Medienforschung auf's Ohr - ein Podcast für den Nachwuchs der Medien- und Kom...
Die "Blauen Seiten" - explorative Studie zu GayRomeo
1. Die „blauen Seiten“ als Beförderer raum-
und identitätsbezogener Demarginalisierung
Eine explorative Analyse des Online-Portals GayRomeo
Nele Heise, M. A.
Berlin, 57. Jahrestagung der DGPuK, 17. Mai 2012
2. Agenda
1. Kontext Einführung
2. Komplex Theorie: sexbezogene Internetnutzung & Demarginalisierung
3. Konkret GayRomeo? | Forschungsfragen, Methode, Ergebnisse
4. Kompakt ein Fazit
5. Kompass limitations & zukünftige Forschungsfragen
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3. Kontext Einführung
These: Nutzung des Internet verändert Muster des sexuellen Handelns
bzw. sexual-bezogener, sozialer Kommunikation (vgl. Döring 2009 u.a.)
(1) mehr Kontrolle über Selbst-Repräsentation
(2) Sichere Umgebung zur Kontaktanbahnung und für Experimente aller Art
(3) Anonyme und private Kommunikationsmodi
(4) Suche nach Gleichgesinnten, zugleich Tools zur effektiven Organisation
des Liebes- und Sexuallebens („confidential matching“)
(5) Sexuelle Selbstdarstellung in persönlichen Medien (z.B. Blogs) und
sexuelle Selbsterkundungen in „online sexual encounters“
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4. Komplex Demarginalisierungspotenziale
Demarginalisierung
- Zugehörige einer (sexuellen) Minderheit erhalten eine Plattform,
um eigene Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren
- Internet ermöglicht es Minderheiten, „to become majorities in their
own virtual communities“ (Cooper et al. 2000 Diskursmacht)
- besondere Bedeutung für Menschen ohne räumliche Anbindung an
die „schwule Szene“ Teilhabe an der „gay community“
a) Reduzierung sozialer und ggf. räumlicher Isolation
b) Förderung sozialer Vernetzung
c) Entlastung von realweltlicher Diskriminierung
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5. Komplex „Raum-Gewinn“
„Als Segen erweist es [das Internet, NH] sich in solchen Gegenden, in denen es kaum oder
überhaupt keine schwule Infrastruktur gibt. Endgültig passé ist das Gefühl, als Homo
irgendwo hoffnungslos in der Provinz versauern zu müssen. Ein paar Mausklicks, und
schon kann man sich mit Gleichgesinnten aus der näheren Umgebung verabreden, von
denen man zuvor nichts wusste.“ (Krämer 2004)
„For those who are […] afraid to visit gay establishments or subscribe to gay publications,
gay online services bring the gay community into their homes, where they´re shielded
from their neighbors and coworkers.“ (Gross 2007: ixf.)
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6. Komplex „Raum-Gewinn“
Nutzung des Internet vernetzt homosexuelle User auf globaler Ebene
(“gay globalization”, Maes 2007)
GayRomeo als ein Knotenpunkt dieser Entwicklung und als
Beförderer einer “Revolution der homosexuellen Kontaktkultur”
in Deutschland: sehr wenig Forschung zu Online-Kommunikation
Homo-, Bi- und Transsexueller aus kommunikationswissenschaft-
licher Perspektive
trotz offenkundig hoher Relevanz für die “gay community” noch
keine systematische Analyse von GayRomeo
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7. Konkret GayRomeo?
online seit 2002 (Planetromeo B.V. ), seit 2006 in den Niederlanden
Zielgruppe: homo-, bi- und transsexuelle Nutzer
Dienste: Chat, E-Mail, individuelle Nutzer-Profile (persönliche
Informationen, Bilder etc.), Premium-Profile (keine Werbung,
pornografische Inhalte), Clubs, Guide, Escort-Service, Infothek, Planet
Romeo Foundation
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9. Konkret GayRomeo!
mehr als 1,3 Million Nutzer weltweit (auch in schwulenfeindlichen
Ländern), in Deutschland ca. 380.000 User
GfK 2010: führendes Netzwerk im Hinblick auf monatliche
Nutzungsdauer, “hidden champion” (Mey 2012)
“schwules Einwohnermeldeamt” und “must have”, zugleich
ambivalente Wahrnehmung und Diskurse (z.B. Bareback-Sex-
Dates, Fake-Profile)
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10. Konkret Forschungsfragen
1. Selbstdarstellung: Gibt es Unterschiede zwischen Nutzern aus
einer Stadt und ländlichen Gebieten?
2. Gibt es Anzeichen für positive Einflüsse von GayRomeo in Bezug
auf raum- und identitätsbezogene Demarginalisierung?
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11. Konkret Aufbau Methodik
Faktorengeleitete Beschreibung Standardisierte
der Features von Inhaltsanalyse von
GayRomeo (GR) Suchprofiltexten
unter Zuhilfenahme von Vergleich von
Modellen der sexbezogenen Stadt
Internetnutzung: &
Triple A+ ländlichen Gebieten
Triple C Thüringens
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12. Konkret Faktoren sexbezogener Netznutzung
Triple A+ Triple C
Affordability Communication
Anonymity Community
Accessibility Collaboration
+ Approximation
Cooper et al. 2000; Ross et al. 2005 Eichenberg/Döring 2006
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13. Konkret GayRomeo und die Triple A+ Engine
Affordability Registrierung und Nutzung der Grundfunktionen kostenfrei
Anonymity Keine Verifikation persönlicher Angaben, Zugang steuerbar
Accessibility Weltweiter Zugang (SSL), in über 10 Sprachen verfügbar
Raum für Experimente mit sexuellen Identitäten („Fake-
Accounts“), Initiierung von Cybersex, das Surfen auf dem
+ Approximation “Planeten GayRomeo” ermöglicht Einblicke in die Szene
und/oder subkulturelle Aspekte (i.S.v. Annäherung an das,
was “schwul sein” heißt)
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14. Konkret GayRomeo und die Triple C Engine
GR ist „Hybrid“ aus Kontaktportal und Social Community,
Communication Kombination verschiedener Kommunikationsmodi (privat,
gruppenbezogen)
Mitgliedschaft in „Clubs“ (lokal, überregional), Vernetzung,
Community Bereitstellung von Orientierungswissen (z.B. Infothek, Guide),
kollektive Identität (z.B. Sprach-Codes)
Organisation von Zusammenarbeit in „Clubs”, Nutzungs- und
Collaboration Health-Support durch autorisierte User, Campaigning (z.B.
Aufrufe zu Demonstrationen)
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15. Konkret GayRomeo-Feature „Clubs“
Nicht nur Sex-Clubs
auch politisch-,
sozial- oder kulturell-
orientierte Gruppen
(z.B. Sport, Parteien,
Interessengruppen)
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16. Konkret Standardisierte Inhaltsanalyse
vergleichende Analyse zweier Nutzer-Gruppen anhand bestimmter Merkmale
Gruppe Erfurt Gruppe Land
n = 367 n = 372
Alter Ø = 31,98 Alter Ø = 32,4
Zufallsstichprobe Vollerhebung
(männliche Bevölkerung ca. 100.000) (männliche Bevölkerung < 10.000)
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17. Konkret Anlage Inhaltsanalyse
Analyse öffentlich zugänglicher Suchprofile
Ortsbezug Nutzername
Headline
+ Sex-Bezug
Profilbild
+ Darstellung
Standort
+ Suchradius
Alter
Letzter Login
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18. Konkret Inhalte der Headlines
Gruppe Land (n = 372) Gruppe Erfurt (n = 367)
n % n %
Sexwunsch, Sexgesuch, Sexkontakt 94 20,50 75 17,90
Zitat, Sinnspruch, Motto 88 19,20 117 27,90
Suche nach Freunden bzw. Kontakten auf freundschaftlicher Basis 72 15,70 62 14,80
Selbstbeschreibung (Aussehen, Charakter etc.) 48 10,50 38 9,05
sexuelle Vorlieben, Fetisch 29 6,33 25 5,95
Begrüßung 27 5,90 7 1,67
Sonstiges 22 4,80 23 5,48
Kontaktanweisung 22 4,80 8 1,91
aktueller Status bzw. Zustand (Emotion, Aufenthalt etc.) 19 4,15 15 3,57
Beziehungssuche, Artikulation Beziehungswunsch 16 3,49 13 3,10
Coming Out, erste Erfahrungen (Bericht, Kontaktsuche) 8 1,75 6 1,43
offline, im "realen" Leben 8 1,75 25 5,95
kein Text (nur Zeichen) 5 1,09 6 1,43
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19. Konkret Ergebnisse Inhaltsanalyse
Hauptfunktionen der Headlines: Definition der gewünschten Kontakte und Selbst-
Darstellung
Profil-Bilder: über ein Drittel nutzt gar kein Bild (Land: 37,4%, Erfurt: 33,5%)
Raum-bezogene Variable: Örtlicher Bezug im Nutzernamen
Gruppe Land (n = 372) Gruppe Erfurt (n = 367)
Ortsbezug im Nutzernamen n % n %
nein 315 84,7 307 83,7
ja 43 11,6 55 15,0
Verweis auf Thüringen 14 3,8 5 1,4
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20. Konkret Ergebnisse Inhaltsanalyse
Raum-bezogene Variable: Suchradius (hoch signifikante Unterschiede)
Gruppe Land (n = 292) Gruppe Erfurt (n = 260)
Suchradius n % n %
in der Region (thüringenweit) 185 63,4 123 47,3
in ganz Deutschland 45 15,4 44 16,9
in der gleichen Stadt (direkt vor Ort) 41 14,0 71 27,3
weltweit 15 5,1 19 7,3
in Europa 6 2,1 3 1,2
Angaben zur gewünschten Kontaktregion (ohne Mitgliederprofile und missings; n = 552).
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21. Konkret Unterschiede zwischen den Nutzergruppen
– Nutzer aus ländlichen Gebieten scheinen stärker besorgt um ihre persönlichen
Daten und Anonymität:
a) sie nutzen seltener Profil-Bilder
b) sie suchen signifikant häufiger nach Kontakten außerhalb ihres Heimatortes
– Nutzer der Land-Gruppe sind etwas regelmäßiger eingeloggt Verbindung mit
der Community halten
– leichte inhaltliche Verschiebungen in den Headlines
– Insgesamt: häufig nur leichte Unterschiede (größeres Sample, andere Gruppen?)
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22. Kompakt ein Fazit
– Indikatoren für Demarginalisierung :
1) GR bietet vormals (räumlich) isolierten Individuen eine Anbindung an die
“schwule Gemeinschaft” (soziale Vernetzung, Kontakte, zugleich Wahrung der
Anonymität)
2) Features wie der “Guide” oder die “Clubs” ermöglichen Informationsaustausch und
Prozesse der Gemeinschaftsbildung (Entstehung und Bündelung von Sozialkapital;
zugleich Ansätze für politisches, soziales und kulturelles Empowerment)
– neben positiven Aspekten sollte auch problematisches Nutzerverhalten in den Blick
genommen werden ambivalente Einschätzung, etwa im Hinblick auf
emanzipatorisches Potenzial vs. “Verschwinden” der Szene ins Virtuelle
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23. Kompass hey, das ist ja wichtig!
GR ist in Alltag(skommunikation) eingebettet und ein Spiegel homo-, bi- und
transsexueller Lebensstile und Kulturen (z.B. sprachliche und visuelle Codes)
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24. Kompass Limitations & zukünftige Forschung
– beschränkter methodischer Zugang, mehr Forschung z.B. zu Nutzungsmotiven
ist nötig, insbesondere qualitative Nutzer-Interviews Forschungsethik!
– wichtig scheint weitere Forschung in Bezug auf jüngere Nutzer, vor allem aus
ländlichen Gegenden medienpädagogische Implikationen?
– weitere Fragen:
a) Welchen Einfluss haben Webseiten wie GR auf die soziale Kommunikation innerhalb
der “Community”? Welche Rolle spielen ICTs generell im Alltagsleben homo-, bi- und
transsexuelle Nutzer (wachsende Bedeutung anderer Plattformen)?
b) Was heißt es, wenn eine Generation homo-, bi- und transsexuelle Nutzer ihre
sexuelle Identität unter den gegebenen Bedingungen erkunden
(Kommerzialisierung, Selbstnormierung, “Doppelleben”)?
c) Nehmen GR-Mitglieder ihre Nutzung überhaupt als demarginalisierend und
ermächtigend wahr?
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25. Literatur
• Bender, Claus (2010): Bildung in Medienwelten? – Eine biografieanalytische Studie zu Lern- und Bildungsprozessen bei Homosexuellen im Internet. Unveröff. Dissertation.
Gutenberg-Universität, Mainz. Online: http://ubm. opus.hbz-nrw.de/volltexte/2010/2279/pdf/doc.pdf (27.09.2010).
• Cooper, Al / McLoughlin, Irene / Campbell, Kevin (2000): Sexuality in Cyberspace: Update for the 21st Century. In: CyberPsychology & Behavoir, Heft 4, 521-536.
• Döring, Nicola (2000): Cybersex aus feministischen Perspektiven: Viktimisierung, Liberalisierung und Empowerment. In: Zeitschrift für Frauenforschung &
Geschlechterstudien, Heft 1/2, 22-48. Online: http:// www.nicola-doering.de/publications/ZfFG_doering-2000.pdf (20.09.2010).
• Döring, Nicola (2009): The Internet´s Impact on Sexuality. A Critical Review of 15 Years of Research. In: Computers in Human Behavior, Heft 5, 1089-1101.
• Eichenberg, Christiane / Döring, Nicola (2006): Sexuelle Selbstdarstellung im Internet. Ergebnisse einer Inhaltsanalyse und einer explorativen Befragung zu privaten Websites.
In: Zeitschrift für Sexualforschung, Heft 2, 133-153.
• Gross, Larry (2007): Foreword. In: O„Riordan, Kate / Phillips, David (Hrsg.): Queer Online. Media Technology & Sexuality. New York: Peter Lang, vii-x.
• Hoffarth, Florian (2009): Queer Dating. Eine kontrastive Untersuchung von Kontaktanzeigen in Online-Magazinen für schwule und Lesben. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-
Ruhr.
• Keifer-Boyd, Karen (2006): Back in the Early Days: A Gay Man's Perspective on the Changes from 1999-2004 in Purposes of and Participation at Gay.com. In: Hipfl, Brigitte /
Hug, Theo (Hrsg.): Media communities. Münster u.a.: Waxmann, 253-270.
• Krämer, Axel (2004): Gefährlich hoher Datingfaktor. In: taz.de. Online: http://www.taz.de/1/archiv/archiv/ ?dig=2004/11/13/a0329 (22.09.2010).
• Löffler, Sandra (2009): „Weil es halt doch eine Möglichkeit ist, jemanden kennenzulernen.“ Internetnutzung von Homosexuellen. In: Meyen, Michael; Pfaff-Rüdiger, Senta
(Hrsg.): Internet im Alltag: Qualitative Studien zum praktischen Sinn von Onlineangeboten. Berlin: Lit-Verlag, 191-209.
• Maes, Daniel (2006): Faktoren schwuler Kommunikation im Internet. In: Fries, Norbert (Hrsg.): Linguistik im Schloss II. Linguistischer Workshop Wartin 2006. Czernowitz:
Bukrek-Verlag. Online: http://www2.rz.hu-berlin.de/linguistik/institut/syntax/liwo/liwo2/index.htm (02.05.2010).
• Maes, Daniel (2007): Metaphern-Identität, Realität und Virtualität. In: Fries, Norbert (Hrsg.): Linguistik im Schloss III. Linguistischer Workshop Wartin 2007. Berlin. Online:
http://www2.rz.hu-berlin.de/linguistik/ institut/syntax/liwo/liwo3/index.htm (02.05.2010).
• McKenna, Katelyn / Bargh, John (1998): Coming Out in the Age of the Internet: „Demarginalization“ Through Virtual Group Partizipation. In: Journal of Personality and Social
Psychology, Heft 3, 681-694.
• Pressemitteilung GfK (2010). Online: http://www.gfk.com/imperia/md/content/presse/pressemeldungen2010/100914_pm_internetnutzung_dfin.pdf (15.05.2012).
• Ross, Michael / Månsson, Sven-Axel / Daneback, Kristian / Tikkanen, Ronny (2005): Characteristics of Men Who Have Sex with Men on the Internet But Identify as
Heterosexual, Compared with Heterosexually Identified Men Who Have Sex with Women. In: CyberPsychology & Behavoir, Heft 2, 131-139.
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