiative Grillos abgesenkt), sei das
Hauptübel der Krise. Die sich verbrei-tende
Antipolitik von Berlusconi bis Gril-lo
zerstört die demokratische Kultur. Die
Entwicklung geht in Richtung fragwür-diger
Mehrheitswahlgesetze, zu Parteien,
die immer mehr ihren Charakter als po-litische
Organisationen verlieren und von
charismatischen Führungspersönlichkei-ten
abhängig werden, dem Auf und Ab
der öffentlichen Meinung und deren Aus-wirkungen
auf die Umfragewerte hinter-her
heischend. Italien hat sich am stärks-ten
der US-amerikanischen Mediende-mokratie
angenähert. In dieses Bild muss
auch der Bedeutungsverlust anderer ge-sellschaftlicher
Organisationen einge-ordnet
werden, des kritischen Journalis-mus
wie der Gewerkschaften. Anders als
in Griechenland, Spanien oder Portugal
vermochten es die Gewerkschaften Itali-ens
nicht auf die Krise mit einer starken
Reaktion zu antworten. Es bleibt bei spo-radischen
Wutausbrüchen der Bevölke-rung,
denen aber eine organisatorische
und politische Perspektive fehlt. Ursäch-lich
ist auch das Ausscheiden der linken
Alternative aus dem Parlament, der ein-zigen
Kraft, die versuchte die soziale Fra-ge
in den Mittelpunkt ihrer politischen
Agenda zu stellen. Dieser kurze Über-blick
über die politische Situation soll
verständlich machen, vor welchem Hin-tergrund
die inner-linken Debatten im
Vorfeld der Europawahlen geführt wer-den.
Eine Debatte, die mit der Nominie-rung
von Alexis Tsipras zum Spitzen-kandidat
der Europäischen Linken (für
das Amt des Präsidenten der Europäi-schen
Kommission) neu belebt wird.
Gegen die Zersplitterung
Eine Reihe von Intellektuellen verschie-dener
Schattierungen, der marxistischen
wie der liberalen Linken, haben einen Auf-ruf
zur Bildung eines Wahlbündnisses zur
Unterstützung dieser Kandidatur verfasst.
Im Namen einer Verteidigung der euro-päischen
Idee, einer Kritik an den neoli-beralen
Kürzungspolitiken und dem Fi-nanzpakt.
Unter ihnen finden sich be-rühmte
Intellektuelle und Künstler wie
Barbara Spinelli und Andrea Camilleri. Ein
positives Zeichen, auch wenn der Aufruf
selbst die vorherrschende antipolitischen
Kultur zu bedienen droht, indem er nur
Wissenschaftler, Philosophen, Künstler
und allgemein an die Zivilgesellschaft an-ruft,
sich von den Parteien – auch der Eu-ropäischen
Linkspartei EL – abgrenzt und
jeden Bezug auf die sozialen Opfer der Kri-se
vermissen lässt. Dennoch öffnet das
Signal der Nominierung von Tsipras durch
die EL Möglichkeiten für eine Überwin-dung
der Spaltungen innerhalb der par-teiförmigen
Linken wie zwischen Intel-lektuellen,
Zivilgesellschaft und Links-parteien.
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Soeben
erschienen
Zu den ganz unterschiedlichen Gründen für die verstärkte Migration
aus Süd- und Osteuropa und über die inakzeptablen Arbeits- und
Lebensbedingungen der MigrantInnen, die Funktion von Migration für
den EU-Binnenmarkt und ihre Auswirkungen.
229 Seiten | € 14,90
Hartmut Tölle /
Patrick Schreiner (Hg.)
Migration und Arbeit in Europa
Andreas Wehr
Der europäische Traum und die Wirklichkeit
Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen
»Europa« als machtpolitische Antwort auf den als bedrohlich empfun-denen
Aufstieg der Schwellenländer – dies ist die Botschaft namhafter
Intellektueller. Dabei werden über die Aushöhlung nationalstaatlicher
Souveränität soziale und demokratische Rechte leichtfertig zur Dis-position
155 Seiten | € 12,90
gestellt.
Tel.: (02 21) 44 85 45 | www.papyrossa.de | mail@papyrossa.de
Fabio Armato ist Mitglied des
Nationalen Sekretariats
der Rifondazione Comunista.
Foto: privat
Übersetzung: Bodo Acker
16. 16 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg
Die Rifondazione Comunista hat sich
sofort zur Bildung eines breitmöglichsten
Wahlbündnisses und einer Sammlungs-bewegung
bereit erklärt, auf der Basis des
Programms der EL und der Unterstützung
der Kandidatur von Alexis Tsipras. Es
kommt jetzt darauf an, alle Hindernisse
und Fallstricke aus den Weg zu räumen
und in einem demokratischen Prozess,
ausgehend von der Basis und der Veran-kerung
in der Bevölkerung, alle jene Kräf-te
einzubeziehen, die die politischen Ziele
einer Linken Liste gegen die Austerität
mitzutragen bereit sind, seien es nun or-ganisierte
Kräfte oder Einzelpersonen, Be-wegungen
oder Initiativen – im gegen-seitigen
Respekt. Der Name Tsipras sym-bolisiert
bereits eine Haltung. Nun geht es
darum, der Liste eine klare und bestimm-te
Ausrichtung und Inhalte zu verleihen:
Antineoliberal, im Kampf gegen die neo-liberalen
Kürzungspolitiken, in der Kritik
an den undemokratischen und autoritär-technokratischen
Machtmechanismen in
der EU, an ihren neoliberalen Funda-menten,
kapitalismuskritische.
Sinistra ecologia e
libertà, wichtiger po-tenzieller
Partner eines
solchen Wahlbündnis-ses,
ist dabei in einer
Im »Geist
der Abspaltung«
(Antonio Gramsci)
für ein anderes,
sozial-ökologisches
schwierigen Situation. Die
Partei hatte sich vor einiger Zeit
für eine strategische Allianz mit der
sozialdemokratischen Partito Democra-tico
und der Einbeziehung in deren Mit-te-
Links-Bündnis entschieden. Sie hat of-fiziell
das Aufnahmeverfahren eingelei-tet,
um Mitglied der Sozialdemokrati-schen
Partei Europas (SPE) zu werden.
Sie muss sich nun aber ihrer Basis stel-len,
die den Schritt, Martin Schultz als
Spitzenkandidat zu unterstützen, nicht
gut heißt. Und dies vor dem Hintergrund
schmerzhaft sinkender Umfragewerte.
Die SEL betreibt das Spiel der Ambiva-lenz
und möchte den Raum zwischen
Schultz und Tsipras besetzen. Konkret
heißt das: im EU-Parlament stimmen sie
für Tsipras, treten aber in die europäi-sche
Sozialdemokratie ein und behalten
ihre Beziehungen zum Partito Democra-tico
in Italien bei. Es
existiert jedoch kein
Raum zwischen Tsi-pras
und Schultz: ent-weder
entscheidet man
sich für den Kampf gegen die
Austerität und die sie ausfüh-renden
Großen Koalitionen, in Itali-en
wie in Deutschland und Europa, oder
eben nicht. Die dramatische Situation der
Krise erlaubt keine taktischen Manöver.
Die Wähler haben wenig Verständnis für
Politikerspielchen und nehmen diese als
unlautere List wahr. Es bleibt unklar, ob
ein breites Bündnis unter Beteiligung der
SEL zustande kommen wird.
Eine linke Anti-Austerity-Liste könnte
jedoch, wenn sie glaubhaft ist, eine eige-ne
Ausstrahlungskraft entwickeln und
Stimmen der Nichtwähler, von Grillo und
enttäuschten PD-Wählern zurückgewin-nen.
Aber dafür muss sie eine klare Al-ternative
vertreten, im »Geist der Ab-spaltung
«, wie Antonio Gramsci dies einst
nannte, für ein anderes, sozial-ökologi-sches
Europa.
Europa.
Liste Tsipras.
Um die Zersplitterung zu
überwinden
Von Fabio Amato