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Hausarbeit

Die Possible Worlds Theory und serielles
         Erzählen bei Eli Stone




                    Philosophische Fakultät
                  Medienwissenschaft
          Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Inhaltsverzeichnis
1 Hinführung                                                                                                             1

2 „Paradiese, Übersee“ als postmoderner Roman                                                                            1
  2.1 Inhalt des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                          2
  2.2 Postmoderne Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                          3

3 Possible Worlds Theory                                                                                                 7
  3.1 Entstehung der Possible Worlds Theory . . . . . . . . . . . . . . . . .                                            7
  3.2 Aktuelle Ansätze zur Possible Worlds Theory . . . . . . . . . . . . .                                              8

4 Applikation auf „Paradiese, Übersee“                                                                                  10
  4.1 „Immersion“ . . . . . . . . . . . . . .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   10
  4.2 Recentering . . . . . . . . . . . . . .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   12
  4.3 Accessibility Relations . . . . . . . .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   13
  4.4 Principle of Minimal Departure . . .      .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   17
  4.5 Narrative Semantik . . . . . . . . . .    .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   18
  4.6 Plot- und Konflikttheorie . . . . . . .    .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   20

5 Praktikabilität bei postmodernen Romanen                                                                              22

6 Fazit                                                                                                                 23
1 HINFÜHRUNG                                                                      1


1    Hinführung
Im allgemeinen Sprachgebrauch werden Romane, Filme und Serien oft als andere
Welten bezeichnet. Welten, die sich von der Welt, in der wir leben, unterscheiden.
Welten, in die wir beim Lesen oder Sehen eintauchen, die wir uns vorstellen können.
Auch in der Philosophie und der Narratologie werden im Rahmen der Possible Worlds
Theory literarische Werke als Welten bezeichnet, wobei hier das Wort „Welt“ nicht
mehr nur im rein metaphorischen Sinn für die literarische Welt steht, sondern für
eine neue Welt.
Für die literarische Rhetorik ist die Possible Worlds Theory von Bedeutung, weil
sie sich – wie die Rhetorik – mit dem Möglichen und der Plausibilisierung von
Inhalten beschäftigt. Der Leser kann nur dann in eine literarische Welt eintauchen,
wenn diese möglich ist und ihm plausibel gemacht wird. Bei bildhaften Romanen
beispielsweise der Romantik oder des Sturm und Drang fällt es dem Leser leicht
die literarische Welt zu imaginieren. Bei postmodernen Werken hingegen kann es
zu Schwierigkeiten kommen, da postmoderne Werke für den Leser oft weniger gut
zugänglich sind und mehrere Welten entwerfen. Die Possible Worlds Theory reflektiert
diese Schwierigkeiten.

Diese Hausarbeit wendet die Possible Worlds Theory von Marie-Laure Ryan auf
den Roman „Paradiese, Übersee“ von Felicitas Hoppe an, und versucht anhand der
Ergebnisse einige allgemeine Erkenntnisse für die Praktikabilität der Possible Worlds
Theory bei postmoderner Literatur zu gewinnen.
Hierzu werden in 2 „Paradiese, Übersee“ als postmoderner Roman zunächst der
Roman selbst, und anschließend Ansätze zur Postmoderne vorgestellt. Dabei gilt
dem philosophischen Ansatz von Jean-François Lyotard besondere Aufmerksamkeit,
da dies einer der plausibelsten Ansätze ist. Anschließend gibt die Hausarbeit in 3
Possible Worlds Theory einen Überblick über die Entwicklung der Possible Worlds
Theory und die aktuelle Theorie von Marie-Laure Ryan. Diese wird in 4 Applikation
auf „Paradiese, Übersee“ im Detail auf Hoppes Roman angewendet und diskutiert.
In 5 Possible Worlds Theory bei postmodernen Romanen wird schlussendlich geprüft,
inwieweit sich die gewonnenen Erkenntnisse auf postmoderne Romane generalisieren
lassen. 6 Fazit fasst die Ergebnisse nochmals zusammen einen Blick auf mögliche
weitere Forschungsfragen.


2    „Paradiese, Übersee“ als postmoderner Roman
Die Autorin, geboren 1960 in Hameln, reiste – wie ihre Protagonisten – selbst viel
um die Welt, unter anderem auch nach Indien, einem der Schauplätze des Romans.
Studiert hat sie in Tübingen und den USA. Felicitas Hoppes’ Roman „Paradiese,
2 „PARADIESE, ÜBERSEE“ ALS POSTMODERNER ROMAN                                                     2


    Übersee“ erschien 2003, und ist Ritter-, Abenteuer und Gegenwartsroman sowie
    Märchen. Anklänge an das Nibelungenlied, die Arthussage, Don Quijote und Parzival
    fallen auf. Die Autorin hatte sich von Aues Iwein inspirieren lassen, einen Ritterroman
    zu schreiben. Anschließend verfasste sie den ersten und den letzten Satz des Romans,
    und füllte daraufhin das „Dazwischen“.1
    Ihre Vorgehensweise, die Struktur, die Sprache und der Plot des Romans sind
    außergewöhnlich und eigentümlich. Die Literaturkritikerin Katharina Döbler ist sich
    sogar nicht einmal sicher, ob es sich bei Hoppes Werk überhaupt um einen Roman
    handelt.2 Gründe für ihren Zweifel finden sich zuhauf, Hoppes Roman verpflichtet sich
    keinen Urbildern, die Plotstruktur ist verworren und auch das Ende des Romans gibt
    Rätsel auf. Im Folgenden wird zunächst der Plot des Romans – so gut dies möglich
    ist – dargestellt. Anschließend wird der Roman in den Kontext der Postmoderne
    gerückt, nachdem die Merkmale dieser Epoche herausgestellt wurden.


    2.1     Inhalt des Romans
    Im ersten Teil des Romans mit dem Titel „Übersee“ befinden sich ein Ritter und der
    sogenannte Pauschalist in Begleitung eines 300jährigen sprechenden Hundes auf der
    Suche nach dem Forschungsreisenden Dr. Stoliczka und dem Fabeltier Berbiolette.
    Der Pauschalist schreibt eine wissenschaftliche Arbeit über Dr. Stoliczka, der Ritter
    transportiert einen Brief. Die beiden schiffen in Lissabon ein, um in Bombay und
    Kalkutta die Suche fortzusetzen.
    Im zweiten Teil, betitelt mit „Wilwerwitz“ berichtet der Protagonist, der Kleine
    Baedeker3 , von seinen Erfahrungen mit seinem Bruder, einem Forschungsreisenden
    und seiner Schwester, die Zimmermädchen in Europas Hotels ist. Diese hat sich
    in einen Ritter verliebt, und bittet den Kleinen Baedeker diesem einen Brief zu
    überbringen. Auch erzählt der Kleine Baedeker im zentralen Teil des Romans von
    einer jährlich stattfindenden Prozession, an der er seit vielen Jahren mit seinen
    Geschwistern teilnimmt. Die Prozession findet ihren Abschluss dabei immer im
    Echternach-Zimmer bei Frau Conzemius, wo die Geschwister übernachten. Da der
    Kleine Baedeker mit Ängsten zu kämpfen hat, schickt er am Ende des zweiten Teils
    Munter, seinen Hund, los, damit dieser den Brief der Schwester ausliefert. Erst danach


1
     Linder 2010.
2
     Döbler.
3
     Der Name des Protagonisten ist eine Hommage der Autorin an die Reiseführer, die ebenfalls
    unter dem Namen „Kleiner Baedeker“ bekannt geworden sind. Die Bewunderung Hoppes für die
    Reiseführer zeigt sich dabei nicht nur in der Namensgebung des Protagonisten, sondern auch in
    dessen Arbeit: Der Kleine Baedeker ist ein Reiseführer, der Touristen die in Wilwerwitz angesiedelten
    Ritterburgen zeigt und Geschichten der Umgebung erzählt.
2 „PARADIESE, ÜBERSEE“ ALS POSTMODERNER ROMAN                                                 3


    entschließt sich der Kleine Baedeker auch selbst aufzubrechen.
    Der dritte Teil, „Paradiese“, beginnt mit den Aufzeichnungen des gesuchten Doktor
    Stoliczka, der sich mit einem unbekannten Mann und einem klapprigen Pferd auf der
    Überfahrt nach Indien befindet. Auch der Kleine Baedeker taucht wieder auf. Der
    Pauschalist fordert den Ritter zum Duell, das aber durch eine Überschwemmung nicht
    stattfinden kann. Der Pauschalist, der Kleine Baedeker, der Hund und die zwei Pferde
    retten sich mit einem Floß und landen am Ende im Echternach-Zimmer bei Frau
    Conzemius, wo bereits die Schwester des Kleinen Baedekers wartet. Dort öffnet der
    Kleine Baedeker den ihm anvertrauten Brief und liest „in der schwungvollen klaren
    Handschrift meiner Schwester die Worte: DER RITTER, DAS BIN ÜBRIGENS
    ICH.“ 4


    2.2     Postmoderne Literatur
Hoppes Roman ist der Epoche der Postmoderne zuzuordnen. Im eigentlichen Sinn
bezeichnet der Begriff der Postmoderne zunächst jedoch nur eine Konstruktion, die
insbesondere in der “sozialen Entwicklung Symptome einer Zeitenwende“ 5 aufweist.
Außerdem ergibt sich eine genauere Bestimmung des Begriffs der Postmoderne erst
durch eine Differenzierung – komplementär und kontrastiv – zum Begriff der Moder-
ne.6
Von vielen Philosophen und Kulturwissenschaftlern werden aber tatsächlich sowohl
die Moderne als auch die Postmoderne als Epochen rekonstruiert, wobei die Post-
moderne, wie das Präfix bereits andeutet, auf die Epoche der Moderne folgt. Ob
es sich bei der Postmoderne tatsächlich um eine Epoche handelt, ist aber dennoch
umstritten. Lubomír Doležel, auch bekannt für seine Arbeit im Bereich der Possible
Worlds Theory, gehört zu den Anhängern der Epochenauffassung. In Possible Worlds
of Fiction and History schreibt er, dass Postmoderne „has become an international
movement, and therefore its chronology“.7 Auch die beiden folgenden Ansätze gehen
davon aus, dass es sich bei der Postmoderne um eine Epoche handelt.

    Einer der bekanntesten Versuche auf literaturwissenschaftlicher Ebene eine Charak-
    teristik der Postmoderne zu etablieren ist die Merkmalanalyse von Ihab Hassan. Er


4
     Hoppe 2003, S. 186.
5
     Zima 1997, S. 1.
6
      Frank Fechner insistierte, dass Moderne, Modernismus und Postmoderne bei einer konkreten
    Begriffsbestimmung zusammen gedacht werden müssen: „Es ist also notwendig, auch den Begriff
    von Moderne, der der jeweiligen Rede von Postmoderne zugrunde liegt, aufzuhellen.“ (Fechner 1990,
    S. 20)
7
     Doležel 2010, S. 1.
2 „PARADIESE, ÜBERSEE“ ALS POSTMODERNER ROMAN                                       4


     beschreibt postmoderne Literatur unter anderem mit den stilistischen Merkmalen
     der Unbestimmtheit, Fragmentierung, Auflösung des Kanons, Ironie und der Karne-
     valisierung, die er den drei Orientierungsaspekten Intertextualität, Pluralismus und
     Perspektivismus zuordnet.8

     Auch der Ansatz Herbert Grabes, der die Fremdartigkeit postmoderner Literatur
     und Kunst fokussiert, betrachtet die Postmoderne als Epoche. Grabes schreibt über
     die Fremdartigkeit postmoderner Literatur, dass sie versucht „radikalere Fremdheits-
     wirkungen bis hin zur Schockierung zu erzeugen.“ 9 Da dieser Versuch aber auf eine
     entsprechende Erwartungshaltung stieß, konnten jene Schockwirkungen nicht ausge-
     löst werden. Dennoch sind die Relativierung des Vertrauten, beispielsweise durch
     Ironie, Parodie oder Travestie, und die Mischung unterschiedlicher Stile und Genres
     Merkmale vieler postmoderner Werke. Grabes knüpft mit diesem Gedanken eng an
     die Merkmalanalyse von Hassan an, und stößt damit auch auf dieselben Probleme:
     Einerseits sind Versuche der Differenzierung, die sich rein auf einer Stilebene bewegen,
     fragwürdig weil unzureichend, und andererseits finden sich die von Hassan und Grabes
     aufgezählten Merkmale gleichermaßen in moderner wie postmoderner Literatur. Um
     eine zufriedenstelle und umfassende Einordnung der Postmoderne geben zu können,
     braucht es einen anderen Ansatz, der sich durch eine Abgrenzung zur Moderne
     konstituiert. Die Moderne wird insbesondere in der Literaturwissenschaft als Epoche
     beschrieben, die Literaturformen der Jahrhundertwende inkludiert. Merkmal der
     Moderne ist unter anderem der Modernismus, der „die neuzeitliche Moderne im
     Rückblick erkennbar, definierbar und kritisierbar“ 10 macht. Dies ist gleichzeitig auch
     ein Merkmal der Postmoderne, diese geht jedoch über das Reflexiv-Werden der
     Moderne weit hinaus.

 Wolfgang Welsch bezieht die Moderne in seiner Betrachtung der Postmoderne mit
 ein, und geht damit bereits einen Schritt in die richtige Richtung. Die Postmoderne
 sei allerdings keine Trans- und Anti-Moderne, keine neue Epoche, da ihr Grundinhalt
 auch in der Moderne bereits von Bedeutung gewesen sei. Diese Grundidee sei der
 Pluralismus, der sich in der Postmoderne als Verfassung radikaler Pluralität zeigt.
 Sie erstreckt sich ihm zufolge auch auf Gebiete wie Wahrheit, Gerechtigkeit und
 Menschlichkeit, und schließt mit ein, dass „ein und derselbe Sachverhalt in einer
 anderen Sichtweise sich völlig anders darstellen kann“.11


8
      Hassan 1988.
9
      Grabes 2004, S. 69.
10
      Zima 1997, S. 9.
11
      Welsch 1993, S. 5.
2 „PARADIESE, ÜBERSEE“ ALS POSTMODERNER ROMAN                                             5


 Der philosophisch geprägte Ansatz des poststrukturalistischen Autoren12 Jean-
 François Lyotard kann zur Schaffung eines klaren Begriffs der Postmoderne ebenfalls
 herangezogen werden. Sein Ansatz ist insbesondere aufgrund seiner Einbeziehung ge-
 sellschaftlicher Entwicklungen sehr vielversprechend. Insgesamt geht Lyotard, ähnlich
 wie Welsch später, nicht davon aus, dass es sich bei der Postmoderne um eine neue
 Epoche handelt.13 Vielmehr spricht er von einer der Moderne innewohnenden Gegen-
 bewegung14 , und damit einem „Verhältnis räumlicher Verstrickung“.15 Grundthese
 seines Werkes Das postmoderne Wissen ist die Verabschiedung der Meta-Erzählungen
 der Neuzeit – Mathesis universalis – und ihrer Nachfolgeformen. Er klärt dabei die
 Fragen, wie Wissen heute verfasst ist, wo es Tendenzen und Verbindlichkeiten gibt und
 was die postmoderne Verfassung des Wissens kennzeichnet. Dabei kommt er zu dem
 Schluss, dass modernes Wissen von jeher die Fom einer Einheit hatte, die durch einen
 Rückgriff auf große Meta-Erzählungen zustande kommen konnte. In der Moderne gab
 es nach Lyotard drei solcher Meta-Erzählungen: die Emanzipation der Menschheit
 (Aufklärung), die Teleologie des Geistes (Idealismus) und die Hermeneutik des Sinns
 (Historie). „In äußerster Vereinfachung kann man sagen: ’Postmoderne’ bedeutet, daß
 man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.“ 16 Das bedeutet nicht,
 dass diese Meta-Erzählungen keine Rolle mehr spielen, aber sie haben ihre allgemeine
 Verbindlichkeit und Legitimationskraft eingebüßt. Die Meta-Erzählungen sind dabei
 gleich auf zwei Weisen hinfällig geworden: Einerseits gibt es in der Postmoderne keine
 Meta-Erzählung, die universell sein könnte, und andererseits leuchten dem Menschen
 Meta-Erzählungen nicht mehr ein; er hat die Vielheit akzeptiert.17 Diese Auflösung
 des Ganzen der Meta-Erzählungen ist nun eine Vorbedingung der postmodernen
 Pluralität. Wenn diese Auflösung zusätzlich als positive Chance begriffen wird, und
 der Wegfall der Meta-Erzählungen nicht mehr als Verlust empfunden wird, handelt
 es sich nach Lyotard um Postmoderne. Neben dem Ende der bereits angesprochenen
 übergreifenden Leitideen oder -ideale enthält sein Werk außerdem ein „Plädoyer für
 die Gleichzeitigkeit heterogener Wissenskonzepte“ 18 , welches die Vielheit möglicher


12
      Zu den Autoren des sogenannten „Poststrukturalismus“ gehören auch Foucault, Deleuze und
     Derrida, deren Denken similär zum postmodernen Denken ist.
13
       Kritik an dieser Auffassung Lyotards äußert besonders Peter Zima, der in diesem Kontext von
     einer Verdeckung des Bruchs zwischen Moderne und Postmoderne spricht, und gleichzeitig darauf
     hinweist, dass Lyotard in seiner Auffassung inkonsistent sei. (Zima 1997, S. 109ff)
14
      Vgl. Lyotard 1987, S. 26.
15
      Riese 2003, S. 30.
16
      Lyotard 1986, S. 121ff.
17
      Vgl. Welsch 1993, S. 172ff.
18
      Zimmermann 2005, S. 3.
2 „PARADIESE, ÜBERSEE“ ALS POSTMODERNER ROMAN                                    6


 Wahrheiten propagiert, eine Ansicht, die auch in der Possible Worlds Theory teilweise
 vertreten wird. Im Kontext der literarischen Rhetorik bedeutet Lyotards Ansatz in
 der konsequenten Fortführung der Leit-Gedanken, dass im postmodernen Roman
 Meta-Erzählungen, das heißt in sich geschlossene Weltenbeschreibungen, nicht mehr
 legitimiert sind. Eine Pluralität von Welten und Perspektiven ist damit möglich,
 die den Leser auch als Interpreten fordert. Der bewusst spielerische und künstliche
 Umgang der postmodernen Autoren mit dem literarischen Stoff, die in ihrem Roma-
 nen oft nur noch Weltenfragmente anbieten, erschweren die Rezeption für den Leser
 zusätzlich.
 Angelehnt an Wittgenstein spricht Lyotard im Kontext der Kritik am abendlän-
 dischen Subjektbegriff außerdem vom Konzept des Sprachspiels. Er schreibt, dass
 drei Beobachtungen in diesem Rahmen von Bedeutung sind: „Die erste betrifft den
 Umstand, daß die Regeln ihre Legitimation nicht in sich selbst haben, sondern
 den Gegenstand eines expliziten oder impliziten Vertrags zwischen den Spielern
 ausmachen (...). Das zweite besagt, daß es ohne Regeln kein Spiel gibt (..). Die
 dritte Beobachtung (...): Jede Aussage muß wie ein in einem Spiel ausgeführter
 Spielzug betrachtet werden.“ 19 Für die Literatur der Postmoderne bedeuten Lyotards
 Beobachtungen der sprachlichen, spielerischen Agonistik, dass beispielsweise die
 Provokationsarbeit der Literatur aus Freude an der Erfindung des Spielzugs entsteht.

     Hoppes Roman „Paradiese, Übersee“ kann – außerhalb der rein temporalen Einord-
     nung seiner Entstehung – insofern als postmoderner Roman identifiziert werden, als
     dass er eine Pluralität von Welten, sowohl sprachlich als auch inhaltlich, entwirft
     und nebeneinanderstellt. Auch die für die Postmoderne charakteristische Multiper-
     spektivität ist im Roman gegeben, sowohl ganz offenkundig durch den Wechsel vom
     auktorialen Erzähler zum Ich-Erzähler und zurück, als auch unterschwelliger durch
     sprachliche Veränderungen.
     Möchte man außerdem, trotz ihrer Unzulänglichkeit, auch die Ansätze von Hassan
     und Grabes einbeziehen, so ist auch nach deren definitorischen Merkmalen Hoppes
     Roman als postmoderner Roman zu identifizieren, da er sowohl die Fremdartigkeit
     nach Grabes bedient, als auch die meisten der Merkmale Hassans erfüllt. Insbesondere
     der Fragmentierung kommt im Roman besondere Bedeutung zu: Die Welten, die
     Hoppe konstruiert, sind disparat und auf eine eigentümliche Art und Weise miteinan-
     der verknüpft, die sich nicht nach den Regeln der Chronologie oder der räumlichen
     Anordnung richtet. Damit einher geht, dass dem Roman damit sinnlich-erfahrbare
     Evidenz fast vollständig fehlt.


19
      Lyotard 1986, S. 39ff.
3 POSSIBLE WORLDS THEORY                                                            7


     3     Possible Worlds Theory
 Wie in Romanen Evidenz erzeugt werden kann, damit beschäftigt sich die literarische
 Rhetorik im Kontext der Welterzeugung. Als Grundlage kann hierzu bereits die
 klassische Rhetoriktheorie herangezogen werden, die mit Evidenz Wege der Veran-
 schaulichung von Sachverhalten bis hin zu einer Erlebnisqualität bezeichnet. Evidenz
 entsteht danach dann, wenn eine Sache so klar und deutlich, so lebendig und an-
 schaulich dargelegt wird, dass das Publikum beziehungsweise der Leser die Sache vor
 seinem inneren Auge sieht. Klassische Mittel des Vor-Augen-Stellen der Rhetorik sind
 dabei die Verlebendigung, und die Detaillierung. Damit dieses Vor-Augen-Stellen
 gelingt, muss der Redner zunächst Klarheit gewinnen, was seinen Hörern bereits
 evident erscheint. Was darüber hinaus geht kann mit rhetorischen Mitteln evident
 gemacht werden, wobei der Redner seine persuasive Kraft insbesondere dann voll
 entfaltet, wenn er von Sachverhalten berichtet, von denen er selbst Augenzeuge
 war.20 Insbesondere in der narratio und der elocutio sind die Kategorien der evidentia
 (descriptio, illustratio, hypotyposis und enargeia) in der Umsetzung von Bedeutung.21

     Felicitas Hoppe wählte in ihrem Roman einen anderen Weg; sie versucht nicht die
     von ihr dargestellten Welten auf plastische Art und Weise evident zu machen bezie-
     hungsweise zu plausibilisieren. Damit entfernt sie sich von der Rhetorik, die ebenfalls
     die Plausibilisierung zum Ziel hat. Rhetorisch uninteressant ist ihr Roman auf Grund
     dessen allerdings nicht; Hoppe erzeugt die literarischen Welten mit Hilfe sprachlicher
     Mittel und eigentümlichen Plotkonstruktionen.
     Die Possible Worlds Theory bietet einen anderen, auf die in literarischen Werken
     konstruierten Welten und deren Zusammenhänge fokussierten, Ansatz, sich mit
     Romanen zu beschäftigen. Die vor allem philosophisch ausgerichteten Erzähltheorien
     sind besonders durch ihre Textzentrierung in der Narratologie ein geeigneter Aus-
     gangspunkt. Die Entstehung der Possible Worlds Theory und die sehr differenzierte
     aktuelle Theorie von Marie-Laure Ryan werden im Folgenden erläutert.


     3.1    Entstehung der Possible Worlds Theory
     Die Anfänge der heutigen Possible Worlds Theory finden sich bereits in der Antike,
     wenn auch nur in rudimentärer Form. Aristoteles schreibt in seiner Poetik in Kapitel
     24 und 25, dass das glaubwürdige Mögliche dem Unglaubwürdigen vorzuziehen ist.
     Es sei nicht die Aufgabe des Poeten über Dinge zu sprechen, die geschehen sind,
     sondern über Dinge, die geschehen könnten. Damit legt Aristoteles den Grundstein


20
      Vgl. Kemmann 1996, S. 40.
21
      Vgl. Solbach 1994, S. 75.
3 POSSIBLE WORLDS THEORY                                                                        8


     für die heutige Fiktions- und Possible Worlds-Forschung, wenn er schreibt, dass
     die Herstellung von Dichtung sich mit der Erzeugung von Vorstellungsinhalten und
     dem Möglichen beschäftigt. Später griffen unter anderem Genette, Hamburger und
     Nünning auf diese klassischen Thesen für ihre Fiktionstheorien zurück, mit der sie
     auch die Possible Worlds Theory prägten.

     Auch Gottfried Wilhelm Leibniz’ Konzept der möglichen Welten ist Grundlage für
     die heutige Possible Worlds Theory. Er schreibt: „Man muss es für sicher halten,
     daß nicht alles Mögliche existent wird; sonst könnte man keine Romanfigur ersinnen,
     die nicht irgendwo und irgendwann exisitieren würde.“ 22 Seine Theorie trägt also
     bereits „der Tatsache Rechnung, daß narrative Texte alternative Welten entwerfen.“
     Damit übernahm er einen bis dahin philosophischen Ansatz zur Lösung semantischer
     Probleme in der Modallogik und übertrug ihn auf narrative Texte.23

     Von Umberto Eco stammt 1987 einer der ersten systematischen Versuche das Konzept
     der Modallogik auf narrative Texte anzuwenden. Eco verband Theorie und Praxis,
     indem er die Possible Worlds Theory auf eine Kurzgeschichte von Alphonse Allais
     anwendete: Dabei führte er die Idee ein, dass es eine tatsächliche Welt, die sogenannte
     actual world, und eine possible world durch den Plot gibt. Mit Hilfe dieses Kontrastes
     zwischen den beiden Welten konnte er anschließend das Zusammenspiel narrativer
     Fakten, deren Repräsentation durch Charaktere und den Vorstellungen der Charaktere
     studieren. Außerdem wandte er die Konzepte der Modallogik auf die Dynamik des
     Leseprozesses an, während dem possible worlds entstehen, verändert oder verworfen
     werden – je nachdem ob der Text die Rationalisierungen des Lesers verifiziert,
     widerlegt oder gar nicht tangiert.24


     3.2     Aktuelle Ansätze zur Possible Worlds Theory
     Ein neuerer Ansatz stammt von Lubomír Doležel, der einen Katalog modaler Ope-
     ratoren entwickelte, die nicht nur eine Unterscheidung zwischen Möglichkeit und
     Notwendigkeit ermöglichen, sondern auch viele weitere für die narrative Semantik
     relevanten Kategorien wie gut/böse oder bekannt/unbekannt beinhalten.25 Doležel
     erweiterte damit die Possible Worlds Theory um Bewertungsmaßstäbe.26


22
      Leibniz 1986, S. 185.
23
      Vgl. Surkamp 2002, S. 153ff.
24
      Vgl. Ryan 1991, S. 4.
25
      Vgl. ebd.
26
       Ein weiterer wichtiger Beitrag ist seine Theorie zur Authentizität in literarischen Werken. Dabei
     unterscheidet er zwischen authentischen Motiven und nicht-authentischen Motiven, die für ihn
     zentrale Konzepte von Fiktionalität sind.(Doležel 1980)
3 POSSIBLE WORLDS THEORY                                                           9


 Ebenfalls Erwähnung finden soll der aktuelle Ansatz von Elena Esposito, die in Die
 Fiktion der wahrscheinlichen Realität folgende These aufstellt: „Die fiktive Realität
 des Romans ist keine Fiktion der Realität, sondern ’die Fiktion der Realität von
 Realitäten’.“ 27 Damit dürfen Romane, um realistisch zu sein, nicht real sein; die Rea-
 lität der Fiktion beruht auf einer für den Leser vorhandenen Durchschaubarkeit der
 Täuschung. Romane geben also nicht vor, Tatsachen der Realität wider zu spiegeln.
 Statt dessen erschaffen sie „zweite Welten“. Dennoch muss der Roman, um seine realis-
 tische Wirkung zu entfalten, eine auf ausdrücklich imaginären Prämissen beruhende
 (zweite) Welt entwerfen, die kohärent ist. Esposito spricht in diesem Zusammenhang
 von einer Realitätsverdoppelung beziehungsweise von einem Realitätspluralismus28

 Nelson Goodman geht noch einen Schritt weiter, als Esposito. In Weisen der Welter-
 zeugung konstatiert er, dass es nicht viele mögliche Alternativen zu einer einzigen
 wirklichen Welt gibt, sondern eine Vielheit wirklicher Welten. Jede verschiedene
 Beschreibungsweise einer Welt würde bereits eine neue Welt erschaffen: „Unser Uni-
 versum besteht sozusagen aus diesen Weisen und nicht aus einer Welt oder aus
 Welten.“ 29 Nach Goodman werden alle Welten aus bereits existierenden, anderen
 Welten erzeugt; die Weisen dieser Welterzeugung seien Komposition und Dekomposi-
 tion, Gewichtung, Ordnen, Tilgung und Ergänzung sowie Deformation. Mit seiner
 Ansicht einher geht die Tatsache, dass Goodman unweigerlich Welten als gleichzeitig
 wahr betrachtet, die konfligierende Aussagen inkludieren; was in der einen Welt
 richtig ist, kann in der anderen falsch sein. Solche Aussagen sind Goodman zufolge
 „mögliche“ Aussagen (im Gegensatz zu notwendig richtigen oder notwendig falschen
 Aussagen). Eine Auflösung dieser Problematik der sich widersprechenden Aussagen
 ergibt sich nach Goodman dadurch, dass die Aussagen um ihren Bezugsrahmen
 erweitert werden, also einerseits in ein entsprechendes System eingeordnet werden
 und andererseits um explizite Einschränkungen ergänzt werden. Wenn eine Auflösung
 nicht möglich ist, stehen die Welten weiterhin im Widerstreit.

     Ein anderer aktueller Ansatz zur Possible Worlds Theory, der sich auf eine sehr
     ausdifferenzierte Weise mit literarischen möglichen Welten beschäftigt, ist die Theorie
     von Marie-Laure Ryan. Ihre Theorie der möglichen Welten in literarischen Werken
     dient als Grundlage der folgenden Anwendung auf Hoppes Roman. Die Grundannah-
     men ihrer Possible Worlds Theory werden im folgenden detailliert vorgestellt, und
     auf „Paradiese, Übersee“ appliziert. Ziel ist es auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse


27
      Esposito 2007, S. 17.
28
      Vgl. ebd., S. 68.
29
      Nelson Goodman and 1984, S. 15.
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                            10


 eventuell vorhandene generelle Aussagen über die Praktikabilität der Possible Worlds
 Theory bei postmodernen Romanen zu treffen.


     4     Applikation auf „Paradiese, Übersee“
 Bei einem Roman wie „Paradiese, Übersee“, der sehr viele Handlungsstränge besitzt,
 die nicht auf logische, chronologische oder verständliche Weise miteinander verbunden
 sind, würde eine Analyse des gesamten Romans den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
 Daher sollen einerseits nur schlaglichtartig einzelne Elemente des Romans herausge-
 griffen werden. Außerdem liegt der Fokus dieser Schlaglichter auf dem zweiten Teil
 des Buches, der sowohl der plastischste und realistischste als auch zentraler Teil des
 Romans ist. Die Zentralität von „Wilwerwitz“ ergibt sich aus mehreren Aspekten. Zum
 einen ist „Paradiese, Übersee“ wie ein Triptychon aufgebaut. Im mittleren Teil stehen
 die Familie in Wilwerwitz und die Erzählung des Kleinen Baedekers im Vordergrund.
 Im Gegensatz zu den beiden flankierenden Teile mit einem auktorialen Erzähler wird
 dieser Teil der Geschichte von einem Ich-Erzähler, dem Kleinen Baedeker, erzählt.
 Weiterhin fungieren der vorgeschobene Teil „Übersee“ und der nachgesetzte Teil
 „Paradiese“ als „Spiegel für die Figuren im mittleren Teil.“,30 erklärte Felicitas Hoppe
 im Interview die Struktur des Romans.
 Eine mögliche und plausible Interpretation des Buches auf dieser Grundlage lässt
 vermuten, dass es sich bei dem zentralen Teil um die textual actual world des Romans
 aus Sicht des Kleinen Baedekers handelt. Die anderen beiden Teile entspringen den
 Gedanken, Erinnerungen, Träumen, Wünschen und Fantasien des Kleinen Baedekers,
 der dabei Realität und Gedankenwelt vermischt.
 Davon ausgehend kann der mittlere Abschnitt also als zentral betrachtet werden.


     4.1    „Immersion“
     Basis der Possible Worlds Theory von Ryan ist das während des Leseprozesses
     stattfindende Eintauchen des Lesers in den Lesestoff, bei Ryan immersion genannt.
     Sie vergleicht das Öffnen eines Buches mit dem Beginn einer Reise, von der man für
     lange Zeit nicht zurück kommt.31 Damit diese Reise beginnen kann, muss der Text
     eine Welt eröffnen, das heißt eine textuelle Welt anbieten, in die der Leser eintauchen
     kann: „To speak of a textual world means to draw a distinction between a realm
     of language, made of names, definite descriptions, sentences, and propositions, and
     an extralinguistic realm of characters, objects, facts, and states of affairs serving


30
      Linder 2010.
31
      Ryan 2003, S. 2.
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                         11


 as referents to the linguistic expressions.32 Die textuelle Welt, von der Ryan hier
 spricht, ist das narrative Universum, das ein Autor erschaffen kann, und in das ein
 Leser eintauchen kann. Auch andere Autoren beschreiben den Prozess der immersion
 als Grundlage für das Entstehen möglicher Welten: „As [users] enter the virtual
 world, their depth of engagement gradually meanders away from here until they
 cross the thresh-old of involvement. Now they are absorbed in the virtual world.“ 33
 Ken Pimentel und Kevin Teixeira schreiben hier von einer Absorbierung des Leser in
 eine virtuelle Welt. Doch eine solche Absorbierung oder immersion ist nur möglich,
 wenn der Leser bereit ist, sich darauf einzulassen. In diesem Zusammenhang ist die
 These von Samuel Tylor Coleridge von Bedeutung, wobei allerdings seine Auffassung
 des Willing Suspension of Disbelief nach wie vor umstritten ist. Seine These besagt,
 dass ein Leser eine Art Vertrag abschließt, wenn er ein Buch rezipiert. Er erklärt
 sich bereit, die Vorgaben eines fiktionalen Werkes vorübergehend zu akzeptieren,
 selbst wenn diese fantastisch oder unmöglich sind. Der Rezipient willigt ein, sich auf
 eine Art Illusion einzulassen, um dafür gut unterhalten zu werden. Dann erzeugt der
 „willing suspension of disbelief for the moment (...) poetic faith.“ 34

 Ist diese Bereitschaft des Leser gegeben, kann er in einen Text eintauchen. Diejenigen
 Texte, die dem Leser vertraut erscheinen, können dabei besonders eindringlich sein.
 Ein Grund hierfür liegt an der dadurch gegebenen besseren Zugänglichkeit des Textes,
 die dafür sorgt, dass es dem Leser leichter fällt in die textuelle Welt einzutauchen,
 Zusammenhänge zu verstehen und sich mit Charakteren zu identifizieren.35 Bei
 „Paradiese, Übersee“ ist die Bereitschaft des Leser auf besondere Weise gefordert. Der
 Roman spielt in der Gegenwart, und dennoch wird der Leser mit einem Ritter in
 Rüstung konfrontiert. Die ansonsten zumeist alltägliche und gewöhnliche Welt wird
 durchbrochen mit Elementen der klassischen Fabel, so kann ein Hund sprechen und
 ein Fabeltier namens Berbiolette wird gejagt. Die verworrene und bis zuletzt nicht
 aufgelöste Struktur des Plots erschweren den Prozess der immersion weiter. Und wenn
 der Leser gerade glaubt, er hätte den roten Faden gefunden und wüsste nun, worauf
 der Roman hinaus will, verwirft ein Zeitsprung oder ein Perspektivwechsel diese
 Klarheit, und der Leser wird erneut mit obscuritas und Ambivalenzen konfrontiert.


32
     Ryan 2003, S. 3.
33
     Pimentel/Teixeira 1994, S. 15.
34
     Coleridge 1985, S. 14.
35
     Ryan 2003, S. 7ff.
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                            12


     4.2   Recentering
 Was bedeutet es nun für den Leser, in eine „andere Welt“ einzutauchen? Die Antwort
 liegt in einer weiteren Grundannahme der Possible Worlds Theory von Ryan. Die
 Basis ihrer Theorie ist der Gedanke, dass die Realität ein Universum aus einer
 Pluralität von Welten ist, die hierarchisch gegliedert sind. Im Zentrum steht die
 actual world, die von possible worlds umkreist wird, die verschieden weit von der
 actual world entfernt sind.36
 Texte, beispielsweise Romane, entwerfen ebenfalls eine solche possible world, die
 unsere tatsächliche Welt umkreist: „If we regard the actual world as the center of a
 modal system, and APWs [actual possible worlds, Anm. d. V.] as satellites revolving
 around it then the global universe can be recentered around any of its planets.“ 37 Ein
 sogenanntes recentering ist also auf jede possible world möglich, auch auf literarische
 Welten. Taucht ein Leser in ein literarisches Werk ein, dann findet eine Rezentrierung
 statt, und die Text-Welt ist damit nicht mehr nur eine mögliche Alternative, sondern
 ein neues System, auf das sich der Leser einlässt. Ryan nennt diese Welt die textual
 actual world. Innerhalb der textual actual world, die zum Zentrum des neuen Systems
 wird, gibt es, wie bereits gesagt, wieder mögliche Welten die daran anschließen. „Im
 Roman werden ständig Geschichten erzählt, schließlich bauen wir die Welt durch
 Geschichten, nicht durch Geographie.“ 38 , sagt Felicitas Hoppe, und spricht damit
 genau diese möglichen Welten an. Narrative Texte besitzen also ihre ganz eigene, aus
 einer tatsächlichen Welt und ihren Alternativen bestehende, Modalstruktur. Nur aus
 der Perspektive der actual world handelt es sich nach wie vor um eine possible world.
 Auf dieser Basis erstellt Ryan eine Definition von Fiktionalität:

       1. There is only one AW [actual world, Anm. d. Verf.]

       2. The sender (author) of a text is always located in AW.

       3. Every text projects a universe. At the center of this universe is TAW.

       4. TAW is offered as the accurate image of a world TRW [textual referential world,
          in fiktionalen literarischen Weken deckungsgleich mit der TAW, Anm. d. Verf.],
          which is assumed (really or make-believe) to exist independently of TAW.

       5. Every text has an implied speaker (defined as the individual who fulfills the
          felicity conditions of the textual speech achts). The implied speaker of the text


36
     Ryan 2003, S. 11.
37
     Ryan 1991, S. 18.
38
     Linder 2010.
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                                      13


           is always located in TRW.39

 Ausgehend von dieser Definition von fiktionalen Texten kann „Paradiese, Übersee “
 eindeutig dieser Textsorte zugeordnet werden. Felicitas Hoppe, Autorin in der actual
 world, entwirft ein Text-Universum, in dessen Zentrum sich (nach dem recentering)
 eine textual actual world (beziehungsweise textual referential world, bei fiktionalen
 Texten sind diese beiden Welten identisch) befindet. Das ist die Welt rund um
 Wilwerwitz, in der der Kleine Baedeker lebt. Dabei kommuniziert Hoppe – trotz
 der Multiperspektivität des Romans – als substitute speaker über Sprechakte mit
 dem substitute hearer. Beide Abbilder der Teilnehmer, also sowohl substitute speaker
 und substitute hearer, befinden sich in der textual referential world. Damit der Leser
 Zugang zur textual actual world findet, benötigt er eine Zugangsrelation zum Text.


     4.3     Accessibility Relations
 Eine zur Realität alternative Welt, also auch alle textual actual worlds, ist mit der
 tatsächlichen Welt über diese sogenannten Zugangsrelationen verbunden. Steht eine
 Welt nicht in einer bestimmten Zugangsrelation zur actual world wird sie in der
 Philosophie auch nicht als eine possible world betrachtet. In der Modallogik wird
 unter der Zugangsrelation nur die „Einhaltung logischer Gesetze, d.h. die Erfüllung
 von Widerspruchsfreiheit und des Grundsatzes der ausgeschlossenen Mitte (excluded
 middle), verstanden.“ 40 Eine possible world darf also keine kontradiktorischen Aussa-
 gen enthalten; Aussagen können entweder wahr oder falsch, aber nicht gleichzeitig
 wahr und falsch sein.
 Ryan differenzierte die Theorie der accessibility relations weiter aus. Für sie ist
 in einem fiktionalen Universum alles möglich – so lange es nicht unmöglich ist.41 .
 Auch für sie darf eine possible world also keine Widersprüche enthalten (logical
 compatibility).
 Zusätzliche Zugangsrelationen sind für Ryan identity of properties, identity of invento-
 ry und compatibility of inventory sowie chronological, physical, taxonomic, analytical
 und linguistic compatibility.42 In dem besonderen Fall, in dem sowohl eine identity
 of properties als auch eine identity of inventory gegeben ist, also in der textual


39
      Ryan 1991, S. 25.
40
      Surkamp 2002, S. 155.
41
      Vgl. Ryan 2003, S. 31.
42
      Ryan schlägt außerdem weitere mögliche Kandidaten vor, die eine Zugangsrelation sein könnten:
     Historical Coherence, psychological credibility und socio-economic compatibility. Da diese nicht
     vollständig ausgearbeitet und umstritten sind, werden sie in dieser Hausarbeit nicht im Detail
     berücksichtigt.
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                                      14


     actual world dieselben Objekte mit denselben Eigenschaften vorhanden sind, sind
     die beiden Welten identisch. Dies zu erreichen sollte das Ziel von nicht-fiktionalen
     Texten, also beispielsweise von historischen Darstellungen, Biographien und journalis-
     tischen Berichten, sein.43 Fiktionale Texte unterscheiden sich mindestens durch eine
     Zugangsrelation von der actual world.44 Je nachdem, welche Zugangsrelationen wie
     intensiv gegeben sind, spiegelt die textual actual world die actual world mehr oder
     weniger wieder und ist damit auch für den Leser mehr oder weniger zugänglich. „The
     distance between AW and TAW, as measured by accessibility relations, thus provides
     a fairly reliable indicator of fictionality, but not an absolute criterion.“ 45 Außerdem
     spiegeln die Zugangsrelationen, wie Ryan schreibt, die Entfernung zwischen textual
     actual world und actual world wieder.

     Die meisten der von Ryan genannten Zugangsrelationen sind bei „Paradiese, Übersee“
     nicht gegeben, was auch einer der Gründe dafür ist, dass Hoppes Roman schwerer
     zugänglich ist als viele andere Romane. Probleme bei der Bestimmung der Zugangsre-
     lationen ergeben sich außerdem dadurch, dass im ersten und dritten Teil des Romans
     ein „unknowable center “ 46 vorliegt. Das bedeutet, dass nicht klar ist, aus wessen
     Perspektive die textual referential world momentan beschrieben wird. Im Detail
     gestalten sich die Zugangsrelationen nach Ryan folgendermaßen:

     Identity of properties: Wenn diejenigen Objekte, die sowohl in der actual world
     als auch in der textual actual world vorkommen, dieselben Eigenschaften haben, dann
     gibt es eine identity of properties.
     Diese Zugangsrelation ist bei Hoppes Roman überwiegend gegeben: Grundlegende
     Objekteigenschaften der in beiden Welten existenten Objekten sind identisch. Den-
     noch ist Hoppes Umgang mit Objekten und Objekteigenschaften eigentümlich. Sie
     lässt in ihrem Roman aus Metaphern stammende Objekte wahr werden, indem sie
     beispielsweise die Welt zur Bühne macht. Aufgrund dessen kann nicht von einer
     vollständigen identity or properties gesprochen werden.

 Identity of inventory: Diese Zugangsrelation ist dann gegeben, wenn in beiden
 Welten die gleichen Objekte existieren.
 Festzustellen, inwieweit diese Zugangsrelation bei Hoppes Werk gegeben ist, fällt


43
      Vgl. Ryan 1991, S. 33.
44
       Selbst wenn der Autor einen Text verfasst, in dem er die tatsächliche Welt mimetisch abbildet,
     unterscheiden sich die beiden Welten, denn nur in der actual world gibt es einen Autoren, der
     versucht die tatsächliche Welt mimetisch abzubilden und dies auch tut.
45
      Ryan 1991, S. 46.
46
      Ebd., S. 40.
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                            15


aus mehreren Gründen schwer. Zum einen tauchen im Roman vorwiegend Objekte
auf, die in der actual world bekannt sind – allerdings stammen sie aus verschiedenen
Epochen und dieselben Objekte tauchen in verschiedenen Zusammenhängen an
verschiedenen Orten auf. Zum anderen gibt es in „Paradiese, Übersee“ Objekte, die in
der actual world nicht existieren, als Beispiel sei hier die Schürze der Schwester aus
Berbiolettenfell genannt. Diese Zugangsrelation ist also ebenfalls nur bis zu einem
gewissen Grad gegeben.

Compatibility of inventory: Tauchen in einer textual actual world dieselben
Objekte wie in der actual world (identity of inventory) zusammen mit zusätzlichen,
in der textual actual world natürlichen, Objekten auf, dann liegt eine compatibility
of inventory vor.
Diese Zugangsrelation ist, wie der vorige Absatz zu identity of inventory bereits
nahelegt, gegeben.

Chronological compatibility: Chronologie ist dann eine gültige Zugangsrelation,
wenn dem Leser ohne eine temporale Neuorientierung volles Verständnis der Historie
der textual actual world möglich ist.
Diese Zugangsrelation ist nicht gegeben. Das liegt insbesondere an der nur rudimentär
vorhandenen Historie und Chronologie der im Roman auftauchenden Ereignisse und
der Vermischung von geläufigen alltäglichen Elementen mit – chronologisch und
räumlich betrachtet – nicht passenden Elementen. Ein Beispiel ist der Ritter, der
eigentlich eine Figur des Mittelalters ist. Interpretiert man den Ritter als rein
metaphorische Figur ist die chronologische Kompatibilität zumindest teilweise eine
gültige Zugangsrelation, allerdings nur unter der Prämisse, dass das principle of
minimal departure (Vgl. 4.4 Principle of Minimal Departure) gilt und bei Hoppes
Roman zu Recht mit ins Kalkül gezogen wird.

Physical compatibility: Teilen beide Welten dieselben physikalischen Gesetze,
ist diese Zugangsrelation vorhanden.
Allgemeine Gesetze wie das der Schwerkraft haben in „Paradiese, Übersee“ ebenso
Gültigkeit wie in der actual world. Ins Wanken gerät die physikalische Konsistenz
der Welt allerdings beispielsweise dann, wenn ein Floß von Indien bis Luxemburg,
treibt oder Menschen in Kiepen einfach verschwinden. Rein rational und bezogen
auf die faktuale Ebene der Welt, ist diese Zugangsrelation also nicht gegeben.

Taxonomic compatibility: Der Begriff der Taxonomie ist hier im biologischen
Sinn zu verstehen: Diese Zugangsrelation ist also dann eine Verbindung zwischen
den beiden Welten, wenn beide die gleichen Gattungen und Arten beinhalten, die in
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                            16


beiden Welten außerdem die gleichen Eigenschaften haben.
Ein Problem mit der Zugänglichkeit über die Taxonomie ergibt sich im Roman
spätestens dann, wenn die Berbiolette erstmals im Roman Erwähnung erfindet, ein
lebendes Fabeltier mit einem ebenso bunten wie wärmendem Fell. Da es ein solches
Geschöpf in der actual world nicht gibt, ist diese Zugansrelation ebenfalls nicht
gegeben.

Logical compatibility: Die Kompatibilität der Logik meint, dass auch in der
textual actual world die Gesetze der ausgeschlossenen Mitte und des Widerspruchs
gelten.
Kontradiktorische Aussagen innerhalb von Hoppes Roman scheinen darauf hinzudeu-
ten, dass die Gesetze der Logik in dieser textual actual world nicht gleichermaßen
gelten wie in der actual world. Diese Widersprüchlichkeiten lassen sich aber dadurch
auflösen, dass sie bei genauer Betrachtung nur dann Widersprüche sind, wenn sie in
derselben Welt gleichzeitig wahr sind. Durch die verschiedenen disparaten Welten in
Hoppes Roman, die oft durch Träume oder Geschichten in der Geschichte erzeugt
werden, sind die kontradiktorischen Aussagen in verschiedenen Welten wahr – eine
These, die an Goodmans Ansatz zur Possible Worlds Theory erinnert.

Analytical compatibility: Wenn beide Welten analytische Wahrheiten gemein-
sam haben, gibt es eine analytical compatibility.
Auch bei dieser Zugangsrelation kommt es beim Roman zu Problemen. Zwar teilen
die actual world und die literarische Welt Hoppes einige analytische Wahrheiten,
aber in einigen besonderen Fällen widersprechen Szenen aus „Paradiese, Übersee“
analytischen Wahrheiten der actual world. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn
im zweiten Teil des Buches der Vater des Kleinen Baedekers vom Dach fällt, und
mehrere Tage tot am Boden liegt. Plötzlich jedoch steht er auf, als wäre nichts
geschehen, nur dass sein Gesicht Schaden genommen hat. Auch diese Zugangsrelation
ist also nicht gänzlich gegeben.

Linguistic compatibility: Die textual actual world ist von der actual world aus
linguistisch zugänglich, wenn die Sprache, in der die textual actual world beschrieben
wird, in der actual world verstanden wird.
Handelt es sich bei einem literarischen Werk beispielsweise um ein dadaistisches
Werk oder ein rein auf Lautmalerei oder Fantasiewörtern basierendes Werk, dann
ist diese Zugangsrelation nicht gegeben. Hoppe bedient sich allerdings allgemein
verständlicher, deutscher Sprache, so dass hier der Leser keine Probleme mit der
Zugänglichkeit des Romans hat.
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                                     17


     4.4     Principle of Minimal Departure
 Text-Welten sind neben den Zugangsrelationen immer auch dadurch für einen Leser
 zugänglich, weil er alles, was er über die Realität weiß, in das Text-Universum inte-
 grieren kann. Und nicht nur das: Der Leser füllt die Lücken einer textual referential
 world mit seinem Wissen über die actual world aus.
 Die in narrativen Texten entworfenen Welten sind im Gegensatz zur actual world
 logisch und semantisch unvollständig. Ruth Ronen führt dies weiter aus: „Fictional
 entities are logically incomplete because many conceivable statements about a fic-
 tional entity are undecidable. A fictional entity is semantically incomplete because,
 being constructed by language, characteristics and relations of the fictional object
 cannot be specified in every detail.“ 47 Der Leser wird also ständig mit ontologischen
 Unvollständigkeiten konfrontiert, da „Figuren, Objekte und Ereignisse in narrativen
 Welten nicht in jeder Hinsicht bestimmt“ 48 sind. Ryan löst diese Problematik mit dem
 principle of minimal departure – zumindest teilweise – auf. Dieses Prinzip besagt,
 dass Leser eine grundlegende Ähnlichkeit zwischen ihrer eigenen Welt und der textual
 referential world annehmen, so lange der Texte ihnen keine anderen Signale gibt.
 Ryan dazu: „This law – to which I shall refer as the principle of minimal departure -
 states, that we reconstrue the alternate possible worlds of nonfactual statements: as
 confirming as far as possible to our representation of AW.“ 49 Ryan betrachtet die
 Lücken in Text-Universen damit nicht als Lücken, sondern als Projektionsfläche für
 den Leser, als Stellen, die damit implizit die nötigen Informationen enthalten.50 Dies
 bringt allerdings zwei Probleme mit sich, die Ryan nicht thematisiert: Einerseits
 greift jeder Leser auf einen anderen Bezugsrahmen in der tatsächlichen Welt zu,
 ergänzt die Lücken also sehr individuell, und andererseits kann so nur ein Teil der
 unbestimmten Stellen aufgelöst werden; so ist ein Leser beispielsweise nicht in der
 Lage fehlendes Faktenwissen (wie der Geburtstag eines Charakters) zu ergänzen.51

     Hoppe selbst ist sich der Funktionsweise des Prinzips bewusst, und setzt dieses Wis-
     sen in ihrem Roman ein. Sie verlässt sich auf die Vorstellungs- und Assoziationskraft
     ihrer Leser, und gibt diesem damit im Roman Raum für eigene Projektionen. Der
     Leser ist nicht nur als passiver Rezipient, sondern auch als aktiver Interpret gefordert.


47
      Ronen 1994, S. 114.
48
      Pavel 1983, S. 51ff.
49
      Ryan 1991, S. 51.
50
      Das principle of minimal departure findet keine Anwendung bei der Frage nach einem Ich-Erzähler.
     Der Leser soll hier also nicht den Autor an die Stelle des Erzählers imaginieren, auch wenn dies
     nach dem principle of minimal departure die naheliegendste Annahme wäre.
51
      Vgl. Surkamp 2002, S. 164.
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                            18


 Insbesondere wenn es um die geographischen Welten geht, die Hoppe erzeugt, nutzt
 sie zur Ausgestaltung der Welten kaum klassische Mittel der Plausibilisierung. Statt
 dessen platziert sie Worthülsen und Namen, ohne diese weiter zu spezifizieren oder
 zu beschreiben. Der Wald in Luxemburg unterscheidet sich in ihrem Roman von
 dem Wald in Indien nur dadurch, dass der Leser um die geographische Lage des
 Waldes weiß – und damit auch entsprechend verschiedene Vorstellungen der beiden
 Wälder hat. Dabei geht der Leser von Bildern aus, die er bereits kennt, also Bildern
 der actual world. Wir haben bei den accessibility relations festgestellt, dass fast alle
 Zugangsrelationen im Roman nicht gegeben sind. Dennoch findet der Leser durch
 das principle of minimal departure einen Zugang zu den Welten des Romans.


     4.5    Narrative Semantik
     Die Theorie der narrativen Universen lässt sich nicht nur auf die textual actual
     world eines literarischen Werkes anwenden, sondern auch auf die darin enthaltenen,
     internen Welten. Alternate possible worlds involvieren mentale Aktivitäten wie die
     Imaginationskraft des Autors. Für die alternate worlds einer textual actual world
     gilt dasselbe. Wann immer innerhalb des Texts durch mentale Aktivitäten eine
     mögliche Welt geschaffen wird, ist diese eine alternate world zur textual actual world,
     die wiederum eine alternate world zur actual world ist. Dieser Aspekt von Ryans
     Possible Worlds Theory hat gleichzeitig auch Auswirkungen auf die vermeintlich
     faktualen Elemente einer textual world. In der Anwendung der Theorie muss sehr
     genau unterschieden werden, welche Objekte und Eigenschaften tatsächlich zur
     faktualen textual referential world gehören, und welche auf Ansichten, Meinungen,
     Halluzinationen, Träumen und anderen mentalen Konstrukten erzählender Instanzen
     beruhen. Ryan beschreibt fünf solche Arten,52 wie solche nicht-faktualen Welten
     innerhalb eines narrativen Universums entstehen können:

     F-universes: Die f-universes enthalten pretended worlds, die auf mentalen Kon-
     strukten wie Träumen, Halluzinationen, Fantasien und fiktionalen Geschichten basie-
     ren. Diese Konstrukte sind nicht nicht nur alternate textual worlds, die die textual
     actual world umkreisen, sondern erschaffen neue textual actual worlds. Hier findet also
     wieder der Prozess des recentering statt, und wieder können die Zugangsrelationen
     geprüft werden. Dennoch stehen diese Welten oft nicht unabhängig von der textual
     actual world. Haben die pretended worlds beispielsweise metaphorische Bedeutung
     für den Plot, verweisen sie auf das primäre narrative System der ersten textual actual
     world zurück.


52
      Vgl. Ryan 1991, S. 114ff.
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                           19


In Hoppes Roman finden sich zu Hauf f-Universen, verstärkt im ersten und im
letzten Teil des Buches. Im mittleren Teil gibt es ebenfalls eine solche Geschichte
in der Geschichte: Der Kleine Baedeker, Reiseführer in Wilwerwitz, erzählt den
Reisegruppen die Geschichte der vergrabenen Glocke. Einer Sage nach schlägt diese
in unregelmäßigen Abständen, und auserwählte Hörer können, wenn sie ihr Ohr
auf den Boden pressen, das Schlagen der Glocke hören. Der Kleine Baedeker ist
von dieser Geschichte überzeugt, und bildet sich ein, das Läuten der Glocke selbst
manchmal zu hören. Die Geschichte der Glocke ist eine Geschichte innerhalb der
Geschichte, und theoretisch kann ein recentering in diese Geschichte stattfinden, so
dass diejenige Welt, in der die Glocke tatsächlich vergraben in manchen Momenten
läutet, zu einer neuen textual actual world wird.
Folgt man dem Interpretationsansatz, dass der erste und der dritte Teil des Buches
dem Kopf des Kleinen Baedeker entspringen, und eine Mischung seiner Fantasien,
Träume und Erinnerungen sind, so müssen diese beiden Welten konsequenterweise als
eigenständige f-Universen betrachtet werden, die wiederum ihre eigenen f-Universen
enthalten – beispielsweise wenn im ersten Teil der Pauschalist im Fieberwahn träumt.

K-World: Die k-world eines Charakters umfasst seine Kenntnisse und Fähigkeiten.
Eine knowledge-world eines Charakters ist dann eine notwendige neue world, wenn
sie rein aus dem Wissen, aus bekannten Propositionen, eines Charakters besteht.

O-World: O-world steht für obligation-world und bezeichnet das Verpflichtungs-
system eines Charakteres, der sowohl sozialen Regeln nachkommen muss, als auch
eigene moralische Prinzipien hat. Diese Regulierungen spezifizieren Aktionen als
erlaubt (möglich), verpflichtend (notwendig) oder verboten (unmöglich). Gehört ein
Charakter zu verschiedenen Gruppen, die verschiedene soziale Regeln haben, kommt
es zu Konflikten innerhalb der o-world eines Charakters.

W-World: Die Wünsche (gut, schlecht oder neutral) eines Charakters befinden
sich in der w-world. Diese Welt ist im Vergleich zu den anderen Welten recht flexibel,
was unter anderem einen Grund darin hat, dass Wünsche zu verschiedenen Graden
erfüllt werden können. Auch hier gibt es, wie bereits bei den o-worlds, inhärentes
Konfliktpotential durch mögliche Inkonsistenz der Wünsche.

I-World: Die Intentionswelt eines Charakters beinhaltet dessen auf die Zukunft
gerichteten Absichten und Pläne, die er versucht umzusetzen. Meistens beziehen sich
diese Pläne auf die Auflösung eines Konfliktes. (Vgl. 4.6 Plot- und Konflikttheorie)

Wie die plotrelevanten private worlds des Kleinen Baedekers entworfen sind, wird im
4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“                                            20


     nächsten Abschnitt zur Konflikttheorie behandelt. Doch zuvor muss geklärt werden,
     was ein Plot überhaupt ist.


     4.6    Plot- und Konflikttheorie
 Die Plot- und Konflikttheorie von Ryan spielt dann eine Rolle, wenn es um die
 Verbindungen zwischen der textual actual world und den private worlds geht.53 Aus
 der Sicht der Charaktere nehmen diese an einer Art Spiel teil, dessen Ziel es ist,
 möglichst Deckungsgleichheit zwischen der textual actual world und ihren jeweiligen
 private worlds (ohne die f-universes) herzustellen. Herrscht kein Konflikt zwischen
 mindestens einer der Propositionen einer private world mit der zentralen Welt kann
 sich kein spannender Plot entfalten. Sind die Konflikte dann noch produktiv, das
 heißt durch den Charakter lösbar, kann dieser moves unternehmen, um den Konflikt
 aufzulösen. „Der Plot eines narrativen Textes erfaßt somit die Relationen zwischen
 den Wissens-, Wunsch-, Pflichten- und Intentionswelten der Figuren, die nicht sta-
 tisch, sondern Veränderungen unterworfen sind.“ 54 Es liegt außerdem in der Natur
 einer Erzählung, dass sie eine letztendlich chronologische Abfolge von Zuständen und
 Ereignissen beschreibt, die die Geschichte des narrativen Universums konstituieren
 und auf das Auflösen von Konflikten hinzielen. Ryan unterscheidet zwei Arten von
 Konflikten: „The primary level of conflict is between TAW and one of the worlds of a
 private domain. Whenever conflict exists objectively in a textual universe, it is found
 on this level.“ 55 Neben dem Konflikt zwischen der textual actual world und einer
 private world gibt es noch Konflikte der zweiten Ebene. Darunter fallen Konflikte
 innerhalb einer private world eines Charakters, zwischen zwei private worlds eines
 Charakters und zwischen zwei private worlds von verschiedenen Charakteren.
 Dass manche Plots besser, spannender und interessanter sind als andere, kann auf die
 Konflikte und die vorhandenen private worlds zurückgeführt werden. Ryan spricht in
 diesem Zusammenhang von der sogenannten „tellability“ von Plots: „The diversificati-
 on of the narrative universe thus constitutes the most basic condition of tellability.“ 56
 Tellability, die entscheidendes Qualitätsmerkmal von Plots ist, entsteht also durch
 eine Mannifgaltigkeit an private worlds und Konflikten, möglichen Lösungen und –
 und dieser Punkt ist der wichtigste – „embedded narratives, also eingebettete Erzäh-
 lungen.


53
      Vgl. Ryan 1991, S. 119ff.
54
      Surkamp 2002, S. 171.
55
      Ryan 1991, S. 120.
56
      Ryan 1991, S. 156.
5 PRAKTIKABILITÄT BEI POSTMODERNEN ROMANEN                                      21


 Damit ist Komplexität und erzählerische Dichte ein wichtiges Merkmal von tellability
 – und beides kann Hoppes Roman vorweisen. Dennoch ist es problematisch in diesem
 Zusammenhang von tellability zu sprechen. Die Definition von Plot setzt voraus, dass
 eine chronologische Abfolge von Ereignissen zumindest im Nachhinein rekonstruiert
 werden kann. Eine solche „Nacherzählung“ der Geschehnisse in einer sinnvollen,
 zeitlich richtigen Abfolge ist aber bei „Paradiese, Übersee“ nur schwer möglich, da
 Hoppe disparate und fragmentarische Welten entwirft. Damit beinhaltet Hoppes
 Roman im Sinne der Possible Worlds Theory keinen durchgehenden klassischen Plot,
 sondern für sich stehende Plotelemente, deren sinnvolle Verknüpfung aber ausbleibt.

     Die für den Plot notwendigen Konflikte hingegen gibt es in Hoppes Roman. Exem-
     plarisch werden hier zwei der Konflikte der beiden Ebenen, die die private worlds
     des Kleinen Baedekers involvieren, vorgestellt:
     Ein Konflikt der ersten Ebene besteht zwischen der knowledge-world des Kleinen
     Baedekers und der textual actual world. Der Kleine Baedeker möchte einen Brief
     an den Ritter übergeben, von dem er glaubt, dass er von seiner Schwester geliebt
     wird. Der Kleine Badeker weiß aber nicht, wo der Ritter zu finden ist, und kann im
     mittleren Teil des Buches nicht über seinen Schatten springen und sich auf die Suche
     begeben. Zu groß ist seine Angst vor der Welt außerhalb von Wilwerwitz, in der er
     sich nicht zurechtfindet.
     Ein Konflikt zweiter Ordnung ist beispielsweise der innere Zwiespalt des Kleinen
     Baedekers innerhalb seiner o-world. Seine Eltern, die bereits einen Sohn und ihre
     Tochter an die abenteuerverheißende Welt verloren haben, wünschen sich, dass der
     Kleine Baedeker in Wilwerwitz bei der Familie bleibt. Insbesondere die Mutter hat
     schwer mit dem Auszug ihrer anderen beiden Kinder zu kämpfen. Der Bruder und die
     Schwester des Kleinen Baedekers wollen ihn dazu bewegen seinen Schulabschluss zu
     machen, und dann in die Welt hinauszuziehen. Beiden fühlt sich der Kleine Baedeker
     verpflichtet, so dass es zu einem Konflikt innerhalb seiner o-world kommt.




     5    Praktikabilität bei postmodernen Romanen
     Carola Surkamp vertritt explizit die Meinung, dass die Possible Worlds Theory
     geeignet ist, die fragilen Welten postmoderner Romane zu beschreiben. Sie gesteht
     allerdings zu, dass „die PWT auf den ersten Blick unvereinbar mit postmodernen
     Narratologien [scheint], die sich gegen jegliche Vorstellung von Hegemonie, Logozen-
     trismus und eine damit einhergehende negative Bewertung von Peripherien stellen.“ 57


57
      Surkamp 2002, S. 177.
5 PRAKTIKABILITÄT BEI POSTMODERNEN ROMANEN                                    22


 Surkamp spielt damit auf Philosophen wie Goodman an, die sich gegen eine Theorie
 wenden, die ein Modalsystem mit einem Zentrum und umkreisenden möglichen
 Welten propagiert.
 Nelson Goodman spricht „der Theorie möglicher Welten (...) jegliches heuristisches
 Potential mit der Begründung ab, daß der Glaube an mögliche Welten die Existenz
 oder zumindest die Zugänglichkeit einer actual world voraussetze bzw. akzeptiere, daß
 die actual world die beste oder zumindest die einzige ist.“ 58 Goodman hält diese Prä-
 missen im Zeitalter der Postmoderne für nicht tragbar, da er hier von einer Vielheit
 gleichzeitig wahrer Welten ausgeht, die miteinander konkurrieren. Und tatsächlich
 scheint seine Theorie die fragilen und instabilen Realitäten postmoderner Werke wie
 „Paradiese, Übersee“ gut zu beschreiben: Hassans Unbestimmtheit, Fragmentierung
 und Auflösung, sowie Grabes Fremdartigkeit der Werke mit einer Relativierung des
 Vertrauten als Merkmale postmoderner Werke können durch eine Vielheit von Welten
 genauso beschrieben und erklärt werden, wie eine Pluralität der vermittelnden Instan-
 zen. Auch Lyotards Ansatz, der den Verlust der Meta-Erzählungen beinhaltet und
 damit nur noch von Weltenfragmenten und ungeschlossenen Weltenbeschreibungen
 ausgeht passen zum Konzept einer Vielheit an Welten. Als Werkzeug zur Offenlegung
 und Charakterisierung von komplexen narrativen Welten eignet sich sein Ansatz
 jedoch weniger gut, als der differenzierte Ansatz von Ryan.
 Ihre Possible Worlds Theory erlaubt bei der Beschreibung von Multiperspektivität
 sowohl die Einbeziehung der „inhaltlichen Beschaffenheit jeder individuellen Figuren-
 und Erzählersicht auf die fiktionale Wirklichkeit als auch die Erfassung der (...)
 unterschiedlichen Versionen des Geschehens“,59 und geht damit weit über die in ande-
 ren narrativen Theorien übliche Beschreibung der multiplen Vermittlungsinstanzen
 hinaus. Das ist eine Leistung von Ryans Possible Worlds Theory, die insbesondere
 bei postmodernen Romanen, die durch Multiperspektivität charakterisiert sind, von
 großem Nutzen bei der Beschreibung ist.
 Auch ist Ryans Konzept geeignet zu erklären, warum manche Romane für Leser
 schwieriger zugänglich sind als andere. Über die accessibility relations kann genau
 ausgemacht werden, auf welche Weise sich die textual actual world von der actual
 world und damit auch von der Zugänglichkeit durch den Lesers entfernt.

     Dennoch hat der vorangehende Abschnitt 4 Applikation auf „Paradiese, Übersee“
     auch aufgezeigt, wo die Probleme in der Anwendung der Possible Worlds Theory
     auf einen postmodernen Roman wie „Paradiese, Übersee“ liegen: Teile ihrer Theorie
     können nicht oder nur teilweise appliziert werden, da der Inhalt von Hoppes Roman


58
      Ebd., S. 178.
59
      Ebd., S. 175.
6 FAZIT                                                                           23


 nicht mit Ryans Definition von Plot vereinbar ist.
 Ein weiteres Problem liegt in der Komplexität der Plotelemente und Figurendomänen
 im Roman. Würde man versuchen, Ryans Theorie der narrativen Universen auf den
 Roman anzuwenden, müsste man sicher zwischen der textual referential world, der
 textual actual world, den private worlds und den pretended worlds unterscheiden kön-
 nen. Durch die verschiedenen Autoritätsgrade der erzählenden Instanzen, die starke
Vermischung von subjektiven Eindrücken mit Faktualem und der Unklarheit darüber,
 aus wessen Perspektive berichtet wird, ist dies eine nahezu unlösbare Aufgabe. Der
Versuch die narrativen Universen korrekt abzubilden ist bei „Paradiese, Übersee“ zum
 Scheitern verurteilt. Dies trifft jedoch nicht generell auf postmoderne Romane zu.
 Hoppes Roman ist stärker von Multiperspektivität und der Nebeneinanderstellung
von disparaten Welten geprägt, als andere postmoderne Romane wie Ilja Trojanows
„Weltensammler“ oder „Im Kongo“ von Urs Widmer. Bei diesen Romanen wäre eine
Aufschlüsselung der narrativen Universen möglich.

Da „Paradiese, Übersee“ ein so extremes Beispiel für die Ausprägungen postmoderner
Literatur ist, können die hier vorhandenen Probleme bei der Anwendung der Possible
Worlds Theory nicht auf postmoderne Literatur im Allgemeinen generalisiert werden.


6    Fazit
Die Possible Worlds Theory eignet sich, um die Welten narrativer Texte zu beschrei-
ben. Sie zeigt auf, dass ein Leser beim Rezipieren eines Buches in den Text eintauchen
kann, wenn dieser Text mögliche Welten entwirft, die zugänglich sind. Zugänglichkeit
entsteht dann, wenn mindestens eine, besser mehrere, Zugangsrelationen erfüllt sind.
Die Welten, die ein Roman entwirft, können mit Hilfe von narrativen Universen
beschrieben werden, die durch recentering im Zentrum eine textual actual world
haben, die von alternate possible worlds, die teilweise wiederum zu einem neuen
Zentrum eines neues Systems werden können, umkreist werden. Damit leistet die
Possible Worlds Theory einen Beitrag zu Erklärung von ... Weiterhin können mit Hilfe
der Possible Worlds Theory Plotstrukturen und darin zugrundeliegende Konflikte
ausgemacht werden, und so die tellability eines Romans geprüft werden. Auch – oder
gerade – bei postmodernen Romanen kann die Possible Worlds Theory angewendet
werden um die Multiperspektivität und bei postmodernen Texten den spielerischen
und subversiven Charakter zu erfassen.

Problematisch ist weiterhin allerdings der „Welt“-Begriff. Da er, wie in 1 Hinführung
bereits angedeutet, gleichzeitig Metapher und terminus technicus der Possible Worlds
Theory ist, ist der Umgang mit diesem Begriff oft unsauber und von Ambivalenzen
geprägt. Hier sollte innerhalb der Possible Worlds Theory in Zukunft differenzierter
6 FAZIT                                                                        24


mit dem Begriff umgegangen werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Außerdem
sollte in Zukunft daran gearbeitet werden die Possible Worlds Theory auch für
narrative Texte zu instrumentalisieren, bei denen keine Erzählinstanz mit Autorität
vorliegt. Eine mögliche Lösung könnte hier eventuell die Einführung von a posterio
konstruierten Erzählinstanzen sein.
Dennoch können auch jetzt schon mit der Possible Worlds Theory aufschlussreiche
Kenntnisse gewonnen werden, wie in fiktionalen Texten Welten erzeugt werden.
Literatur                                                                    25


Literatur
Aristoteles: Poetik. Stuttgart: Reclam, 1994, Zweisprachige Ausgabe, übersetzt
und herausgegeben von Manfred Fuhrmann.

Coleridge, Samuel Taylor: Biographia Literaria. 1985.

Döbler,         Katharina:       Papierschiffchen           sind      unsinkbar.,
http://www.zeit.de/2003/16/L-Hoppe.

Doležel, Lubomír: Truth and Authenticity in Narrative. In Poetics today 1:3 1980,
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Doležel, Lubomír: Possible worlds of fiction and history: the postmodern stage.
Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2010.

Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 2007.

Fechner, Frank: Politik und Postmoderne. Postmodernisierung als Demokratisie-
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Grabes, Herbert: Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Post-
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Hassan, Ihab: Postmoderne heute. In Welsch, Wolfgang (Hrsg.): Wege aus der
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Hoppe, Felicitas: Paradiese, Übersee. Frankfurt am Main, 2003.

Kemmann, Ansgar: Evidentia, Evidenz. In Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches
Wörterbuch der Rhetorik. Band 3: Eup - Hör, Tübingen: Niemeyer, 1996, S. 33–47.

Krämer, Sybille: Vom Trugbild zum Topos. Über fiktive Realitäten. In Iglhaut,
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Ostfildern: Cantz, 1995, Reihe Cantz, S. 130–137.

Leibniz, Gottfried Wilhelm: Über die Kontingenz. In Ders.: Philosophische Schrif-
ten 2. Auflage. Herbert Herring, 1986, S. 179–187, Hrsg. u. übers. von Hans Heinz
Holz.

Linder, Annegret: Interview mit Felicitas Hoppe. 2010, Gesprächs-Protokoll auf
Anfrage.
Literatur                                                                     26


Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen: ein Bericht. Vollst. überarb.
Fassung der Übers. in Theatro machinarum 3/4, 1982 Auflage. Graz: Böhlau, 1986,
Edition Passagen; 7.

Lyotard, Jean-François: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–
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Nelson Goodman and, Max Looser: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt am
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Pavel, Thomas: Incomplete Worlds, Ritual Emotions. In Philosophy and Literature
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Pimentel, Ken/Teixeira, Kevin: Virtual Reality. Windcrest, 1994.

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Press, 1994.

Ronen, Ruth: Are Fictional Worlds Possible? In Mihailescu, Calin-Andrei/
Hamarneh, Walid (Hrsg.): Fiction Updated: Theories of Fictionality, Narratology,
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Ryan, Marie-Laure: Narrative as Virtual Reality. Baltimore, London: The Johny
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Solbach, Andreas: Evidentia und Erzähltheorie: die Rhetorik anschaulichen Er-
zählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen. München: Fink, 1994, Figuren;
2.

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alternative Welten. In Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.): Neue Ansätze
in der Erzähltheorie. Trier, 2002, S. 153–183.

Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. 4. Auflage. Berlin: Akad.-Verl.,
1993, Acta humaniora.

Zima, Peter: Moderne, Postmoderne: Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen
[u.a.]: Francke, 1997, UTB; 1967.
Literatur                                                               27


Zimmermann, Anja: Postmoderne. In Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wör-
terbuch der Rhetorik. Band 7: Pos - Rhet, Tübingen: Niemeyer, 2005, S. 1–12.

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  • 1. Hausarbeit Die Possible Worlds Theory und serielles Erzählen bei Eli Stone Philosophische Fakultät Medienwissenschaft Eberhard-Karls-Universität Tübingen
  • 2. Inhaltsverzeichnis 1 Hinführung 1 2 „Paradiese, Übersee“ als postmoderner Roman 1 2.1 Inhalt des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2.2 Postmoderne Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 Possible Worlds Theory 7 3.1 Entstehung der Possible Worlds Theory . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 3.2 Aktuelle Ansätze zur Possible Worlds Theory . . . . . . . . . . . . . 8 4 Applikation auf „Paradiese, Übersee“ 10 4.1 „Immersion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 4.2 Recentering . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 4.3 Accessibility Relations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 4.4 Principle of Minimal Departure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 4.5 Narrative Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 4.6 Plot- und Konflikttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 5 Praktikabilität bei postmodernen Romanen 22 6 Fazit 23
  • 3. 1 HINFÜHRUNG 1 1 Hinführung Im allgemeinen Sprachgebrauch werden Romane, Filme und Serien oft als andere Welten bezeichnet. Welten, die sich von der Welt, in der wir leben, unterscheiden. Welten, in die wir beim Lesen oder Sehen eintauchen, die wir uns vorstellen können. Auch in der Philosophie und der Narratologie werden im Rahmen der Possible Worlds Theory literarische Werke als Welten bezeichnet, wobei hier das Wort „Welt“ nicht mehr nur im rein metaphorischen Sinn für die literarische Welt steht, sondern für eine neue Welt. Für die literarische Rhetorik ist die Possible Worlds Theory von Bedeutung, weil sie sich – wie die Rhetorik – mit dem Möglichen und der Plausibilisierung von Inhalten beschäftigt. Der Leser kann nur dann in eine literarische Welt eintauchen, wenn diese möglich ist und ihm plausibel gemacht wird. Bei bildhaften Romanen beispielsweise der Romantik oder des Sturm und Drang fällt es dem Leser leicht die literarische Welt zu imaginieren. Bei postmodernen Werken hingegen kann es zu Schwierigkeiten kommen, da postmoderne Werke für den Leser oft weniger gut zugänglich sind und mehrere Welten entwerfen. Die Possible Worlds Theory reflektiert diese Schwierigkeiten. Diese Hausarbeit wendet die Possible Worlds Theory von Marie-Laure Ryan auf den Roman „Paradiese, Übersee“ von Felicitas Hoppe an, und versucht anhand der Ergebnisse einige allgemeine Erkenntnisse für die Praktikabilität der Possible Worlds Theory bei postmoderner Literatur zu gewinnen. Hierzu werden in 2 „Paradiese, Übersee“ als postmoderner Roman zunächst der Roman selbst, und anschließend Ansätze zur Postmoderne vorgestellt. Dabei gilt dem philosophischen Ansatz von Jean-François Lyotard besondere Aufmerksamkeit, da dies einer der plausibelsten Ansätze ist. Anschließend gibt die Hausarbeit in 3 Possible Worlds Theory einen Überblick über die Entwicklung der Possible Worlds Theory und die aktuelle Theorie von Marie-Laure Ryan. Diese wird in 4 Applikation auf „Paradiese, Übersee“ im Detail auf Hoppes Roman angewendet und diskutiert. In 5 Possible Worlds Theory bei postmodernen Romanen wird schlussendlich geprüft, inwieweit sich die gewonnenen Erkenntnisse auf postmoderne Romane generalisieren lassen. 6 Fazit fasst die Ergebnisse nochmals zusammen einen Blick auf mögliche weitere Forschungsfragen. 2 „Paradiese, Übersee“ als postmoderner Roman Die Autorin, geboren 1960 in Hameln, reiste – wie ihre Protagonisten – selbst viel um die Welt, unter anderem auch nach Indien, einem der Schauplätze des Romans. Studiert hat sie in Tübingen und den USA. Felicitas Hoppes’ Roman „Paradiese,
  • 4. 2 „PARADIESE, ÜBERSEE“ ALS POSTMODERNER ROMAN 2 Übersee“ erschien 2003, und ist Ritter-, Abenteuer und Gegenwartsroman sowie Märchen. Anklänge an das Nibelungenlied, die Arthussage, Don Quijote und Parzival fallen auf. Die Autorin hatte sich von Aues Iwein inspirieren lassen, einen Ritterroman zu schreiben. Anschließend verfasste sie den ersten und den letzten Satz des Romans, und füllte daraufhin das „Dazwischen“.1 Ihre Vorgehensweise, die Struktur, die Sprache und der Plot des Romans sind außergewöhnlich und eigentümlich. Die Literaturkritikerin Katharina Döbler ist sich sogar nicht einmal sicher, ob es sich bei Hoppes Werk überhaupt um einen Roman handelt.2 Gründe für ihren Zweifel finden sich zuhauf, Hoppes Roman verpflichtet sich keinen Urbildern, die Plotstruktur ist verworren und auch das Ende des Romans gibt Rätsel auf. Im Folgenden wird zunächst der Plot des Romans – so gut dies möglich ist – dargestellt. Anschließend wird der Roman in den Kontext der Postmoderne gerückt, nachdem die Merkmale dieser Epoche herausgestellt wurden. 2.1 Inhalt des Romans Im ersten Teil des Romans mit dem Titel „Übersee“ befinden sich ein Ritter und der sogenannte Pauschalist in Begleitung eines 300jährigen sprechenden Hundes auf der Suche nach dem Forschungsreisenden Dr. Stoliczka und dem Fabeltier Berbiolette. Der Pauschalist schreibt eine wissenschaftliche Arbeit über Dr. Stoliczka, der Ritter transportiert einen Brief. Die beiden schiffen in Lissabon ein, um in Bombay und Kalkutta die Suche fortzusetzen. Im zweiten Teil, betitelt mit „Wilwerwitz“ berichtet der Protagonist, der Kleine Baedeker3 , von seinen Erfahrungen mit seinem Bruder, einem Forschungsreisenden und seiner Schwester, die Zimmermädchen in Europas Hotels ist. Diese hat sich in einen Ritter verliebt, und bittet den Kleinen Baedeker diesem einen Brief zu überbringen. Auch erzählt der Kleine Baedeker im zentralen Teil des Romans von einer jährlich stattfindenden Prozession, an der er seit vielen Jahren mit seinen Geschwistern teilnimmt. Die Prozession findet ihren Abschluss dabei immer im Echternach-Zimmer bei Frau Conzemius, wo die Geschwister übernachten. Da der Kleine Baedeker mit Ängsten zu kämpfen hat, schickt er am Ende des zweiten Teils Munter, seinen Hund, los, damit dieser den Brief der Schwester ausliefert. Erst danach 1 Linder 2010. 2 Döbler. 3 Der Name des Protagonisten ist eine Hommage der Autorin an die Reiseführer, die ebenfalls unter dem Namen „Kleiner Baedeker“ bekannt geworden sind. Die Bewunderung Hoppes für die Reiseführer zeigt sich dabei nicht nur in der Namensgebung des Protagonisten, sondern auch in dessen Arbeit: Der Kleine Baedeker ist ein Reiseführer, der Touristen die in Wilwerwitz angesiedelten Ritterburgen zeigt und Geschichten der Umgebung erzählt.
  • 5. 2 „PARADIESE, ÜBERSEE“ ALS POSTMODERNER ROMAN 3 entschließt sich der Kleine Baedeker auch selbst aufzubrechen. Der dritte Teil, „Paradiese“, beginnt mit den Aufzeichnungen des gesuchten Doktor Stoliczka, der sich mit einem unbekannten Mann und einem klapprigen Pferd auf der Überfahrt nach Indien befindet. Auch der Kleine Baedeker taucht wieder auf. Der Pauschalist fordert den Ritter zum Duell, das aber durch eine Überschwemmung nicht stattfinden kann. Der Pauschalist, der Kleine Baedeker, der Hund und die zwei Pferde retten sich mit einem Floß und landen am Ende im Echternach-Zimmer bei Frau Conzemius, wo bereits die Schwester des Kleinen Baedekers wartet. Dort öffnet der Kleine Baedeker den ihm anvertrauten Brief und liest „in der schwungvollen klaren Handschrift meiner Schwester die Worte: DER RITTER, DAS BIN ÜBRIGENS ICH.“ 4 2.2 Postmoderne Literatur Hoppes Roman ist der Epoche der Postmoderne zuzuordnen. Im eigentlichen Sinn bezeichnet der Begriff der Postmoderne zunächst jedoch nur eine Konstruktion, die insbesondere in der “sozialen Entwicklung Symptome einer Zeitenwende“ 5 aufweist. Außerdem ergibt sich eine genauere Bestimmung des Begriffs der Postmoderne erst durch eine Differenzierung – komplementär und kontrastiv – zum Begriff der Moder- ne.6 Von vielen Philosophen und Kulturwissenschaftlern werden aber tatsächlich sowohl die Moderne als auch die Postmoderne als Epochen rekonstruiert, wobei die Post- moderne, wie das Präfix bereits andeutet, auf die Epoche der Moderne folgt. Ob es sich bei der Postmoderne tatsächlich um eine Epoche handelt, ist aber dennoch umstritten. Lubomír Doležel, auch bekannt für seine Arbeit im Bereich der Possible Worlds Theory, gehört zu den Anhängern der Epochenauffassung. In Possible Worlds of Fiction and History schreibt er, dass Postmoderne „has become an international movement, and therefore its chronology“.7 Auch die beiden folgenden Ansätze gehen davon aus, dass es sich bei der Postmoderne um eine Epoche handelt. Einer der bekanntesten Versuche auf literaturwissenschaftlicher Ebene eine Charak- teristik der Postmoderne zu etablieren ist die Merkmalanalyse von Ihab Hassan. Er 4 Hoppe 2003, S. 186. 5 Zima 1997, S. 1. 6 Frank Fechner insistierte, dass Moderne, Modernismus und Postmoderne bei einer konkreten Begriffsbestimmung zusammen gedacht werden müssen: „Es ist also notwendig, auch den Begriff von Moderne, der der jeweiligen Rede von Postmoderne zugrunde liegt, aufzuhellen.“ (Fechner 1990, S. 20) 7 Doležel 2010, S. 1.
  • 6. 2 „PARADIESE, ÜBERSEE“ ALS POSTMODERNER ROMAN 4 beschreibt postmoderne Literatur unter anderem mit den stilistischen Merkmalen der Unbestimmtheit, Fragmentierung, Auflösung des Kanons, Ironie und der Karne- valisierung, die er den drei Orientierungsaspekten Intertextualität, Pluralismus und Perspektivismus zuordnet.8 Auch der Ansatz Herbert Grabes, der die Fremdartigkeit postmoderner Literatur und Kunst fokussiert, betrachtet die Postmoderne als Epoche. Grabes schreibt über die Fremdartigkeit postmoderner Literatur, dass sie versucht „radikalere Fremdheits- wirkungen bis hin zur Schockierung zu erzeugen.“ 9 Da dieser Versuch aber auf eine entsprechende Erwartungshaltung stieß, konnten jene Schockwirkungen nicht ausge- löst werden. Dennoch sind die Relativierung des Vertrauten, beispielsweise durch Ironie, Parodie oder Travestie, und die Mischung unterschiedlicher Stile und Genres Merkmale vieler postmoderner Werke. Grabes knüpft mit diesem Gedanken eng an die Merkmalanalyse von Hassan an, und stößt damit auch auf dieselben Probleme: Einerseits sind Versuche der Differenzierung, die sich rein auf einer Stilebene bewegen, fragwürdig weil unzureichend, und andererseits finden sich die von Hassan und Grabes aufgezählten Merkmale gleichermaßen in moderner wie postmoderner Literatur. Um eine zufriedenstelle und umfassende Einordnung der Postmoderne geben zu können, braucht es einen anderen Ansatz, der sich durch eine Abgrenzung zur Moderne konstituiert. Die Moderne wird insbesondere in der Literaturwissenschaft als Epoche beschrieben, die Literaturformen der Jahrhundertwende inkludiert. Merkmal der Moderne ist unter anderem der Modernismus, der „die neuzeitliche Moderne im Rückblick erkennbar, definierbar und kritisierbar“ 10 macht. Dies ist gleichzeitig auch ein Merkmal der Postmoderne, diese geht jedoch über das Reflexiv-Werden der Moderne weit hinaus. Wolfgang Welsch bezieht die Moderne in seiner Betrachtung der Postmoderne mit ein, und geht damit bereits einen Schritt in die richtige Richtung. Die Postmoderne sei allerdings keine Trans- und Anti-Moderne, keine neue Epoche, da ihr Grundinhalt auch in der Moderne bereits von Bedeutung gewesen sei. Diese Grundidee sei der Pluralismus, der sich in der Postmoderne als Verfassung radikaler Pluralität zeigt. Sie erstreckt sich ihm zufolge auch auf Gebiete wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit, und schließt mit ein, dass „ein und derselbe Sachverhalt in einer anderen Sichtweise sich völlig anders darstellen kann“.11 8 Hassan 1988. 9 Grabes 2004, S. 69. 10 Zima 1997, S. 9. 11 Welsch 1993, S. 5.
  • 7. 2 „PARADIESE, ÜBERSEE“ ALS POSTMODERNER ROMAN 5 Der philosophisch geprägte Ansatz des poststrukturalistischen Autoren12 Jean- François Lyotard kann zur Schaffung eines klaren Begriffs der Postmoderne ebenfalls herangezogen werden. Sein Ansatz ist insbesondere aufgrund seiner Einbeziehung ge- sellschaftlicher Entwicklungen sehr vielversprechend. Insgesamt geht Lyotard, ähnlich wie Welsch später, nicht davon aus, dass es sich bei der Postmoderne um eine neue Epoche handelt.13 Vielmehr spricht er von einer der Moderne innewohnenden Gegen- bewegung14 , und damit einem „Verhältnis räumlicher Verstrickung“.15 Grundthese seines Werkes Das postmoderne Wissen ist die Verabschiedung der Meta-Erzählungen der Neuzeit – Mathesis universalis – und ihrer Nachfolgeformen. Er klärt dabei die Fragen, wie Wissen heute verfasst ist, wo es Tendenzen und Verbindlichkeiten gibt und was die postmoderne Verfassung des Wissens kennzeichnet. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass modernes Wissen von jeher die Fom einer Einheit hatte, die durch einen Rückgriff auf große Meta-Erzählungen zustande kommen konnte. In der Moderne gab es nach Lyotard drei solcher Meta-Erzählungen: die Emanzipation der Menschheit (Aufklärung), die Teleologie des Geistes (Idealismus) und die Hermeneutik des Sinns (Historie). „In äußerster Vereinfachung kann man sagen: ’Postmoderne’ bedeutet, daß man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.“ 16 Das bedeutet nicht, dass diese Meta-Erzählungen keine Rolle mehr spielen, aber sie haben ihre allgemeine Verbindlichkeit und Legitimationskraft eingebüßt. Die Meta-Erzählungen sind dabei gleich auf zwei Weisen hinfällig geworden: Einerseits gibt es in der Postmoderne keine Meta-Erzählung, die universell sein könnte, und andererseits leuchten dem Menschen Meta-Erzählungen nicht mehr ein; er hat die Vielheit akzeptiert.17 Diese Auflösung des Ganzen der Meta-Erzählungen ist nun eine Vorbedingung der postmodernen Pluralität. Wenn diese Auflösung zusätzlich als positive Chance begriffen wird, und der Wegfall der Meta-Erzählungen nicht mehr als Verlust empfunden wird, handelt es sich nach Lyotard um Postmoderne. Neben dem Ende der bereits angesprochenen übergreifenden Leitideen oder -ideale enthält sein Werk außerdem ein „Plädoyer für die Gleichzeitigkeit heterogener Wissenskonzepte“ 18 , welches die Vielheit möglicher 12 Zu den Autoren des sogenannten „Poststrukturalismus“ gehören auch Foucault, Deleuze und Derrida, deren Denken similär zum postmodernen Denken ist. 13 Kritik an dieser Auffassung Lyotards äußert besonders Peter Zima, der in diesem Kontext von einer Verdeckung des Bruchs zwischen Moderne und Postmoderne spricht, und gleichzeitig darauf hinweist, dass Lyotard in seiner Auffassung inkonsistent sei. (Zima 1997, S. 109ff) 14 Vgl. Lyotard 1987, S. 26. 15 Riese 2003, S. 30. 16 Lyotard 1986, S. 121ff. 17 Vgl. Welsch 1993, S. 172ff. 18 Zimmermann 2005, S. 3.
  • 8. 2 „PARADIESE, ÜBERSEE“ ALS POSTMODERNER ROMAN 6 Wahrheiten propagiert, eine Ansicht, die auch in der Possible Worlds Theory teilweise vertreten wird. Im Kontext der literarischen Rhetorik bedeutet Lyotards Ansatz in der konsequenten Fortführung der Leit-Gedanken, dass im postmodernen Roman Meta-Erzählungen, das heißt in sich geschlossene Weltenbeschreibungen, nicht mehr legitimiert sind. Eine Pluralität von Welten und Perspektiven ist damit möglich, die den Leser auch als Interpreten fordert. Der bewusst spielerische und künstliche Umgang der postmodernen Autoren mit dem literarischen Stoff, die in ihrem Roma- nen oft nur noch Weltenfragmente anbieten, erschweren die Rezeption für den Leser zusätzlich. Angelehnt an Wittgenstein spricht Lyotard im Kontext der Kritik am abendlän- dischen Subjektbegriff außerdem vom Konzept des Sprachspiels. Er schreibt, dass drei Beobachtungen in diesem Rahmen von Bedeutung sind: „Die erste betrifft den Umstand, daß die Regeln ihre Legitimation nicht in sich selbst haben, sondern den Gegenstand eines expliziten oder impliziten Vertrags zwischen den Spielern ausmachen (...). Das zweite besagt, daß es ohne Regeln kein Spiel gibt (..). Die dritte Beobachtung (...): Jede Aussage muß wie ein in einem Spiel ausgeführter Spielzug betrachtet werden.“ 19 Für die Literatur der Postmoderne bedeuten Lyotards Beobachtungen der sprachlichen, spielerischen Agonistik, dass beispielsweise die Provokationsarbeit der Literatur aus Freude an der Erfindung des Spielzugs entsteht. Hoppes Roman „Paradiese, Übersee“ kann – außerhalb der rein temporalen Einord- nung seiner Entstehung – insofern als postmoderner Roman identifiziert werden, als dass er eine Pluralität von Welten, sowohl sprachlich als auch inhaltlich, entwirft und nebeneinanderstellt. Auch die für die Postmoderne charakteristische Multiper- spektivität ist im Roman gegeben, sowohl ganz offenkundig durch den Wechsel vom auktorialen Erzähler zum Ich-Erzähler und zurück, als auch unterschwelliger durch sprachliche Veränderungen. Möchte man außerdem, trotz ihrer Unzulänglichkeit, auch die Ansätze von Hassan und Grabes einbeziehen, so ist auch nach deren definitorischen Merkmalen Hoppes Roman als postmoderner Roman zu identifizieren, da er sowohl die Fremdartigkeit nach Grabes bedient, als auch die meisten der Merkmale Hassans erfüllt. Insbesondere der Fragmentierung kommt im Roman besondere Bedeutung zu: Die Welten, die Hoppe konstruiert, sind disparat und auf eine eigentümliche Art und Weise miteinan- der verknüpft, die sich nicht nach den Regeln der Chronologie oder der räumlichen Anordnung richtet. Damit einher geht, dass dem Roman damit sinnlich-erfahrbare Evidenz fast vollständig fehlt. 19 Lyotard 1986, S. 39ff.
  • 9. 3 POSSIBLE WORLDS THEORY 7 3 Possible Worlds Theory Wie in Romanen Evidenz erzeugt werden kann, damit beschäftigt sich die literarische Rhetorik im Kontext der Welterzeugung. Als Grundlage kann hierzu bereits die klassische Rhetoriktheorie herangezogen werden, die mit Evidenz Wege der Veran- schaulichung von Sachverhalten bis hin zu einer Erlebnisqualität bezeichnet. Evidenz entsteht danach dann, wenn eine Sache so klar und deutlich, so lebendig und an- schaulich dargelegt wird, dass das Publikum beziehungsweise der Leser die Sache vor seinem inneren Auge sieht. Klassische Mittel des Vor-Augen-Stellen der Rhetorik sind dabei die Verlebendigung, und die Detaillierung. Damit dieses Vor-Augen-Stellen gelingt, muss der Redner zunächst Klarheit gewinnen, was seinen Hörern bereits evident erscheint. Was darüber hinaus geht kann mit rhetorischen Mitteln evident gemacht werden, wobei der Redner seine persuasive Kraft insbesondere dann voll entfaltet, wenn er von Sachverhalten berichtet, von denen er selbst Augenzeuge war.20 Insbesondere in der narratio und der elocutio sind die Kategorien der evidentia (descriptio, illustratio, hypotyposis und enargeia) in der Umsetzung von Bedeutung.21 Felicitas Hoppe wählte in ihrem Roman einen anderen Weg; sie versucht nicht die von ihr dargestellten Welten auf plastische Art und Weise evident zu machen bezie- hungsweise zu plausibilisieren. Damit entfernt sie sich von der Rhetorik, die ebenfalls die Plausibilisierung zum Ziel hat. Rhetorisch uninteressant ist ihr Roman auf Grund dessen allerdings nicht; Hoppe erzeugt die literarischen Welten mit Hilfe sprachlicher Mittel und eigentümlichen Plotkonstruktionen. Die Possible Worlds Theory bietet einen anderen, auf die in literarischen Werken konstruierten Welten und deren Zusammenhänge fokussierten, Ansatz, sich mit Romanen zu beschäftigen. Die vor allem philosophisch ausgerichteten Erzähltheorien sind besonders durch ihre Textzentrierung in der Narratologie ein geeigneter Aus- gangspunkt. Die Entstehung der Possible Worlds Theory und die sehr differenzierte aktuelle Theorie von Marie-Laure Ryan werden im Folgenden erläutert. 3.1 Entstehung der Possible Worlds Theory Die Anfänge der heutigen Possible Worlds Theory finden sich bereits in der Antike, wenn auch nur in rudimentärer Form. Aristoteles schreibt in seiner Poetik in Kapitel 24 und 25, dass das glaubwürdige Mögliche dem Unglaubwürdigen vorzuziehen ist. Es sei nicht die Aufgabe des Poeten über Dinge zu sprechen, die geschehen sind, sondern über Dinge, die geschehen könnten. Damit legt Aristoteles den Grundstein 20 Vgl. Kemmann 1996, S. 40. 21 Vgl. Solbach 1994, S. 75.
  • 10. 3 POSSIBLE WORLDS THEORY 8 für die heutige Fiktions- und Possible Worlds-Forschung, wenn er schreibt, dass die Herstellung von Dichtung sich mit der Erzeugung von Vorstellungsinhalten und dem Möglichen beschäftigt. Später griffen unter anderem Genette, Hamburger und Nünning auf diese klassischen Thesen für ihre Fiktionstheorien zurück, mit der sie auch die Possible Worlds Theory prägten. Auch Gottfried Wilhelm Leibniz’ Konzept der möglichen Welten ist Grundlage für die heutige Possible Worlds Theory. Er schreibt: „Man muss es für sicher halten, daß nicht alles Mögliche existent wird; sonst könnte man keine Romanfigur ersinnen, die nicht irgendwo und irgendwann exisitieren würde.“ 22 Seine Theorie trägt also bereits „der Tatsache Rechnung, daß narrative Texte alternative Welten entwerfen.“ Damit übernahm er einen bis dahin philosophischen Ansatz zur Lösung semantischer Probleme in der Modallogik und übertrug ihn auf narrative Texte.23 Von Umberto Eco stammt 1987 einer der ersten systematischen Versuche das Konzept der Modallogik auf narrative Texte anzuwenden. Eco verband Theorie und Praxis, indem er die Possible Worlds Theory auf eine Kurzgeschichte von Alphonse Allais anwendete: Dabei führte er die Idee ein, dass es eine tatsächliche Welt, die sogenannte actual world, und eine possible world durch den Plot gibt. Mit Hilfe dieses Kontrastes zwischen den beiden Welten konnte er anschließend das Zusammenspiel narrativer Fakten, deren Repräsentation durch Charaktere und den Vorstellungen der Charaktere studieren. Außerdem wandte er die Konzepte der Modallogik auf die Dynamik des Leseprozesses an, während dem possible worlds entstehen, verändert oder verworfen werden – je nachdem ob der Text die Rationalisierungen des Lesers verifiziert, widerlegt oder gar nicht tangiert.24 3.2 Aktuelle Ansätze zur Possible Worlds Theory Ein neuerer Ansatz stammt von Lubomír Doležel, der einen Katalog modaler Ope- ratoren entwickelte, die nicht nur eine Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit ermöglichen, sondern auch viele weitere für die narrative Semantik relevanten Kategorien wie gut/böse oder bekannt/unbekannt beinhalten.25 Doležel erweiterte damit die Possible Worlds Theory um Bewertungsmaßstäbe.26 22 Leibniz 1986, S. 185. 23 Vgl. Surkamp 2002, S. 153ff. 24 Vgl. Ryan 1991, S. 4. 25 Vgl. ebd. 26 Ein weiterer wichtiger Beitrag ist seine Theorie zur Authentizität in literarischen Werken. Dabei unterscheidet er zwischen authentischen Motiven und nicht-authentischen Motiven, die für ihn zentrale Konzepte von Fiktionalität sind.(Doležel 1980)
  • 11. 3 POSSIBLE WORLDS THEORY 9 Ebenfalls Erwähnung finden soll der aktuelle Ansatz von Elena Esposito, die in Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität folgende These aufstellt: „Die fiktive Realität des Romans ist keine Fiktion der Realität, sondern ’die Fiktion der Realität von Realitäten’.“ 27 Damit dürfen Romane, um realistisch zu sein, nicht real sein; die Rea- lität der Fiktion beruht auf einer für den Leser vorhandenen Durchschaubarkeit der Täuschung. Romane geben also nicht vor, Tatsachen der Realität wider zu spiegeln. Statt dessen erschaffen sie „zweite Welten“. Dennoch muss der Roman, um seine realis- tische Wirkung zu entfalten, eine auf ausdrücklich imaginären Prämissen beruhende (zweite) Welt entwerfen, die kohärent ist. Esposito spricht in diesem Zusammenhang von einer Realitätsverdoppelung beziehungsweise von einem Realitätspluralismus28 Nelson Goodman geht noch einen Schritt weiter, als Esposito. In Weisen der Welter- zeugung konstatiert er, dass es nicht viele mögliche Alternativen zu einer einzigen wirklichen Welt gibt, sondern eine Vielheit wirklicher Welten. Jede verschiedene Beschreibungsweise einer Welt würde bereits eine neue Welt erschaffen: „Unser Uni- versum besteht sozusagen aus diesen Weisen und nicht aus einer Welt oder aus Welten.“ 29 Nach Goodman werden alle Welten aus bereits existierenden, anderen Welten erzeugt; die Weisen dieser Welterzeugung seien Komposition und Dekomposi- tion, Gewichtung, Ordnen, Tilgung und Ergänzung sowie Deformation. Mit seiner Ansicht einher geht die Tatsache, dass Goodman unweigerlich Welten als gleichzeitig wahr betrachtet, die konfligierende Aussagen inkludieren; was in der einen Welt richtig ist, kann in der anderen falsch sein. Solche Aussagen sind Goodman zufolge „mögliche“ Aussagen (im Gegensatz zu notwendig richtigen oder notwendig falschen Aussagen). Eine Auflösung dieser Problematik der sich widersprechenden Aussagen ergibt sich nach Goodman dadurch, dass die Aussagen um ihren Bezugsrahmen erweitert werden, also einerseits in ein entsprechendes System eingeordnet werden und andererseits um explizite Einschränkungen ergänzt werden. Wenn eine Auflösung nicht möglich ist, stehen die Welten weiterhin im Widerstreit. Ein anderer aktueller Ansatz zur Possible Worlds Theory, der sich auf eine sehr ausdifferenzierte Weise mit literarischen möglichen Welten beschäftigt, ist die Theorie von Marie-Laure Ryan. Ihre Theorie der möglichen Welten in literarischen Werken dient als Grundlage der folgenden Anwendung auf Hoppes Roman. Die Grundannah- men ihrer Possible Worlds Theory werden im folgenden detailliert vorgestellt, und auf „Paradiese, Übersee“ appliziert. Ziel ist es auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse 27 Esposito 2007, S. 17. 28 Vgl. ebd., S. 68. 29 Nelson Goodman and 1984, S. 15.
  • 12. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 10 eventuell vorhandene generelle Aussagen über die Praktikabilität der Possible Worlds Theory bei postmodernen Romanen zu treffen. 4 Applikation auf „Paradiese, Übersee“ Bei einem Roman wie „Paradiese, Übersee“, der sehr viele Handlungsstränge besitzt, die nicht auf logische, chronologische oder verständliche Weise miteinander verbunden sind, würde eine Analyse des gesamten Romans den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher sollen einerseits nur schlaglichtartig einzelne Elemente des Romans herausge- griffen werden. Außerdem liegt der Fokus dieser Schlaglichter auf dem zweiten Teil des Buches, der sowohl der plastischste und realistischste als auch zentraler Teil des Romans ist. Die Zentralität von „Wilwerwitz“ ergibt sich aus mehreren Aspekten. Zum einen ist „Paradiese, Übersee“ wie ein Triptychon aufgebaut. Im mittleren Teil stehen die Familie in Wilwerwitz und die Erzählung des Kleinen Baedekers im Vordergrund. Im Gegensatz zu den beiden flankierenden Teile mit einem auktorialen Erzähler wird dieser Teil der Geschichte von einem Ich-Erzähler, dem Kleinen Baedeker, erzählt. Weiterhin fungieren der vorgeschobene Teil „Übersee“ und der nachgesetzte Teil „Paradiese“ als „Spiegel für die Figuren im mittleren Teil.“,30 erklärte Felicitas Hoppe im Interview die Struktur des Romans. Eine mögliche und plausible Interpretation des Buches auf dieser Grundlage lässt vermuten, dass es sich bei dem zentralen Teil um die textual actual world des Romans aus Sicht des Kleinen Baedekers handelt. Die anderen beiden Teile entspringen den Gedanken, Erinnerungen, Träumen, Wünschen und Fantasien des Kleinen Baedekers, der dabei Realität und Gedankenwelt vermischt. Davon ausgehend kann der mittlere Abschnitt also als zentral betrachtet werden. 4.1 „Immersion“ Basis der Possible Worlds Theory von Ryan ist das während des Leseprozesses stattfindende Eintauchen des Lesers in den Lesestoff, bei Ryan immersion genannt. Sie vergleicht das Öffnen eines Buches mit dem Beginn einer Reise, von der man für lange Zeit nicht zurück kommt.31 Damit diese Reise beginnen kann, muss der Text eine Welt eröffnen, das heißt eine textuelle Welt anbieten, in die der Leser eintauchen kann: „To speak of a textual world means to draw a distinction between a realm of language, made of names, definite descriptions, sentences, and propositions, and an extralinguistic realm of characters, objects, facts, and states of affairs serving 30 Linder 2010. 31 Ryan 2003, S. 2.
  • 13. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 11 as referents to the linguistic expressions.32 Die textuelle Welt, von der Ryan hier spricht, ist das narrative Universum, das ein Autor erschaffen kann, und in das ein Leser eintauchen kann. Auch andere Autoren beschreiben den Prozess der immersion als Grundlage für das Entstehen möglicher Welten: „As [users] enter the virtual world, their depth of engagement gradually meanders away from here until they cross the thresh-old of involvement. Now they are absorbed in the virtual world.“ 33 Ken Pimentel und Kevin Teixeira schreiben hier von einer Absorbierung des Leser in eine virtuelle Welt. Doch eine solche Absorbierung oder immersion ist nur möglich, wenn der Leser bereit ist, sich darauf einzulassen. In diesem Zusammenhang ist die These von Samuel Tylor Coleridge von Bedeutung, wobei allerdings seine Auffassung des Willing Suspension of Disbelief nach wie vor umstritten ist. Seine These besagt, dass ein Leser eine Art Vertrag abschließt, wenn er ein Buch rezipiert. Er erklärt sich bereit, die Vorgaben eines fiktionalen Werkes vorübergehend zu akzeptieren, selbst wenn diese fantastisch oder unmöglich sind. Der Rezipient willigt ein, sich auf eine Art Illusion einzulassen, um dafür gut unterhalten zu werden. Dann erzeugt der „willing suspension of disbelief for the moment (...) poetic faith.“ 34 Ist diese Bereitschaft des Leser gegeben, kann er in einen Text eintauchen. Diejenigen Texte, die dem Leser vertraut erscheinen, können dabei besonders eindringlich sein. Ein Grund hierfür liegt an der dadurch gegebenen besseren Zugänglichkeit des Textes, die dafür sorgt, dass es dem Leser leichter fällt in die textuelle Welt einzutauchen, Zusammenhänge zu verstehen und sich mit Charakteren zu identifizieren.35 Bei „Paradiese, Übersee“ ist die Bereitschaft des Leser auf besondere Weise gefordert. Der Roman spielt in der Gegenwart, und dennoch wird der Leser mit einem Ritter in Rüstung konfrontiert. Die ansonsten zumeist alltägliche und gewöhnliche Welt wird durchbrochen mit Elementen der klassischen Fabel, so kann ein Hund sprechen und ein Fabeltier namens Berbiolette wird gejagt. Die verworrene und bis zuletzt nicht aufgelöste Struktur des Plots erschweren den Prozess der immersion weiter. Und wenn der Leser gerade glaubt, er hätte den roten Faden gefunden und wüsste nun, worauf der Roman hinaus will, verwirft ein Zeitsprung oder ein Perspektivwechsel diese Klarheit, und der Leser wird erneut mit obscuritas und Ambivalenzen konfrontiert. 32 Ryan 2003, S. 3. 33 Pimentel/Teixeira 1994, S. 15. 34 Coleridge 1985, S. 14. 35 Ryan 2003, S. 7ff.
  • 14. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 12 4.2 Recentering Was bedeutet es nun für den Leser, in eine „andere Welt“ einzutauchen? Die Antwort liegt in einer weiteren Grundannahme der Possible Worlds Theory von Ryan. Die Basis ihrer Theorie ist der Gedanke, dass die Realität ein Universum aus einer Pluralität von Welten ist, die hierarchisch gegliedert sind. Im Zentrum steht die actual world, die von possible worlds umkreist wird, die verschieden weit von der actual world entfernt sind.36 Texte, beispielsweise Romane, entwerfen ebenfalls eine solche possible world, die unsere tatsächliche Welt umkreist: „If we regard the actual world as the center of a modal system, and APWs [actual possible worlds, Anm. d. V.] as satellites revolving around it then the global universe can be recentered around any of its planets.“ 37 Ein sogenanntes recentering ist also auf jede possible world möglich, auch auf literarische Welten. Taucht ein Leser in ein literarisches Werk ein, dann findet eine Rezentrierung statt, und die Text-Welt ist damit nicht mehr nur eine mögliche Alternative, sondern ein neues System, auf das sich der Leser einlässt. Ryan nennt diese Welt die textual actual world. Innerhalb der textual actual world, die zum Zentrum des neuen Systems wird, gibt es, wie bereits gesagt, wieder mögliche Welten die daran anschließen. „Im Roman werden ständig Geschichten erzählt, schließlich bauen wir die Welt durch Geschichten, nicht durch Geographie.“ 38 , sagt Felicitas Hoppe, und spricht damit genau diese möglichen Welten an. Narrative Texte besitzen also ihre ganz eigene, aus einer tatsächlichen Welt und ihren Alternativen bestehende, Modalstruktur. Nur aus der Perspektive der actual world handelt es sich nach wie vor um eine possible world. Auf dieser Basis erstellt Ryan eine Definition von Fiktionalität: 1. There is only one AW [actual world, Anm. d. Verf.] 2. The sender (author) of a text is always located in AW. 3. Every text projects a universe. At the center of this universe is TAW. 4. TAW is offered as the accurate image of a world TRW [textual referential world, in fiktionalen literarischen Weken deckungsgleich mit der TAW, Anm. d. Verf.], which is assumed (really or make-believe) to exist independently of TAW. 5. Every text has an implied speaker (defined as the individual who fulfills the felicity conditions of the textual speech achts). The implied speaker of the text 36 Ryan 2003, S. 11. 37 Ryan 1991, S. 18. 38 Linder 2010.
  • 15. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 13 is always located in TRW.39 Ausgehend von dieser Definition von fiktionalen Texten kann „Paradiese, Übersee “ eindeutig dieser Textsorte zugeordnet werden. Felicitas Hoppe, Autorin in der actual world, entwirft ein Text-Universum, in dessen Zentrum sich (nach dem recentering) eine textual actual world (beziehungsweise textual referential world, bei fiktionalen Texten sind diese beiden Welten identisch) befindet. Das ist die Welt rund um Wilwerwitz, in der der Kleine Baedeker lebt. Dabei kommuniziert Hoppe – trotz der Multiperspektivität des Romans – als substitute speaker über Sprechakte mit dem substitute hearer. Beide Abbilder der Teilnehmer, also sowohl substitute speaker und substitute hearer, befinden sich in der textual referential world. Damit der Leser Zugang zur textual actual world findet, benötigt er eine Zugangsrelation zum Text. 4.3 Accessibility Relations Eine zur Realität alternative Welt, also auch alle textual actual worlds, ist mit der tatsächlichen Welt über diese sogenannten Zugangsrelationen verbunden. Steht eine Welt nicht in einer bestimmten Zugangsrelation zur actual world wird sie in der Philosophie auch nicht als eine possible world betrachtet. In der Modallogik wird unter der Zugangsrelation nur die „Einhaltung logischer Gesetze, d.h. die Erfüllung von Widerspruchsfreiheit und des Grundsatzes der ausgeschlossenen Mitte (excluded middle), verstanden.“ 40 Eine possible world darf also keine kontradiktorischen Aussa- gen enthalten; Aussagen können entweder wahr oder falsch, aber nicht gleichzeitig wahr und falsch sein. Ryan differenzierte die Theorie der accessibility relations weiter aus. Für sie ist in einem fiktionalen Universum alles möglich – so lange es nicht unmöglich ist.41 . Auch für sie darf eine possible world also keine Widersprüche enthalten (logical compatibility). Zusätzliche Zugangsrelationen sind für Ryan identity of properties, identity of invento- ry und compatibility of inventory sowie chronological, physical, taxonomic, analytical und linguistic compatibility.42 In dem besonderen Fall, in dem sowohl eine identity of properties als auch eine identity of inventory gegeben ist, also in der textual 39 Ryan 1991, S. 25. 40 Surkamp 2002, S. 155. 41 Vgl. Ryan 2003, S. 31. 42 Ryan schlägt außerdem weitere mögliche Kandidaten vor, die eine Zugangsrelation sein könnten: Historical Coherence, psychological credibility und socio-economic compatibility. Da diese nicht vollständig ausgearbeitet und umstritten sind, werden sie in dieser Hausarbeit nicht im Detail berücksichtigt.
  • 16. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 14 actual world dieselben Objekte mit denselben Eigenschaften vorhanden sind, sind die beiden Welten identisch. Dies zu erreichen sollte das Ziel von nicht-fiktionalen Texten, also beispielsweise von historischen Darstellungen, Biographien und journalis- tischen Berichten, sein.43 Fiktionale Texte unterscheiden sich mindestens durch eine Zugangsrelation von der actual world.44 Je nachdem, welche Zugangsrelationen wie intensiv gegeben sind, spiegelt die textual actual world die actual world mehr oder weniger wieder und ist damit auch für den Leser mehr oder weniger zugänglich. „The distance between AW and TAW, as measured by accessibility relations, thus provides a fairly reliable indicator of fictionality, but not an absolute criterion.“ 45 Außerdem spiegeln die Zugangsrelationen, wie Ryan schreibt, die Entfernung zwischen textual actual world und actual world wieder. Die meisten der von Ryan genannten Zugangsrelationen sind bei „Paradiese, Übersee“ nicht gegeben, was auch einer der Gründe dafür ist, dass Hoppes Roman schwerer zugänglich ist als viele andere Romane. Probleme bei der Bestimmung der Zugangsre- lationen ergeben sich außerdem dadurch, dass im ersten und dritten Teil des Romans ein „unknowable center “ 46 vorliegt. Das bedeutet, dass nicht klar ist, aus wessen Perspektive die textual referential world momentan beschrieben wird. Im Detail gestalten sich die Zugangsrelationen nach Ryan folgendermaßen: Identity of properties: Wenn diejenigen Objekte, die sowohl in der actual world als auch in der textual actual world vorkommen, dieselben Eigenschaften haben, dann gibt es eine identity of properties. Diese Zugangsrelation ist bei Hoppes Roman überwiegend gegeben: Grundlegende Objekteigenschaften der in beiden Welten existenten Objekten sind identisch. Den- noch ist Hoppes Umgang mit Objekten und Objekteigenschaften eigentümlich. Sie lässt in ihrem Roman aus Metaphern stammende Objekte wahr werden, indem sie beispielsweise die Welt zur Bühne macht. Aufgrund dessen kann nicht von einer vollständigen identity or properties gesprochen werden. Identity of inventory: Diese Zugangsrelation ist dann gegeben, wenn in beiden Welten die gleichen Objekte existieren. Festzustellen, inwieweit diese Zugangsrelation bei Hoppes Werk gegeben ist, fällt 43 Vgl. Ryan 1991, S. 33. 44 Selbst wenn der Autor einen Text verfasst, in dem er die tatsächliche Welt mimetisch abbildet, unterscheiden sich die beiden Welten, denn nur in der actual world gibt es einen Autoren, der versucht die tatsächliche Welt mimetisch abzubilden und dies auch tut. 45 Ryan 1991, S. 46. 46 Ebd., S. 40.
  • 17. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 15 aus mehreren Gründen schwer. Zum einen tauchen im Roman vorwiegend Objekte auf, die in der actual world bekannt sind – allerdings stammen sie aus verschiedenen Epochen und dieselben Objekte tauchen in verschiedenen Zusammenhängen an verschiedenen Orten auf. Zum anderen gibt es in „Paradiese, Übersee“ Objekte, die in der actual world nicht existieren, als Beispiel sei hier die Schürze der Schwester aus Berbiolettenfell genannt. Diese Zugangsrelation ist also ebenfalls nur bis zu einem gewissen Grad gegeben. Compatibility of inventory: Tauchen in einer textual actual world dieselben Objekte wie in der actual world (identity of inventory) zusammen mit zusätzlichen, in der textual actual world natürlichen, Objekten auf, dann liegt eine compatibility of inventory vor. Diese Zugangsrelation ist, wie der vorige Absatz zu identity of inventory bereits nahelegt, gegeben. Chronological compatibility: Chronologie ist dann eine gültige Zugangsrelation, wenn dem Leser ohne eine temporale Neuorientierung volles Verständnis der Historie der textual actual world möglich ist. Diese Zugangsrelation ist nicht gegeben. Das liegt insbesondere an der nur rudimentär vorhandenen Historie und Chronologie der im Roman auftauchenden Ereignisse und der Vermischung von geläufigen alltäglichen Elementen mit – chronologisch und räumlich betrachtet – nicht passenden Elementen. Ein Beispiel ist der Ritter, der eigentlich eine Figur des Mittelalters ist. Interpretiert man den Ritter als rein metaphorische Figur ist die chronologische Kompatibilität zumindest teilweise eine gültige Zugangsrelation, allerdings nur unter der Prämisse, dass das principle of minimal departure (Vgl. 4.4 Principle of Minimal Departure) gilt und bei Hoppes Roman zu Recht mit ins Kalkül gezogen wird. Physical compatibility: Teilen beide Welten dieselben physikalischen Gesetze, ist diese Zugangsrelation vorhanden. Allgemeine Gesetze wie das der Schwerkraft haben in „Paradiese, Übersee“ ebenso Gültigkeit wie in der actual world. Ins Wanken gerät die physikalische Konsistenz der Welt allerdings beispielsweise dann, wenn ein Floß von Indien bis Luxemburg, treibt oder Menschen in Kiepen einfach verschwinden. Rein rational und bezogen auf die faktuale Ebene der Welt, ist diese Zugangsrelation also nicht gegeben. Taxonomic compatibility: Der Begriff der Taxonomie ist hier im biologischen Sinn zu verstehen: Diese Zugangsrelation ist also dann eine Verbindung zwischen den beiden Welten, wenn beide die gleichen Gattungen und Arten beinhalten, die in
  • 18. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 16 beiden Welten außerdem die gleichen Eigenschaften haben. Ein Problem mit der Zugänglichkeit über die Taxonomie ergibt sich im Roman spätestens dann, wenn die Berbiolette erstmals im Roman Erwähnung erfindet, ein lebendes Fabeltier mit einem ebenso bunten wie wärmendem Fell. Da es ein solches Geschöpf in der actual world nicht gibt, ist diese Zugansrelation ebenfalls nicht gegeben. Logical compatibility: Die Kompatibilität der Logik meint, dass auch in der textual actual world die Gesetze der ausgeschlossenen Mitte und des Widerspruchs gelten. Kontradiktorische Aussagen innerhalb von Hoppes Roman scheinen darauf hinzudeu- ten, dass die Gesetze der Logik in dieser textual actual world nicht gleichermaßen gelten wie in der actual world. Diese Widersprüchlichkeiten lassen sich aber dadurch auflösen, dass sie bei genauer Betrachtung nur dann Widersprüche sind, wenn sie in derselben Welt gleichzeitig wahr sind. Durch die verschiedenen disparaten Welten in Hoppes Roman, die oft durch Träume oder Geschichten in der Geschichte erzeugt werden, sind die kontradiktorischen Aussagen in verschiedenen Welten wahr – eine These, die an Goodmans Ansatz zur Possible Worlds Theory erinnert. Analytical compatibility: Wenn beide Welten analytische Wahrheiten gemein- sam haben, gibt es eine analytical compatibility. Auch bei dieser Zugangsrelation kommt es beim Roman zu Problemen. Zwar teilen die actual world und die literarische Welt Hoppes einige analytische Wahrheiten, aber in einigen besonderen Fällen widersprechen Szenen aus „Paradiese, Übersee“ analytischen Wahrheiten der actual world. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn im zweiten Teil des Buches der Vater des Kleinen Baedekers vom Dach fällt, und mehrere Tage tot am Boden liegt. Plötzlich jedoch steht er auf, als wäre nichts geschehen, nur dass sein Gesicht Schaden genommen hat. Auch diese Zugangsrelation ist also nicht gänzlich gegeben. Linguistic compatibility: Die textual actual world ist von der actual world aus linguistisch zugänglich, wenn die Sprache, in der die textual actual world beschrieben wird, in der actual world verstanden wird. Handelt es sich bei einem literarischen Werk beispielsweise um ein dadaistisches Werk oder ein rein auf Lautmalerei oder Fantasiewörtern basierendes Werk, dann ist diese Zugangsrelation nicht gegeben. Hoppe bedient sich allerdings allgemein verständlicher, deutscher Sprache, so dass hier der Leser keine Probleme mit der Zugänglichkeit des Romans hat.
  • 19. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 17 4.4 Principle of Minimal Departure Text-Welten sind neben den Zugangsrelationen immer auch dadurch für einen Leser zugänglich, weil er alles, was er über die Realität weiß, in das Text-Universum inte- grieren kann. Und nicht nur das: Der Leser füllt die Lücken einer textual referential world mit seinem Wissen über die actual world aus. Die in narrativen Texten entworfenen Welten sind im Gegensatz zur actual world logisch und semantisch unvollständig. Ruth Ronen führt dies weiter aus: „Fictional entities are logically incomplete because many conceivable statements about a fic- tional entity are undecidable. A fictional entity is semantically incomplete because, being constructed by language, characteristics and relations of the fictional object cannot be specified in every detail.“ 47 Der Leser wird also ständig mit ontologischen Unvollständigkeiten konfrontiert, da „Figuren, Objekte und Ereignisse in narrativen Welten nicht in jeder Hinsicht bestimmt“ 48 sind. Ryan löst diese Problematik mit dem principle of minimal departure – zumindest teilweise – auf. Dieses Prinzip besagt, dass Leser eine grundlegende Ähnlichkeit zwischen ihrer eigenen Welt und der textual referential world annehmen, so lange der Texte ihnen keine anderen Signale gibt. Ryan dazu: „This law – to which I shall refer as the principle of minimal departure - states, that we reconstrue the alternate possible worlds of nonfactual statements: as confirming as far as possible to our representation of AW.“ 49 Ryan betrachtet die Lücken in Text-Universen damit nicht als Lücken, sondern als Projektionsfläche für den Leser, als Stellen, die damit implizit die nötigen Informationen enthalten.50 Dies bringt allerdings zwei Probleme mit sich, die Ryan nicht thematisiert: Einerseits greift jeder Leser auf einen anderen Bezugsrahmen in der tatsächlichen Welt zu, ergänzt die Lücken also sehr individuell, und andererseits kann so nur ein Teil der unbestimmten Stellen aufgelöst werden; so ist ein Leser beispielsweise nicht in der Lage fehlendes Faktenwissen (wie der Geburtstag eines Charakters) zu ergänzen.51 Hoppe selbst ist sich der Funktionsweise des Prinzips bewusst, und setzt dieses Wis- sen in ihrem Roman ein. Sie verlässt sich auf die Vorstellungs- und Assoziationskraft ihrer Leser, und gibt diesem damit im Roman Raum für eigene Projektionen. Der Leser ist nicht nur als passiver Rezipient, sondern auch als aktiver Interpret gefordert. 47 Ronen 1994, S. 114. 48 Pavel 1983, S. 51ff. 49 Ryan 1991, S. 51. 50 Das principle of minimal departure findet keine Anwendung bei der Frage nach einem Ich-Erzähler. Der Leser soll hier also nicht den Autor an die Stelle des Erzählers imaginieren, auch wenn dies nach dem principle of minimal departure die naheliegendste Annahme wäre. 51 Vgl. Surkamp 2002, S. 164.
  • 20. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 18 Insbesondere wenn es um die geographischen Welten geht, die Hoppe erzeugt, nutzt sie zur Ausgestaltung der Welten kaum klassische Mittel der Plausibilisierung. Statt dessen platziert sie Worthülsen und Namen, ohne diese weiter zu spezifizieren oder zu beschreiben. Der Wald in Luxemburg unterscheidet sich in ihrem Roman von dem Wald in Indien nur dadurch, dass der Leser um die geographische Lage des Waldes weiß – und damit auch entsprechend verschiedene Vorstellungen der beiden Wälder hat. Dabei geht der Leser von Bildern aus, die er bereits kennt, also Bildern der actual world. Wir haben bei den accessibility relations festgestellt, dass fast alle Zugangsrelationen im Roman nicht gegeben sind. Dennoch findet der Leser durch das principle of minimal departure einen Zugang zu den Welten des Romans. 4.5 Narrative Semantik Die Theorie der narrativen Universen lässt sich nicht nur auf die textual actual world eines literarischen Werkes anwenden, sondern auch auf die darin enthaltenen, internen Welten. Alternate possible worlds involvieren mentale Aktivitäten wie die Imaginationskraft des Autors. Für die alternate worlds einer textual actual world gilt dasselbe. Wann immer innerhalb des Texts durch mentale Aktivitäten eine mögliche Welt geschaffen wird, ist diese eine alternate world zur textual actual world, die wiederum eine alternate world zur actual world ist. Dieser Aspekt von Ryans Possible Worlds Theory hat gleichzeitig auch Auswirkungen auf die vermeintlich faktualen Elemente einer textual world. In der Anwendung der Theorie muss sehr genau unterschieden werden, welche Objekte und Eigenschaften tatsächlich zur faktualen textual referential world gehören, und welche auf Ansichten, Meinungen, Halluzinationen, Träumen und anderen mentalen Konstrukten erzählender Instanzen beruhen. Ryan beschreibt fünf solche Arten,52 wie solche nicht-faktualen Welten innerhalb eines narrativen Universums entstehen können: F-universes: Die f-universes enthalten pretended worlds, die auf mentalen Kon- strukten wie Träumen, Halluzinationen, Fantasien und fiktionalen Geschichten basie- ren. Diese Konstrukte sind nicht nicht nur alternate textual worlds, die die textual actual world umkreisen, sondern erschaffen neue textual actual worlds. Hier findet also wieder der Prozess des recentering statt, und wieder können die Zugangsrelationen geprüft werden. Dennoch stehen diese Welten oft nicht unabhängig von der textual actual world. Haben die pretended worlds beispielsweise metaphorische Bedeutung für den Plot, verweisen sie auf das primäre narrative System der ersten textual actual world zurück. 52 Vgl. Ryan 1991, S. 114ff.
  • 21. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 19 In Hoppes Roman finden sich zu Hauf f-Universen, verstärkt im ersten und im letzten Teil des Buches. Im mittleren Teil gibt es ebenfalls eine solche Geschichte in der Geschichte: Der Kleine Baedeker, Reiseführer in Wilwerwitz, erzählt den Reisegruppen die Geschichte der vergrabenen Glocke. Einer Sage nach schlägt diese in unregelmäßigen Abständen, und auserwählte Hörer können, wenn sie ihr Ohr auf den Boden pressen, das Schlagen der Glocke hören. Der Kleine Baedeker ist von dieser Geschichte überzeugt, und bildet sich ein, das Läuten der Glocke selbst manchmal zu hören. Die Geschichte der Glocke ist eine Geschichte innerhalb der Geschichte, und theoretisch kann ein recentering in diese Geschichte stattfinden, so dass diejenige Welt, in der die Glocke tatsächlich vergraben in manchen Momenten läutet, zu einer neuen textual actual world wird. Folgt man dem Interpretationsansatz, dass der erste und der dritte Teil des Buches dem Kopf des Kleinen Baedeker entspringen, und eine Mischung seiner Fantasien, Träume und Erinnerungen sind, so müssen diese beiden Welten konsequenterweise als eigenständige f-Universen betrachtet werden, die wiederum ihre eigenen f-Universen enthalten – beispielsweise wenn im ersten Teil der Pauschalist im Fieberwahn träumt. K-World: Die k-world eines Charakters umfasst seine Kenntnisse und Fähigkeiten. Eine knowledge-world eines Charakters ist dann eine notwendige neue world, wenn sie rein aus dem Wissen, aus bekannten Propositionen, eines Charakters besteht. O-World: O-world steht für obligation-world und bezeichnet das Verpflichtungs- system eines Charakteres, der sowohl sozialen Regeln nachkommen muss, als auch eigene moralische Prinzipien hat. Diese Regulierungen spezifizieren Aktionen als erlaubt (möglich), verpflichtend (notwendig) oder verboten (unmöglich). Gehört ein Charakter zu verschiedenen Gruppen, die verschiedene soziale Regeln haben, kommt es zu Konflikten innerhalb der o-world eines Charakters. W-World: Die Wünsche (gut, schlecht oder neutral) eines Charakters befinden sich in der w-world. Diese Welt ist im Vergleich zu den anderen Welten recht flexibel, was unter anderem einen Grund darin hat, dass Wünsche zu verschiedenen Graden erfüllt werden können. Auch hier gibt es, wie bereits bei den o-worlds, inhärentes Konfliktpotential durch mögliche Inkonsistenz der Wünsche. I-World: Die Intentionswelt eines Charakters beinhaltet dessen auf die Zukunft gerichteten Absichten und Pläne, die er versucht umzusetzen. Meistens beziehen sich diese Pläne auf die Auflösung eines Konfliktes. (Vgl. 4.6 Plot- und Konflikttheorie) Wie die plotrelevanten private worlds des Kleinen Baedekers entworfen sind, wird im
  • 22. 4 APPLIKATION AUF „PARADIESE, ÜBERSEE“ 20 nächsten Abschnitt zur Konflikttheorie behandelt. Doch zuvor muss geklärt werden, was ein Plot überhaupt ist. 4.6 Plot- und Konflikttheorie Die Plot- und Konflikttheorie von Ryan spielt dann eine Rolle, wenn es um die Verbindungen zwischen der textual actual world und den private worlds geht.53 Aus der Sicht der Charaktere nehmen diese an einer Art Spiel teil, dessen Ziel es ist, möglichst Deckungsgleichheit zwischen der textual actual world und ihren jeweiligen private worlds (ohne die f-universes) herzustellen. Herrscht kein Konflikt zwischen mindestens einer der Propositionen einer private world mit der zentralen Welt kann sich kein spannender Plot entfalten. Sind die Konflikte dann noch produktiv, das heißt durch den Charakter lösbar, kann dieser moves unternehmen, um den Konflikt aufzulösen. „Der Plot eines narrativen Textes erfaßt somit die Relationen zwischen den Wissens-, Wunsch-, Pflichten- und Intentionswelten der Figuren, die nicht sta- tisch, sondern Veränderungen unterworfen sind.“ 54 Es liegt außerdem in der Natur einer Erzählung, dass sie eine letztendlich chronologische Abfolge von Zuständen und Ereignissen beschreibt, die die Geschichte des narrativen Universums konstituieren und auf das Auflösen von Konflikten hinzielen. Ryan unterscheidet zwei Arten von Konflikten: „The primary level of conflict is between TAW and one of the worlds of a private domain. Whenever conflict exists objectively in a textual universe, it is found on this level.“ 55 Neben dem Konflikt zwischen der textual actual world und einer private world gibt es noch Konflikte der zweiten Ebene. Darunter fallen Konflikte innerhalb einer private world eines Charakters, zwischen zwei private worlds eines Charakters und zwischen zwei private worlds von verschiedenen Charakteren. Dass manche Plots besser, spannender und interessanter sind als andere, kann auf die Konflikte und die vorhandenen private worlds zurückgeführt werden. Ryan spricht in diesem Zusammenhang von der sogenannten „tellability“ von Plots: „The diversificati- on of the narrative universe thus constitutes the most basic condition of tellability.“ 56 Tellability, die entscheidendes Qualitätsmerkmal von Plots ist, entsteht also durch eine Mannifgaltigkeit an private worlds und Konflikten, möglichen Lösungen und – und dieser Punkt ist der wichtigste – „embedded narratives, also eingebettete Erzäh- lungen. 53 Vgl. Ryan 1991, S. 119ff. 54 Surkamp 2002, S. 171. 55 Ryan 1991, S. 120. 56 Ryan 1991, S. 156.
  • 23. 5 PRAKTIKABILITÄT BEI POSTMODERNEN ROMANEN 21 Damit ist Komplexität und erzählerische Dichte ein wichtiges Merkmal von tellability – und beides kann Hoppes Roman vorweisen. Dennoch ist es problematisch in diesem Zusammenhang von tellability zu sprechen. Die Definition von Plot setzt voraus, dass eine chronologische Abfolge von Ereignissen zumindest im Nachhinein rekonstruiert werden kann. Eine solche „Nacherzählung“ der Geschehnisse in einer sinnvollen, zeitlich richtigen Abfolge ist aber bei „Paradiese, Übersee“ nur schwer möglich, da Hoppe disparate und fragmentarische Welten entwirft. Damit beinhaltet Hoppes Roman im Sinne der Possible Worlds Theory keinen durchgehenden klassischen Plot, sondern für sich stehende Plotelemente, deren sinnvolle Verknüpfung aber ausbleibt. Die für den Plot notwendigen Konflikte hingegen gibt es in Hoppes Roman. Exem- plarisch werden hier zwei der Konflikte der beiden Ebenen, die die private worlds des Kleinen Baedekers involvieren, vorgestellt: Ein Konflikt der ersten Ebene besteht zwischen der knowledge-world des Kleinen Baedekers und der textual actual world. Der Kleine Baedeker möchte einen Brief an den Ritter übergeben, von dem er glaubt, dass er von seiner Schwester geliebt wird. Der Kleine Badeker weiß aber nicht, wo der Ritter zu finden ist, und kann im mittleren Teil des Buches nicht über seinen Schatten springen und sich auf die Suche begeben. Zu groß ist seine Angst vor der Welt außerhalb von Wilwerwitz, in der er sich nicht zurechtfindet. Ein Konflikt zweiter Ordnung ist beispielsweise der innere Zwiespalt des Kleinen Baedekers innerhalb seiner o-world. Seine Eltern, die bereits einen Sohn und ihre Tochter an die abenteuerverheißende Welt verloren haben, wünschen sich, dass der Kleine Baedeker in Wilwerwitz bei der Familie bleibt. Insbesondere die Mutter hat schwer mit dem Auszug ihrer anderen beiden Kinder zu kämpfen. Der Bruder und die Schwester des Kleinen Baedekers wollen ihn dazu bewegen seinen Schulabschluss zu machen, und dann in die Welt hinauszuziehen. Beiden fühlt sich der Kleine Baedeker verpflichtet, so dass es zu einem Konflikt innerhalb seiner o-world kommt. 5 Praktikabilität bei postmodernen Romanen Carola Surkamp vertritt explizit die Meinung, dass die Possible Worlds Theory geeignet ist, die fragilen Welten postmoderner Romane zu beschreiben. Sie gesteht allerdings zu, dass „die PWT auf den ersten Blick unvereinbar mit postmodernen Narratologien [scheint], die sich gegen jegliche Vorstellung von Hegemonie, Logozen- trismus und eine damit einhergehende negative Bewertung von Peripherien stellen.“ 57 57 Surkamp 2002, S. 177.
  • 24. 5 PRAKTIKABILITÄT BEI POSTMODERNEN ROMANEN 22 Surkamp spielt damit auf Philosophen wie Goodman an, die sich gegen eine Theorie wenden, die ein Modalsystem mit einem Zentrum und umkreisenden möglichen Welten propagiert. Nelson Goodman spricht „der Theorie möglicher Welten (...) jegliches heuristisches Potential mit der Begründung ab, daß der Glaube an mögliche Welten die Existenz oder zumindest die Zugänglichkeit einer actual world voraussetze bzw. akzeptiere, daß die actual world die beste oder zumindest die einzige ist.“ 58 Goodman hält diese Prä- missen im Zeitalter der Postmoderne für nicht tragbar, da er hier von einer Vielheit gleichzeitig wahrer Welten ausgeht, die miteinander konkurrieren. Und tatsächlich scheint seine Theorie die fragilen und instabilen Realitäten postmoderner Werke wie „Paradiese, Übersee“ gut zu beschreiben: Hassans Unbestimmtheit, Fragmentierung und Auflösung, sowie Grabes Fremdartigkeit der Werke mit einer Relativierung des Vertrauten als Merkmale postmoderner Werke können durch eine Vielheit von Welten genauso beschrieben und erklärt werden, wie eine Pluralität der vermittelnden Instan- zen. Auch Lyotards Ansatz, der den Verlust der Meta-Erzählungen beinhaltet und damit nur noch von Weltenfragmenten und ungeschlossenen Weltenbeschreibungen ausgeht passen zum Konzept einer Vielheit an Welten. Als Werkzeug zur Offenlegung und Charakterisierung von komplexen narrativen Welten eignet sich sein Ansatz jedoch weniger gut, als der differenzierte Ansatz von Ryan. Ihre Possible Worlds Theory erlaubt bei der Beschreibung von Multiperspektivität sowohl die Einbeziehung der „inhaltlichen Beschaffenheit jeder individuellen Figuren- und Erzählersicht auf die fiktionale Wirklichkeit als auch die Erfassung der (...) unterschiedlichen Versionen des Geschehens“,59 und geht damit weit über die in ande- ren narrativen Theorien übliche Beschreibung der multiplen Vermittlungsinstanzen hinaus. Das ist eine Leistung von Ryans Possible Worlds Theory, die insbesondere bei postmodernen Romanen, die durch Multiperspektivität charakterisiert sind, von großem Nutzen bei der Beschreibung ist. Auch ist Ryans Konzept geeignet zu erklären, warum manche Romane für Leser schwieriger zugänglich sind als andere. Über die accessibility relations kann genau ausgemacht werden, auf welche Weise sich die textual actual world von der actual world und damit auch von der Zugänglichkeit durch den Lesers entfernt. Dennoch hat der vorangehende Abschnitt 4 Applikation auf „Paradiese, Übersee“ auch aufgezeigt, wo die Probleme in der Anwendung der Possible Worlds Theory auf einen postmodernen Roman wie „Paradiese, Übersee“ liegen: Teile ihrer Theorie können nicht oder nur teilweise appliziert werden, da der Inhalt von Hoppes Roman 58 Ebd., S. 178. 59 Ebd., S. 175.
  • 25. 6 FAZIT 23 nicht mit Ryans Definition von Plot vereinbar ist. Ein weiteres Problem liegt in der Komplexität der Plotelemente und Figurendomänen im Roman. Würde man versuchen, Ryans Theorie der narrativen Universen auf den Roman anzuwenden, müsste man sicher zwischen der textual referential world, der textual actual world, den private worlds und den pretended worlds unterscheiden kön- nen. Durch die verschiedenen Autoritätsgrade der erzählenden Instanzen, die starke Vermischung von subjektiven Eindrücken mit Faktualem und der Unklarheit darüber, aus wessen Perspektive berichtet wird, ist dies eine nahezu unlösbare Aufgabe. Der Versuch die narrativen Universen korrekt abzubilden ist bei „Paradiese, Übersee“ zum Scheitern verurteilt. Dies trifft jedoch nicht generell auf postmoderne Romane zu. Hoppes Roman ist stärker von Multiperspektivität und der Nebeneinanderstellung von disparaten Welten geprägt, als andere postmoderne Romane wie Ilja Trojanows „Weltensammler“ oder „Im Kongo“ von Urs Widmer. Bei diesen Romanen wäre eine Aufschlüsselung der narrativen Universen möglich. Da „Paradiese, Übersee“ ein so extremes Beispiel für die Ausprägungen postmoderner Literatur ist, können die hier vorhandenen Probleme bei der Anwendung der Possible Worlds Theory nicht auf postmoderne Literatur im Allgemeinen generalisiert werden. 6 Fazit Die Possible Worlds Theory eignet sich, um die Welten narrativer Texte zu beschrei- ben. Sie zeigt auf, dass ein Leser beim Rezipieren eines Buches in den Text eintauchen kann, wenn dieser Text mögliche Welten entwirft, die zugänglich sind. Zugänglichkeit entsteht dann, wenn mindestens eine, besser mehrere, Zugangsrelationen erfüllt sind. Die Welten, die ein Roman entwirft, können mit Hilfe von narrativen Universen beschrieben werden, die durch recentering im Zentrum eine textual actual world haben, die von alternate possible worlds, die teilweise wiederum zu einem neuen Zentrum eines neues Systems werden können, umkreist werden. Damit leistet die Possible Worlds Theory einen Beitrag zu Erklärung von ... Weiterhin können mit Hilfe der Possible Worlds Theory Plotstrukturen und darin zugrundeliegende Konflikte ausgemacht werden, und so die tellability eines Romans geprüft werden. Auch – oder gerade – bei postmodernen Romanen kann die Possible Worlds Theory angewendet werden um die Multiperspektivität und bei postmodernen Texten den spielerischen und subversiven Charakter zu erfassen. Problematisch ist weiterhin allerdings der „Welt“-Begriff. Da er, wie in 1 Hinführung bereits angedeutet, gleichzeitig Metapher und terminus technicus der Possible Worlds Theory ist, ist der Umgang mit diesem Begriff oft unsauber und von Ambivalenzen geprägt. Hier sollte innerhalb der Possible Worlds Theory in Zukunft differenzierter
  • 26. 6 FAZIT 24 mit dem Begriff umgegangen werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Außerdem sollte in Zukunft daran gearbeitet werden die Possible Worlds Theory auch für narrative Texte zu instrumentalisieren, bei denen keine Erzählinstanz mit Autorität vorliegt. Eine mögliche Lösung könnte hier eventuell die Einführung von a posterio konstruierten Erzählinstanzen sein. Dennoch können auch jetzt schon mit der Possible Worlds Theory aufschlussreiche Kenntnisse gewonnen werden, wie in fiktionalen Texten Welten erzeugt werden.
  • 27. Literatur 25 Literatur Aristoteles: Poetik. Stuttgart: Reclam, 1994, Zweisprachige Ausgabe, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Coleridge, Samuel Taylor: Biographia Literaria. 1985. Döbler, Katharina: Papierschiffchen sind unsinkbar., http://www.zeit.de/2003/16/L-Hoppe. Doležel, Lubomír: Truth and Authenticity in Narrative. In Poetics today 1:3 1980, S. 7–25. Doležel, Lubomír: Possible worlds of fiction and history: the postmodern stage. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2010. Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. Fechner, Frank: Politik und Postmoderne. Postmodernisierung als Demokratisie- rung? Wien, 1990. Grabes, Herbert: Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Post- moderne: die Ästhetik des Fremden. Tübingen: Francke, 2004, UTB; 2611 : Litera- turwissenschaft, Kulturwissenschaft. Hassan, Ihab: Postmoderne heute. In Welsch, Wolfgang (Hrsg.): Wege aus der Moderne. Weinheim, 1988, S. 47–56. Hoppe, Felicitas: Paradiese, Übersee. Frankfurt am Main, 2003. Kemmann, Ansgar: Evidentia, Evidenz. In Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 3: Eup - Hör, Tübingen: Niemeyer, 1996, S. 33–47. Krämer, Sybille: Vom Trugbild zum Topos. Über fiktive Realitäten. In Iglhaut, Stefan/Baudrillard, Jean/Rötzer, Florian (Hrsg.): Illusion und Simulation: Begegnung mit der Realität; Symposion, [am 18. und 19. März 1994 in München]. Ostfildern: Cantz, 1995, Reihe Cantz, S. 130–137. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Über die Kontingenz. In Ders.: Philosophische Schrif- ten 2. Auflage. Herbert Herring, 1986, S. 179–187, Hrsg. u. übers. von Hans Heinz Holz. Linder, Annegret: Interview mit Felicitas Hoppe. 2010, Gesprächs-Protokoll auf Anfrage.
  • 28. Literatur 26 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen: ein Bericht. Vollst. überarb. Fassung der Übers. in Theatro machinarum 3/4, 1982 Auflage. Graz: Böhlau, 1986, Edition Passagen; 7. Lyotard, Jean-François: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982– 1985. Wien, 1987. Nelson Goodman and, Max Looser: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984. Pavel, Thomas: Incomplete Worlds, Ritual Emotions. In Philosophy and Literature 7 1983, S. 48–58. Pimentel, Ken/Teixeira, Kevin: Virtual Reality. Windcrest, 1994. Riese, Utz: Postmoderne/postmodern. In Barck, Karlheinz (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 5: Postmoderne - Synästhesie, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2003, S. 1–39. Ronen, Ruth: Possible worlds in literary theory. Cambridge: Cambridge University Press, 1994. Ronen, Ruth: Are Fictional Worlds Possible? In Mihailescu, Calin-Andrei/ Hamarneh, Walid (Hrsg.): Fiction Updated: Theories of Fictionality, Narratology, and Poetics. Toronto, 1996, S. 21–29. Ryan, Marie-Laure: Possible worlds, artificial intelligence and narrative theory. Bloomington, Ind. [u.a.]: Indiana Univ. Pr., 1991. Ryan, Marie-Laure: Narrative as Virtual Reality. Baltimore, London: The Johny Hopkins University Press, 2003. Solbach, Andreas: Evidentia und Erzähltheorie: die Rhetorik anschaulichen Er- zählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen. München: Fink, 1994, Figuren; 2. Surkamp, Carola: Narratologie und Possible-Worlds Theory: Narrative Texte als alternative Welten. In Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier, 2002, S. 153–183. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. 4. Auflage. Berlin: Akad.-Verl., 1993, Acta humaniora. Zima, Peter: Moderne, Postmoderne: Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen [u.a.]: Francke, 1997, UTB; 1967.
  • 29. Literatur 27 Zimmermann, Anja: Postmoderne. In Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wör- terbuch der Rhetorik. Band 7: Pos - Rhet, Tübingen: Niemeyer, 2005, S. 1–12.