2. SCHWERPUNKT: FEHLER
Markus Reichert – Experte für konstruktive Zerstörung
Die Kollektiv-Lösung
In der Produktion gilt der Mensch oft als größte Fehlerquelle.
Und wird wegrationalisiert.
SEW-Eurodrive zeigt, dass es anders geht.
Dort verbessern die Arbeiter ständig ihre Fabrik.
Sie sind schließlich die Experten.
Text: Christian Sywottek
Foto: Michael Hudler
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3. SCHWERPUNKT: FEHLER _SEW-EURODRIVE
• Woran denkt ein Manager, wenn die Zahlen nicht stimmen?
Wenn sein Unternehmen ein Koloss ist mit Tausenden Mitarbei-
tern? Wenn er in Deutschland Industrieprodukte herstellt?
Johann Soder dachte an die kleine Schreinerwerkstatt, in der
er als Kind Drachen baute. Eine Werkbank aus Holz stand da,
gespickt mit Werkzeug. Alles war dort, wo der Schreiner es schnell
greifen konnte, auch das Material. Der Schreiner arbeitete zügig
und sicher. „Der ganze Arbeitsplatz war genau nach dem Bewe-
gungsablauf gestaltet“, erinnerte sich Soder. „Das musste doch
auch in jeder Fabrik gehen.“
Soder, 52, ist Geschäftsführer Produktion und Innovation bei
SEW-Eurodrive in Bruchsal, gegründet 1931 als Süddeutsche
Elektromotoren-Werke, mit heute 11 000 Mitarbeitern in 43 Län-
dern. SEW-Eurodrive produziert Antriebssysteme, Getriebemoto-
ren und die entsprechende Elektronik. Wo sich etwas bewegt, sind
SEW-Produkte zu finden, in Stadiondächern, Getränkeabfüllanla-
gen, Förderbändern in Kieswerken und auf Flughäfen, Montage-
trassen und Rolltreppen.
Im Jahr 1995 hatte Soder ein Problem. „Seit den achtziger Jah-
ren haben wir in Bruchsal eine eigene Elektronikfertigung aufge- SEW-Geschäftsführer Johann Soder – der Mann von der Werkbank
baut, aber die schrieb rote Zahlen und wurde von der Mechanik
subventioniert. Damals gab es nur einen Weg: Entweder wir schaf-
fen bei der Elektronik den Durchbruch, oder wir schließen dieses
Segment und kooperieren mit einem anderen Unternehmen. Es für Material und das Endprodukt. Alles in Griffnähe. Auf jeder
ging uns nicht vorrangig darum, Kosten zu sparen. Wir mussten Insel wird ein bestimmtes Teil von Anfang bis Ende von ein oder
produktiver werden.“ Johann Soder baute eine neue Fabrik für zwei Mitarbeitern komplett gebaut – wie sie das tun, ist ihre
die Elektronik. Das Werk funktioniert heute, sieben Jahre nach Sache. Verantwortlichkeit ist überhaupt das Grundprinzip der
seiner Fertigstellung, genauso wie am Anfang: Es optimiert sich neuen Elektronikfertigung. Deshalb werden die Inseln zu Small-
stetig selbst. Die Mitarbeiter suchen und finden ständig Fehler und Factory-Units (SFU) zusammengefasst, entsprechend den Pro-
bessere Lösungen. Im Jahr 1995 produzierten 200 Menschen rund duktgruppen, die auf ihnen hergestellt werden. Eine SFU umfasst
2300 Geräte jährlich, etwa Frequenzumrichter, die den Motor bis zu 20 Inseln – eine übersichtliche Welt, mit einem Segment-
mit der richtigen Spannung versorgen. Heute schaffen 315 Men- betreuer an der Spitze. Der ist allein verantwortlich für die Stück-
schen 30 000 Geräte im Jahr. Wie geht das nur? zahlen, die Personalplanung, für die Qualität und die Kosten.
„Um Neues zu schaffen, brauchen wir die Weisheit von vie-
len“, beschreibt Soder seine Philosophie. „Wer optimieren und Die Fehler werden am besten dort vermieden,
Fehler beseitigen will, benötigt dafür jeden Mitarbeiter.“ Und was wo sie entstehen: in der Produktion
soll jeder Mitarbeiter tun? Soder spricht gern von der „kreativen
Zerstörung, und zwar immer dann, wenn es gerade am besten Verantwortlichkeit ist die Voraussetzung für das, was SEW mit
läuft“. Allerdings braucht es einen entsprechenden Rahmen, wenn außergewöhnlicher Konsequenz betreibt: Nie aufhören nach bes-
aus dem Zerstörten etwas Neues, Besseres entstehen soll. Über- seren Lösungen zu suchen – und die Mitarbeiter daran entschei-
sicht ist wichtig, wie in der Schreinerwerkstatt aus Soders Kind- dend beteiligen. Nicht auf ihre Kosten, sondern auch zu ihrem
heit. Eine kleine Einheit wie eine Werkstatt lässt sich gut über- Vorteil. Optimierung, das ist hier jedem klar, ist eine kollektive
blicken. So lassen sich Fehler besser finden. In einer Werkstatt ist Sache. „SEW setzt an beim Managementprinzip“, sagt Arnd
jeder Werker für seinen Arbeitsplatz verantwortlich – also auch Huchzermeier, Professor für Produktionsmanagement an der Otto
interessiert an positiven Veränderungen. Und der Werker kennt Beisheim School of Management in Vallendar. „Die Mitarbeiter
seinen Arbeitsplatz besser als jeder andere. dort sind Prozess-Mitgestalter. Management und Belegschaft
Soders Schluss: Die Mitarbeiter sollten entscheiden, was an arbeiten miteinander, nicht gegeneinander. So entsteht ein orga-
ihrem Arbeitsplatz geschieht. Deshalb ist das Montageband einer nisches System, das sich permanent neu justiert. Der Profit fällt
Insellösung gewichen. Eine Insel ist ein Gewirr aus Aluminium- SEW damit in den Schoß, er ist im Grunde das Nebenprodukt
rahmen, darauf montiert die Arbeitsfläche, die Werkzeuge, Flächen der Veränderungen.“
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4. SCHWERPUNKT: FEHLER
Bei SEW wird jede Montage-Insel einmal im Jahr Opfer einer und Meister etwas von Angelernten sagen lassen, die bei SEW
kreativen Zerstörung. Die kreativen Zerstörungsseminare dauern die Elektronikteile komplettieren.
zunächst drei Tage, später folgen noch einmal zwei Tage. Jeder, Frauen wie Waltraud Stier, 50, die seit 19 Jahren Platinen,
der etwas weiß, ist willkommen: Werker, Meister, Manager, die Stecker, Kontakte und Gehäuse zu Umrichtern vereint und ver-
Schlosser, die die Montage-Insel später neu aufbauen sollen. Das hindert hat, dass man ihre Insel so verengt, dass sie sich kaum
Ziel: zügiger arbeiten, noch weniger Fehler machen – bei besse- bewegen kann, und die am Modulkasten eine Klappe durchsetz-
ren Arbeitsbedingungen. te, sodass sie leichter zugreifen kann. „Wenn man sich traut, macht
„Man muss nicht alles krampfhaft anders machen“, sagt es Spaß“, sagt Waltraud Stier. „Es ist gut, wenn man seine Ideen
Markus Reichert, 33. Reichert ist Berater der firmeneigenen Wie- einbringen kann, zusammen mit anderen. Und wenn die dann
pro-Consulting und Moderator der jährlichen Optimierungssemi- noch umgesetzt werden, ist das doch toll.“
nare. Zerstören, sagt er, das sei eher ein Schlagwort. „Man darf Sie kennt noch die alte Fabrik. „Primitiv war das, Berge von
die Dinge auch so lassen, wie sie sind – aber nur nach eingehen- Pappkartons und Material überall, man musste sich alles zusam-
der Prüfung.“ mensuchen.“ Die ersten Seminare sah sie kritisch. „Ich dachte
Dafür baut Reichert mit seinen Seminaristen Montage-Inseln erst: Danach muss ich schaffen wie ein Ochs’.“ Sicher, im Zuge
aus Pappkartons nach, die genauso groß sind wie die Originale. der ständigen Optimierung sei die Arbeit mehr geworden, der
„Daran kann man in Ruhe ausprobieren“, sagt Reichert. Wie Druck sei gestiegen. „Aber heute ist die Arbeit fließender, alles
lange läuft man von einem Punkt zum anderen? Was passiert, läuft, es ist aufgeräumt. Das ist schon optimal – auch für einen
wenn der Monitor weiter oben hängt? Klebepistole lieber nach selbst. Und hier bleibt niemand auf der Strecke. Die Zeitvorga-
rechts, Presse nach links? Brauche ich wirklich zwei Scanner? Kön- ben sind immer noch in Ordnung.“
nen wir nicht Kombi-Etiketten nehmen? Alles Kleinigkeiten, aber Das SEW-Modell der Mitarbeiterbeteiligung an der Produk-
zehn Prozent Produktivitätssteigerung sind locker drin. Wird eine tionsplanung zwingt auch die Unternehmensleitung zu Zuge-
ganz neue Insel geplant, können es bis zu 40 Prozent sein. „So ständnissen. An Wissen der Mitarbeiter zu kommen, vorgeblich,
entsteht Geschwindigkeit“, sagt Reichert. „Prozesse optimieren um ihnen die Arbeit zu erleichtern, aber in Wirklichkeit nur um
statt Daumenschrauben ansetzen.“ Wege zu finden, sie noch weiter unter Druck zu setzen – das
Nicht nur die Suche nach neuen Lösungen, sondern auch der funktioniert nicht. SEW hat erkannt, dass Balance notwendig ist.
Beschluss über das, was letztlich verändert wird, wird im Kon- Maschinen und Prozesse sind für alle in der Branche gleicherma-
sens gefasst. Das ist insofern ungewöhnlich, weil sich Manager ßen verfügbar, nicht aber die Menschen. Wer langfristig besser sein
will, muss das bessere Personal haben. Optimierung im Sinne von
SEW funktioniert nur mit Mitarbeitern, die mitdenken wollen –
also muss man sie gut behandeln. „Rein rechnerisch könnte ich
bei den Stückzahlen noch mehr draufsatteln“, sagt Johann Soder,
„aber dann kriege ich Widerstand.“
Soder findet es akzeptabel, dass die Arbeiter in der Produk-
tion zuweilen schon eine halbe Stunde vor Schichtende ihr Pen-
sum geschafft haben. „Niemand kann jeden Tag Höchstleistung
bringen. Deshalb kann man eine Produktion auch nicht so pla-
nen, als gäbe es keine guten und schlechten Tage.“
Soder denkt an morgen, übermorgen, kommendes Jahr, daran,
dass er das Vertrauen seiner Leute braucht, damit sie ihm ihr Wis-
sen geben in der Gewissheit, dass er sie nicht übers Ohr hauen
wird. „Optimierung ist zu 30 Prozent eine Sache der Betriebs-
kultur. Also muss auch ich mich entsprechend verhalten. Wenn
ich heute zwei Teile mehr schaffe, müssen es morgen vier sein –
dieses Misstrauen zum Beispiel ist bei den Mitarbeitern mitunter
noch da. Aber das gibt es bei mir nicht. Die Vorgaben werden
nicht erhöht, solange wir das nicht gemeinsam beschlossen haben,
und zwar nach einer Investition.“ Also nach einer Optimierung,
die die Arbeitsbedingungen wirklich verändert hat.
Zur Konsequenz des Miteinanders gehört auch: Automatisie-
Ich bastle mir einen Arbeitsplatz – Montage-Insel aus Pappe rung ist keine Bedrohung. Soder nutzt Technik, um Menschen 3
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5. SCHWERPUNKT: FEHLER _SEW-EURODRIVE
frei zu machen für neue Aufgaben. SEW habe schon ewig nie-
manden mehr betriebsbedingt entlassen. Maschinen übernehmen
Arbeiten, bei denen man nicht viel denken muss – pressen, schrau-
ben, löten. Der Mensch aber bleibt das flexibelste Werkzeug.
Deshalb wird oft per Hand bestückt, obwohl ein Roboter diese
Arbeit erledigen könnte – wenn da bloß nicht der ständige Pro-
duktwechsel wäre. Ein Roboter kann nicht so einfach umpro-
grammiert werden, wie ein Mensch umdenkt. Auch deshalb karrt
noch immer ein Mensch mit seinem Elektrowägelchen das
Material an die Montage-Inseln. Woanders gleiten transponder-
gesteuerte Transporter führerlos durch die Hallen. Und bleiben
auf der Strecke, sobald sich das Anlagendesign verändert. Oder
schlimmer noch: Sie verhindern, dass sich etwas ändert. Bei SEW
nimmt der Fahrer einfach eine andere Route.
Ständige Verbesserung funktioniert nur im
Kollektiv. Eine neue Erkenntnis für viele Manager
Die Optimierungsstrategie setzt nicht auf den schnellen Effekt. Es
geht nicht um Kostenblöcke, sondern ums Prinzip: Intelligenz des Waltraud Stier – die Frau, die sich traut und der es Spaß macht
Schwarms, kleine Einheiten, Eigenverantwortung, stetes Infrage-
stellen dessen, was ist. Nicht darauf warten, dass ein Fehler auf-
fällt, sondern gezielt danach suchen. Nur machen, was Sinn hat,
das aber konsequent. Möglichst im Konsens. eine Produktionssteigerung von mindestens 20 Prozent gesehen“,
Ohne Widerstand geht es allerdings nicht ab. Weniger bei den sagt er. Geplant war sein Werk für 1800 Antriebe pro Tag. Schon
Werkern selbst, meint Johann Soder, sondern eher im mittleren jetzt sind es 2500. Zahlen sind jedoch nur die halbe Wahrheit –
Management – also dort, wo in einem System umfassender und vielleicht ist sogar die andere Hälfte noch wichtiger, wenn
Beteiligung der größte Machtverlust droht. Für Soder ist dieser ein Unternehmen weg will von der starren Linie hin zur Insel und
Widerstand Folge eines veralteten Verständnisses von Manage- einem System, in dem die Mitarbeiter Entscheidungsfreiheit
ment. „Viele Führungskräfte sind gierig nach Troubleshooting, bekommen. Wenn es Gewissheit darüber erlangen will, ob dieser
weil sie dann nicht denken müssen. Wir aber brauchen hier Men- Weg richtig ist.
schen, die genau das tun – nachdenken über die Zukunft.“ Die andere Hälfte ist ungewohnt für einen Manager. „Ich kom-
Wer sich freimacht vom alten Denken, merkt schnell, wie ent- me heute lieber zur Arbeit als früher.“ Sagt Andreas Kohl, und er
lastend die Beteiligung von Mitarbeitern an der Prozessgestaltung sagt das nicht einfach so. Warum es so ist? „Sicher, ich muss mit
wirkt. Fehler findet jeder mal, ständige Verbesserung aber ist eine noch mehr Leuten reden, manchmal fühle ich mich wie in einem
Sache des Kollektivs. Eine neue Erkenntnis für viele Führungs- Debattierklub. Aber alle Beteiligten haben jetzt mehr Gefühl für
kräfte. Auch Andreas Kohl hat eine Weile gebraucht, um sich an und mehr Kenntnis über die Arbeitsinhalte und Ziele. So lassen
das System zu gewöhnen. Kohl, 50, ist Werkleiter Logistik im sich Fehler leichter korrigieren. Und es ist eine transparente
Getriebemotorenwerk Graben-Neudorf nahe Bruchsal. Das Werk Sache – da kann sich niemand nur selbst optimieren, sondern
steckt mitten im Umbau von der Linie zu Inseln, Verantwortlich- jeder muss auch an die anderen denken.“ Kohl hat erkannt, wie
keit und Optimierungsseminaren. Kohl hat die Fabrik 1983 mit viel ihm das bringt. „Ich empfinde das als Machtgewinn. Ich kann
entworfen – nun gilt sie als veraltet. auch mal von bestimmten Dingen lassen. Und trotzdem erreiche
„Interdisziplinäre Teams, Kartonwelten – heute ist das für ich meine Ziele schneller.“
mich der Haupterfolgsfaktor. Dabei ist es der absolute Gegensatz SEW setzt gerade zum nächsten Sprung an. Am Stammsitz
zu der Welt, aus der ich komme“, sagt Kohl. Der Wirtschafts- in Bruchsal entsteht vom kommenden Jahr an eine neue Fabrik
ingenieur war früher Leiter der Zentralen Arbeitsvorbereitung, für große Industriegetriebe. So sitzt die SEW-Entwicklung gleich
die für die deutschen Werke fleißig plante – und die Johann nebenan – ein wirtschaftlicher Vorteil, der nur möglich ist, weil
Soder umgehend auflöste. Kohl ließ sich auf Pilotprojekte nach die Mitarbeiter die Produktivität der Werke nach oben trimmen.
dem Vorbild der Elektronikfertigung ein. Das war’s dann mit dem Tschechien blieb außen vor. Dafür bekommt das deutsche Hoch-
alten System. „Ich habe noch kein Optimierungsprojekt ohne lohnland rund 200 neue Arbeitsplätze. -
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7. SCHWERPUNKT: SPITZENKRÄFTE
Machte aus seiner Neben- die Hauptbeschäftigung:
Wiki-Guard Frederic Hahn
DIE GLÄSERNE
FIRMA
Der Chef ist nicht automatisch der Schlaueste.
Aus dieser Erkenntnis hat Frank Roebers, Vorstandssprecher der Synaxon AG,
eine radikale Konsequenz gezogen:
In seinem Unternehmen darf jeder jederzeit jede Regel ändern.
Text: Jens Bergmann Foto: Olaf Fippinger
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8. SCHWERPUNKT: SPITZENKRÄFTE _FIRMEN-WIKIS
gen Paketdienst ein konzernweiter Vertrag bestand. Roebers
sprach mit seiner Kollegin über die Gründe für die Regeländerung,
erkannte sie als sinnvoll, und so hat sie Bestand: Der neue Ver-
sender wird beauftragt, bis der alte die Probleme im Griff hat.
In den 16 Jahren, in denen er bei Synaxon arbeitet, habe er
keine solche Veränderung wie die durch das Wiki erlebt, sagt
Roebers. Er schwärmt von einer „Kulturrevolution“. Und ist sich
einig mit dem in Kalifornien lebenden Schweizer Computeringe-
nieur Peter Thoeny, der als Vordenker von Firmen-Wikis gilt:
„Wikis machen Organisationen flacher und anarchischer, auch
weil es hier keinerlei exklusive Informationen gibt. Alles wird
geteilt.“
Selbstverständlich wäre das Problem mit dem Postversand
auch ohne das Mitmach-Netz zu lösen gewesen. Beispielsweise
hätte die Angestellte ihren Vorgesetzten darauf ansprechen oder
ihm eine Mail schicken können. Möglicherweise hätte der sich um
die Sache gekümmert. Möglicherweise aber auch nicht, aus Zeit-
mangel oder weil er Besseres zu tun gehabt hätte. Dann wäre sie
enttäuscht gewesen und hätte sich weiter über den Paketdienst
geärgert. So etwas passiert in den meisten Firmen tagtäglich, führt
Freut sich über mehr Durchblick: die PR-Frau Alexandra Linck zu Frust und dazu, dass wertvolles Wissen brachliegt.
Dieses Phänomen hatte Roebers, der eine Firma leitet, die
wesentlich von der Produktion und vom Verkauf von Know-how
lebt, schon lange gestört. Er blättert weiter durch das Synaxon-
Wiki, in dem sich alle Mitarbeiter auch auf eigenen Homepages
• Der Vorstandssprecher Frank Roebers sieht nicht nur aus wie mit Foto, Lebenslauf und Hobbys darstellen können. Von Roe-
ein großer Junge, er kann sich auch wie einer begeistern. Stolz bers erfährt man unter anderem, dass er Triathlet ist und Reserve-
erlaubt der 39-Jährige in den Bielefelder Firmenräumen Einblicke offizier bei der Bundeswehr, was auf ein gewisses Durchhalte-
in das neue zentrale Nervensystem der Synaxon AG. Die bietet vermögen und Durchsetzungsfähigkeit schließen lässt.
Franchise-Systeme und andere Kooperationsmodelle für rund Die Bundeswehr hat ihren eigenen Anteil an Roebers’ Kul-
2700 Computerhändler und bündelt deren Einkaufsmacht. Das turrevolution. Bei einer Wehrübung vor anderthalb Jahren erfuhr
Gehirn des Unternehmens funktioniert wie die freie Online- er, dass die Armee – die auch nicht mehr ist, was sie mal war –
Enzyklopädie Wikipedia, an der jedermann mitschreiben kann. auf den sogenannten Kontinuierlichen Verbesserungsprozess setzt,
Das Wissen der Firma ist in einer Artikel-Sammlung auf derzeit auf Ideen von unten also. Der Oberleutnant der Reserve machte
rund 5200 Seiten versammelt – von den Verträgen mit Koope- die Probe aufs Exempel und reichte einen Verbesserungsvorschlag
rationspartnern und Lieferanten bis zu Stellenbeschreibungen der ein. Reaktion: keine. Für Roebers Anlass, über das Problem nach-
Angestellten. Von Prozessbeispielen bis zur Dokumentation aller zudenken, das fast alle Organisationen haben: Sie passen sich
laufenden Projekte. Von einer Liste mit Fachbegriffen bis zu den nicht schnell genug an die sich verändernde Umwelt an. Die Men-
Spielregeln bei Synaxon. schen in diesen Organisationen merken das bei ihrer alltäglichen
Mithilfe von Suchbegriffen kann jeder in der Firma das Wiki Arbeit und wissen häufig auch, wie das zu ändern wäre, dringen
durchforsten und das gesammelte Wissen anzapfen – bis auf aber – trotz Kontinuierlichem Verbesserungsprozess, Betriebli-
einen kleinen Bereich, der Führungskräften vorbehalten ist und wo chem Vorschlagswesen etc. – meist nicht zu den Entscheidern
unter anderem strategische Fragen diskutiert werden. Jeder kann durch. Die Folge ist eine Kultur des sich Durchwurschtelns.
fast alles erfahren. Und jeder kann, wie bei Wikipedia, jeden Bei- Roebers hat dieses Phänomen auch in der eigenen Firma
trag kommentieren oder verändern: Ein Klick auf den „Bearbei- beobachtet. „Ich formuliere Regeln und stelle irgendwann fest,
ten“-Button genügt. So war beispielsweise eine Mitarbeiterin mit dass sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht eingehalten
der für den Paketversand zuständigen Firma unzufrieden und for- werden. Was soll ich tun? Eine Revisionsabteilung gründen, die
mulierte die entsprechende Regel im Wiki gemeinsam mit einer regelmäßig alles kontrolliert? Oder die Dinge laufen lassen und
Auszubildenden um: Ab sofort wird ein neuer Versender beauf- irgendwann den Überblick verlieren über das, was wirklich in der
tragt. Eine Änderung mit Konsequenzen, weil mit dem bisheri- Firma passiert?“
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9. SCHWERPUNKT: SPITZENKRÄFTE
Die Ursache, erkannte Roebers, ist, dass Wissen nicht schnell
genug dorthin fließt, wo es nützt. Und weil er den Sachen gern
auf den Grund geht, überlegte er, wie das zu ändern wäre. Unter
anderem erkundigte er sich in einem Arbeitskreis von Managern
aus verschiedenen Unternehmen, die sich mit Six Sigma beschäf-
tigen, einer mathematischen Qualitätsmanagementmethode. Alle
dort kannten das Problem des schleppenden Wissenstransfers. In
einigen Firmen hatte man es durch die Einführung mehr oder
minder komplizierter Wissensmanagement-Software mit je nach
Hierarchie-Ebene unterschiedlichen Zugriffsrechten zu lösen ver-
sucht. Vergeblich. Die einhellige Erfahrung war, dass die Leute
solche Hilfsmittel nicht nutzen.
Nach diesen ernüchternden Auskünften entdeckte Roebers im
Internet ein Gratis-Wissensmanagementsystem, das prima funktio-
niert: Wikipedia. An der für jedermann zugänglichen Online-
Enzyklopädie arbeiten Tausende Freiwillige ohne Bezahlung mit.
Gemeinsam haben die Wikipedianer in erstaunlicher Geschwin-
digkeit ein Lexikon geschaffen, das mit der Encyclopaedia Britan-
nica mithalten kann. Der Berater Alexander Kornegger, der Syn-
axon bei der Einführung des Firmen-Wikis unterstützt hat, spricht
von „einem konkreten Ausdruck kollektiver Intelligenz“. Ist fasziniert von der Intelligenz des Systems: der IT-Leiter Frank Weber
Um herauszufinden, wie und warum Wikipedia so gut funk-
tioniert, betätigte sich Roebers im vergangenen August „mit zit-
ternden Fingern“ selbst als Autor. Er schrieb einen Artikel über
ein Thema, mit dem er sich gut auskennt: die Qualitätsmanage-
mentmethode Six Sigma. Der Artikel sei gut gewesen, sagt Roe- frei ist. Widerstände gab es in der Firma trotzdem, unter ande-
bers, aber das Layout schlecht, weil er sich damals noch nicht mit rem von IT-Leuten und einigen Führungskräften. Mancher
dem für ihn ungewohnten Wiki-Editor auskannte. Roebers beob- befürchtete, dass die Idee der kollektiven Firmenintelligenz im
achtete, was passierte: Fünf Minuten nach Beenden seines Arti- Chaos enden würde. Doch Roebers ließ sich nicht beirren: Im
kels hatte irgendjemand den Text in Form gebracht. 20 Minuten vergangenen Oktober wurde das Firmen-Wiki eingeführt. Über
später war er mit Links versehen. Es folgten in kurzer Zeit rund mehrere Wochen hinweg gaben alle alles Wissenswerte in einer
20 weitere Editionen und Diskussionsbeiträge, die, so Roebers, gemeinsamen Kraftanstrengung in das System ein. Jeder Mitar-
„alle sinnvoll waren“. Mittlerweile gibt es rund 500 Anmerkun- beiter ist seitdem angehalten, das, was er tut, im Wiki zu doku-
gen zu und Veränderungen an Roebers Text. mentieren, was nicht alle toll finden, weil es erst einmal Mehrar-
beit bedeutet – und auch mehr Kontrolle. Roebers geht mit
Der Vorteil eines Wikis: Es ist einfach gutem Beispiel voran und arbeitet konsequent firmenöffentlich.
zu bedienen, und man muss niemanden fragen Mittlerweile sei das Wiki ein Arbeitsmittel, das viele ganz selbst-
verständlich nutzen.
Warum machen sich so viele Leute so viel Arbeit? Die Hemmschwelle für Nutzer ist gering, hat auch Tim Bar-
Weil sie sich auf unkomplizierte Weise nützlich machen kön- tel, Betriebswirt an der Universität zu Köln, bei einer Befragung
nen. Und weil diese Leistung sichtbar und damit anerkannt wird. von Mittelständlern nach ihren Erfahrungen mit Wikis herausge-
Auf Knopfdruck werden alle, die an einem Artikel mitgearbeitet funden. Die wesentlichen Vorteile von Wikis sind demnach ihre
haben, mit ihrem jeweiligen Beitrag angezeigt und können sich leichte Bedienbar- und Durchschaubarkeit: Jede Änderung an ei-
auf ihrer individuellen Wikipedia-Homepage zusätzlich selbst dar- nem Beitrag wird sofort sichtbar. Man muss nicht fragen, sondern
stellen. Von einem Autor, der fleißig zu Roebers Six-Sigma-Text kann einfach machen. Deshalb, so Bartel, könnten anders als bei
beigetragen hat und unter dem Namen „Wikipediamaster“ fir- vielen komplizierten Wissensmanagement-Systemen Mitarbeiter
miert, erfährt man etwa, dass er Wirtschaftsingenieur in Franken „einfacher motiviert werden, ihr Wissen einzubringen“.
ist und sich für erotische Fotos interessiert. Allerdings sind Wikis kein Wundermittel. Wo tiefgestaffelte
Roebers war fasziniert und beschloss, bei Synaxon ein Wiki Hierarchien, Fürsten mit Herrschaftswissen und ein Klima der
einzuführen. Technisch war das kein Problem, weil die Software Angst vorherrschen, nutzt das schönste Mitmach-Netz nichts. 3
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10. SCHWERPUNKT: SPITZENKRÄFTE
Ein kleiner Nachteil des Wikis: Weil sich ein Teil des Flurfunks dorthin verlagert hat,
gibt es nur noch wenige Gründe, den Schreibtisch zu verlassen
Bei der Synaxon AG waren die Voraussetzungen gut. Mit 140 gebe es mehr Diskussionen: „Leute, die sich früher nie getraut hät-
Mitarbeitern und lediglich zwei Führungsebenen (Vorstände und ten, etwas zu sagen, nutzen das Wiki, um ihre Meinung kundzu-
Abteilungsleiter) ist das Unternehmen übersichtlich. Mehr als 80 tun.“ So stieß ein Buchhalter eine Diskussion über das Beurtei-
Prozent der Mitarbeiter sind Akademiker; Berührungsängste lungssystem an. Bei Synaxon werden alle Mitarbeiter halbjährlich
gegenüber EDV hat kaum jemand. Nicht zuletzt gibt es viel for- eingestuft: A bedeutet prima, B okay und C, dass der Job in
malisierbares Wissen und festgelegte Abläufe, die gut dokumen- Gefahr ist. Die Menschen in die Kategorien Schwarz, Weiß und
tiert werden können. Grau einzuteilen sei nicht in Ordnung, schrieb der Buchhalter. Im
Dass nach der Installierung des Wikis keine Anarchie ausge- Ergebnis wurden Details des Beurteilungssystems geändert, bei
brochen ist, liegt einerseits daran, dass alle Beiträge namentlich der Einteilung blieb es aber.
gezeichnet werden müssen. Und an der fehlertoleranten Wiki- Auch wenn sich nicht jeder mit jedem Veränderungsvorschlag
Technik: Alle Versionen eines Beitrags lassen sich auf Knopfdruck durchsetzen könne, werde sich viel offener auseinandergesetzt,
wiederherstellen; im Falle von Vandalismus geht also keine wich- findet auch der IT-Leiter Frank Weber. „Ein Teil des Flurfunks hat
tige Information verloren. sich ins Wiki verlagert.“ Gleichzeitig erleichtere es Kommunika-
Dennoch hat sich eine Menge geändert bei Synaxon. Vor tion: Jeder in der Firma kann die für ihn relevanten Wiki-Seiten
allem sei die Firma transparenter geworden, sagt die PR-Frau auf seine Beobachter-Liste setzen und wird dann automatisch
Alexandra Linck: „Ich weiß viel mehr über das, was meine Kol- über Änderungen auf diesen Seiten informiert. „Die kann man
legen in den einzelnen Abteilungen machen, als früher.“ Auch ganz schnell überfliegen – das ist viel effektiver, als E-Mails 3
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11. SCHWERPUNKT: SPITZENKRÄFTE
auszutauschen“, sagt Weber. Ihn fasziniert vor allem die Intelli-
genz des Systems: „Die Mitarbeiter haben mehr als die Hälfte der
Regeln hier im Unternehmen geändert – und alle Änderungen
erwiesen sich als sinnvoll.“
Die neue Transparenz bei der Arbeit ist
faszinierend. Und für manche auch beängstigend
So wurde etwa das Verbot des privaten Internetsurfens durch
eine lebensnähere Vorschrift ersetzt: In den Arbeitspausen ist es
erlaubt, solange Pornoseiten und andere inkriminierte Inhalte
gemieden werden. Woraufhin jemand die Frage aufwarf, ob pri-
vates Surfen nicht als geldwerter Vorteil zu versteuern wäre – was
nach einigem Hin und Her verneint wurde.
Ufern solche Diskussionen nicht aus? „Nein“, sagt Roebers.
„Das regelt sich von selbst. Außerdem“, fährt er mit einem Zwin-
kern fort, „weiß ich jetzt, wen ich künftig beim Thema geldwerte
Vorteile ansprechen kann.“
Die Wiki-Idee ist die eines sich selbst regulierenden Systems.
„Entscheidend ist, dass nicht zu viele Vorgaben gemacht wer-
den“, sagt Peter Schütt, Leiter Wissensmanagement der IBM Soft- Und hier steht es, das unscheinbare Firmengehirn
ware Group Deutschland, wo man schon seit einiger Zeit auf die
Technik setzt. „Am besten hat irgendwer eine spinnerte Idee, und
die wird dann kritisiert und weiterentwickelt. Zwar sind manche
Kommentare Verschlimmbesserungen. Aber insgesamt schaukelt
sich das Ganze qualitativ immer hoch.“ Und sie erlaubt eine viel effektivere Zusammenarbeit, die Unter-
Entscheidend dabei sind Vorbilder, die einen gewissen Stil nehmen erhebliche Wettbewerbsvorteile verschaffen kann. Das ist
prägen – Chefs wie Roebers, die selbstbewusst genug sind, sich Roebers’ langfristiges Ziel, deshalb ist er bei seiner Arbeit an der
verbessern zu lassen. Angst davor, an Autorität zu verlieren und gläsernen Firma noch ein paar Schritte weitergegangen: Neben
zum „Grüß-August mit Haftungszulage“ zu mutieren, hat er nicht. dem Wiki für Synaxon gibt es eines für den engeren Kreis der
Allerdings ist er davon überzeugt, dass Instrumente wie das Wiki Franchise-Nehmer und eines für den weiteren Kreis der Partner-
althergebrachte Hierarchien infrage stellen. „Auf lange Sicht wird Firmen. Auch sie können mit ihren Beiträgen Einfluss auf die gel-
Wissen Macht schlagen, es wird eine neue Elite entstehen.“ Im tenden Regeln der Zusammenarbeit nehmen: eine für die auf strik-
eigenen Unternehmen fielen ihm dank des Wikis bereits neue te Vorgaben und eine klare Aufgabenteilung beruhende Franchise-
Talente auf. Eines ist Frederic Hahn, der unter anderem für die Branche unorthodoxe Idee. Die Beteiligung der Partner ist noch
Betreuung der Partnerbetriebe zuständig war – und sich nach schleppend, deshalb macht der Berater Alexander Kornegger im
Feierabend als Wikipedia-Autor betätigt. Dort hat er an Artikeln Auftrag Synaxons derzeit bei ihnen Wiki-Werbung.
über Obstbaumschnitt, Anagramme und die Kunst, störende Roebers will die Beiträge der Partner auch honorieren. Er
Geräusche des Computers zu unterdrücken („Silencing“) mitge- beziffert den Wert des Know-hows, das Synaxon ihnen liefert, auf
arbeitet. Vom Firmen-Wiki war er begeistert und stürzte sich in jährlich 500 000 bis 700 000 Euro – wenn die Partnerfirmen zu
die Arbeit, was Roebers auffiel, der ihm den Job des Wiki-Guards diesem Wissen etwas beitrügen, hätten sie Anrecht auf einen
verschaffte. Hahn soll das Firmen-Gehirn pflegen, auf Qualität gerechten Anteil. Den Glaubenssatz der Open-Source-Gemeinde
achten, neue Projekte initiieren und seine Kollegen motivieren, ihr – alle arbeiten gratis – hält Roebers für überholt. Auch diese Er-
Wissen preiszugeben. Er hat den Eindruck, dass manche dies mit kenntnis hat er im Netz gewonnen. Dort tummelt er sich in der
gemischten Gefühlen tun, weil sie fürchten: Wenn jeder weiß, virtuellen Welt von „Second Life“ und hat festgestellt, dass die
was ich tue, bin ich auch leicht zu ersetzen. Hahn sieht es so: „Die Neulinge dort vor allem eine Frage beschäftigt: wie man Geld ver-
Zeiten, in denen es ausgereicht hat, auf seinem Wissen zu sitzen dienen kann. Roebers hat schon eine Idee: Er will eine virtuelle
und so seine Stelle abzusichern, sind vorbei.“ Galerie in der zweiten Welt gründen. -
Techniken wie die Wikis sorgen für bislang ungeahnte Trans-
parenz in Arbeitsbeziehungen: Jeder kann sehen, was jeder leistet. Weitere Informationen über Firmen-Wikis: www.twiki.org
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12. SCHWERPUNKT: BILDUNG _UNTERNEHMEN UNIVERSITÄT
Neue Ideen entstehen im Gespräch: Professor Randolph Nesse mit einem Kollegen
Die große Maschine
Universitäten sind träge Apparate.
Unternehmerisches Denken könnte sie in Schwung bringen.
Ohne dass der Ausverkauf der Wissenschaft droht.
Text: Ralf Grötker Foto: Thomas Eugster
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13. SCHWERPUNKT: BILDUNG
• „Worüber haben Sie Ihre Ansichten geändert?“ So lautete das Nun gibt es eine Form der Organisation, die es wohl besser
Thema, das die Wissenschaftsorganisation Edge Foundation bei als das universitäre System vermag, Kapital herbeizuschaffen,
ihrer jüngsten Umfrage einem ausgewählten Kreis international Ressourcen wirksam einzusetzen und zu einem akzeptablen Preis
bekannter Forscher stellte. „Früher habe ich geglaubt, dass Uni- Ergebnisse abzuliefern: das private Unternehmen. Doch die Wis-
versitäten eine bevorzugte Heimstatt der Wahrheit seien“, ant- senschaft funktioniert nach anderen Gesetzen als die Wirtschaft.
wortete Randolph Nesse, Professor für Psychologie und Psy- In der Forschung zählen neue Erkenntnisse und die Anerkennung
chiatrie an der University of Michigan und einer der Befragten. der wissenschaftlichen Gemeinschaft in Form von Auszeichnun-
Heute sehe er das anders: „Die gen, Jobangeboten und Einla-
Kommissionen an den Fakultä- dungen zu wichtigen Kongressen
ten geben sich alle Mühe, dafür mehr als finanzieller Gewinn.
zu sorgen, dass die meisten Stel- Dass neue Erkenntnisse im-
len mit Leuten wie ihnen selbst mer richtig sein müssen, folgt
besetzt werden. Neue Forschungs- daraus nicht: So ist es zum Bei-
gebiete, die etablierte Dogmen spiel üblich, dass über wissen-
infrage stellen, haben keine schaftliche Experimente nur im
Chance, durch die Maschen die- Erfolgsfall in Fachpublikationen
ses Siebes zu schlüpfen.“ berichtet wird. Negativ-Ergeb-
Nesse urteilt aus eigener nisse fallen unter den Tisch.
Erfahrung: Anfang der neunziger Randolph Nesse erklärt das am
Jahre hat er eine eigene For- Beispiel des Zusammenhangs
schungsrichtung begründet. Der zwischen Stresshormonen und
„darwinistischen Medizin“, wie er Depressionserkrankungen. „In
seinen fachübergreifenden Ansatz allen Übersichtsartikeln zum
genannt hat, geht es um Ant- Thema, die ich gelesen habe,
worten auf die großen Fragen: gehen die Experten davon aus,
Warum werden wir kurzsichtig? dass zwischen Depression und
Warum gibt es Alzheimer? Wa- Stresshormonen ein Zusammen-
rum Krebs? Wozu 2,5 Millionen hang besteht. Aber in der Pri-
Jahre menschlicher Evolution, märliteratur konnte ich nichts
wenn all diese Handicaps, Leiden davon bestätigt finden.“
und Krankheiten immer noch Wie kann das sein? Möglich,
existieren? dass wirtschaftliche Interessen
Ein ganz neues Paradigma im Randolph Nesse stellt große Fragen: von Antidepressiva-Herstellern
wissenschaftlichen Spartenbetrieb „Warum werden wir kurzsichtig? Warum gibt es Alzheimer?“ hier mit hineingewirkt haben,
durchzusetzen ist sicherlich nicht vermutet Nesse. „Aber in der
einfach. Doch Nesse steht damit Hauptsache wird es daran liegen,
nicht allein. Überall beklagen Wissenschaftler, dass das akademi- dass die meisten Forscher, die ihr Leben damit zugebracht haben
sche System innovative und selbstständige Forschung durch kom- zu zeigen, wie durch Stress Depressionen verursacht werden, die
plexe und undurchsichtige Praktiken bei der Vergabe von Stellen positiven Ergebnisse am überzeugendsten fanden und die nega-
und Mitteln erschwere. In Deutschland kommt dazu der Unmut tiven einfach uninteressant.“
über eine chronische Unterfinanzierung in allen Bereichen im Es führt also vermutlich nicht weiter, den Gegensatz zwischen
Vergleich zu anderen europäischen Ländern oder den USA. einer der Wahrheit verpflichteten Wissenschaft und einer dem
Während etwa die ETH Zürich pro Jahr und Student einen Etat Profit nachjagenden Wirtschaft zu betonen. Vielleicht sollte man
von ungefähr 45 000 Euro zur Verfügung hat, sind es an einer lieber überlegen, wie Wissenschaftler als Wissenschaftler unter-
deutschen Vorzeige-Universität wie der TU München gerade nehmerisch handeln können?
einmal 14 000 Euro. David Audretsch ist ein Fan von allem, was mit Gründung
Wie ist der akademischen Welt zu helfen? und Innovation zusammenhängt. Dabei ist er, ähnlich wie 3
BRAND EINS 05/08 87
14. SCHWERPUNKT: BILDUNG _UNTERNEHMEN UNIVERSITÄT
Randolph Nesse, jemand, den man selbst als einen Wissenschafts- als Betreiber des populären Blogs „Marginal Revolution“. Jemand
Unternehmer bezeichnen könnte. Seit bald fünf Jahren baut er wie Richard Florida (der Vordenker der „Kreativen Klasse“, vgl.
als Direktor am Max-Planck-Institut für Ökonomik in Jena einen brand eins 05/2007) ist nicht als Wirtschaftsprofessor, sondern
Forschungszweig auf, den es in dieser Form in Deutschland bis- als Buchautor, der sich an ein breiteres Publikum wendet, zu
lang nicht gegeben hat: Entrepreneurship Studies. Audretsch Ruhm und Ehren gekommen. So wirkt Popularität in der Öffent-
erforscht, wie Innovation zustande kommt und welche die lichkeit am Ende zurück in die Fachwelt.
Mechanismen sind, mit denen Wissen aus der universitären For- „Man muss sich die Wissenschaft wie eine große Maschine
schung in die Wirtschaft ‚über- vorstellen“, sagt Audretsch. „Da
springt‘ (vgl. brand eins 08/2004). gibt es ein großes Rad im
Ob er schon einmal darüber Innern: Das ist die Idee der
nachgedacht hat, inwiefern wis- Wissenschaft um ihrer selbst
senschaftliche Tätigkeit selbst willen – das Basismodell der
als unternehmerisch begriffen westlichen Universitäten. Ring-
werden kann? förmig darum schließt sich ein
„Gerade vergangene Woche zweiter Kreis. Das ist die ange-
war ich bei einer Veranstaltung wandte Forschung: Wissen, das
an der Colorado State Univer- der Gesellschaft nützlich ist.“
sity“, fängt Audretsch an zu er- Wenn man sich einen historisch
zählen. „Dort haben die Leute gewachsenen Universitäts-Cam-
darüber geredet, dass das ‚Über- pus wie den der Stanford Univer-
springen‘ von Wissen aus der sity anschaut, kann man sehen,
Hochschulforschung in die Un- dass er diesem Prinzip nachemp-
ternehmen viel weniger wichtig funden ist: in der Mitte die tra-
sei, als wir alle bislang angenom- ditionellen Disziplinen, die der
men haben. Erfolgreiche Wissen- reinen Wissenschaft gewidmet
schaftler verhalten sich selbst sind, drum herum die neu er-
unternehmerisch in der Art und schaffenen Institute, die sich mit
Weise, wie sie auf neue Ideen angewandter Forschung befassen.
kommen, sich um die Finanzie- Um die Maschine der Wis-
rung ihrer Forschung kümmern, senschaft anzutreiben, sagt David
Mitarbeiter rekrutieren und ihre Audretsch, brauche man beide
Projekte innerhalb der Wissen- Räder. Und dazu möglichst noch
schaft vermarkten.“ David Audretsch ein drittes, das die Verbreitung
Audretsch hat auch eine Idee, beobachtet das Wissen beim Fließen und setzt auf von Wissen und Forschung zur
den Wettbewerb der hellsten Köpfe
wie es der Wissenschaft künftig Aufgabe hat: Inkubatoren und
gelingen kann, ihren Hang zur Forschungsparks, aber auch Insti-
Produktion von ‚immer mehr vom Gleichen‘ zu überwinden: tutionen wissenschaftlicher Politikberatung wie die Woodrow
durch Wettbewerb. „Wissenschaftler, die sich trauen, abseits der Wilson School oder die Hertie School of Governance in Berlin.
üblichen Pfade zu denken, haben heute die Chance, ein Star zu Die große Maschine Wissenschaft funktioniert jedoch nicht
werden“, sagt der Ökonom. Zum einen hätten der zunehmend überall gleich. Ausgerechnet in Deutschland haben die Kon-
globalisierte Markt für Forscher und die Internet-Kommunika- strukteure eine wichtige Funktion hinzugefügt: die Max-Planck-
tion dazu geführt, dass innovative Wissenschaftler einen viel grö- Gesellschaft (MPG). Sie betreibt Avantgarde-Forschung. Die
ßeren Einfluss haben als früher. Gleichzeitig erschlössen sich Wissenschaftler, die an den 78 Instituten der MPG arbeiten, sind
neben den herkömmlichen Pfaden der akademischen Karriere von den Verpflichtungen der akademischen Lehre entbunden
neue Wege, Berühmtheit zu erlangen. und dürfen sich allein der Forschung widmen. Für Großprojek-
Der junge Ökonom Tyler Cowen zum Beispiel hat nicht als te und technische Anlagen gibt es Mittel, von denen man an
Verfasser wissenschaftlicher Aufsätze Furore gemacht, sondern den Universitäten nur träumen kann. Das Wichtigste aber 3
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15. SCHWERPUNKT: BILDUNG _UNTERNEHMEN UNIVERSITÄT
ist, dass die MPG bei der Besetzung wissenschaftlicher Themen das betont homogene deutsche Universitätssystem ein spezieller
konkurrenzlos flexibel agieren kann. Die Ausrichtung und der Fall. Wo es wenig Möglichkeiten zur Differenzierung gibt, lassen
Charakter eines Instituts werden allein von den dazu berufenen sich wenig wahrnehmbare Effekte produzieren. „Wenn man oben
Direktoren bestimmt – Menschen, die wie David Audretsch Geld hineinwirft, macht es unten nicht einmal ein Geräusch“ –
Forschungsfelder bis ins Detail definieren. Verlässt ein Direktor so soll ein früherer Kanzler der TU München, Ludwig Kronthaler,
das Institut, wird seine Abteilung geschlossen. Ähnlich werden die Malaise deutscher Universitäten beschrieben haben.
auch ganze Institute dichtgemacht oder umgewidmet, sobald Für potenzielle Geldgeber ist das System nicht besonders
die von ihnen entwickelte For- attraktiv. „Niemand investiert
schungsrichtung den Mainstream gern in Universitäten, die einfach
erreicht hat. nur den Status quo aufrechter-
Nirgendwo sonst in Deutsch- halten wollen“, sagt David Au-
land gibt es, gerade für junge dretsch. „Aber wenn man mit
Forscher, solche Freiräume und seiner Forschung gesellschaft-
Möglichkeiten wie an den Max- liche Probleme wie Umwelt-
Planck-Instituten. Nirgends sonst schutz, Ernährung oder Migra-
wird so viel und langfristig in tion anspricht, kann man schon
neue Ansätze investiert, von de- leichter Förderer gewinnen.“
nen völlig unklar ist, ob sie sich Ähnlich denkt auch Stephan
jemals werden bewähren kön- Gutzeit, ein bedachtsam spre-
nen. Dies alles ist ein ungeheurer chender und seriös auftretender
Gewinn. Man könnte aber auch junger Mann, der vor einigen
sagen: Deutschland hat Inno- Jahren, fast noch als Student, in
vation und wissenschaftliches Berlin ein eigenes College ge-
Unternehmertum von den Uni- gründet hat: das European Col-
versitäten zu den Max-Planck- lege of Liberal Arts, ECLA. Er
Instituten verlagert. sagt: „Die Unis müssen deutlich
Die Forscher, die zu weitaus machen, wie sie für eingesetztes
schlechteren Bedingungen an Geld wirklich Veränderungen
den Universitäten arbeiten, sehen schaffen. Dann werden sie Leute
sich einer unfairen Konkurrenz dazu bringen, sich als Mäzene
ausgesetzt. „Immer wieder rekru- zu engagieren, die das bisher nie
tiert die Max-Planck-Gesellschaft getan haben.“ Junge Menschen
Spitzenleute aus gut organisierten Stiftet Universitäten zu Reformen an: aus aller Welt sollen am ECLA
und erfolgreichen Universitäts- Stephan Gutzeit in den Genuss eines Studiums
instituten, um ihre eigenen Po- kommen, wie Gutzeit selbst es
sitionen zu besetzen“, klagten in den USA erlebt hat: Lektüre
kürzlich einige Professoren in einem Beitrag in der »Frankfurter humanistischer Klassiker, intensive Diskussionen und gute Be-
Allgemeinen Zeitung«. Die Zweiteilung des deutschen Wissen- treuung – als Startkapital für eine spätere Karriere in Wirtschaft,
schaftssystems stellten sie infrage: Diejenigen „Max-Planck-Insti- Politik oder Wissenschaft. Mittlerweile wird das ECLA im Allein-
tute, deren Forschungsaktivitäten parallel zu jenen an Universi- gang von einer New Yorker Stiftung betrieben. Stephan Gutzeit
täten laufen oder laufen könnten“, so die Forderung, sollten „in arbeitet heute im Vorstand einer 2005 gegründeten und von der
unser Universitätssystem eingebunden werden“. Ob das eine gute Unternehmerin Johanna Quandt getragenen Stiftung, die am Ber-
Idee ist? liner Universitätsklinikum Charité angesiedelt ist.
Einerseits ist die Konzentration auf die reine Forschung, wie Die Stiftung, erklärt Gutzeit, versteht sich als gemeinnütziger
sie in Deutschland den Max-Planck-Instituten gewährt wird, inter- Risikokapitalgeber – „nicht nur für Unternehmungen, sondern
national eine Besonderheit. An amerikanischen Elite-Universitäten auch für gemeinnützige Ideen“. Gerade bereite man die Aus-
wird gelehrt und geforscht. Auf der anderen Seite ist aber auch lobung eines Charité-Preises für Veränderung vor, berichtet 3
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16. SCHWERPUNKT: BILDUNG _UNTERNEHMEN UNIVERSITÄT
er. „Was und wer damit gefördert werden soll, ist völlig flexibel: Finanzleute denken einfach anders als Wissenschaftler.“ Deshalb
Das können Projekte sein, die einen oder 100 000 Euro kosten.“ sei es so wichtig, Strukturen zu schaffen, in denen beide gezwun-
Eine Krankenschwester kann sich ebenso beteiligen wie ein Chef- gen seien, miteinander zu reden.
arzt. Projekte, die der Charité-Stiftung zusagen, erhalten die volle In Kiel ist dies geschehen. Aldenhoff leitet seine Einrichtung
Unterstützung, auch von der Familie Quandt. gleichberechtigt an der Seite eines kaufmännischen Geschäfts-
Auf ähnliche Weise engagiert sich die Stiftung bereits bei führers. „Wenn wir uns nicht einigen können“, sagt er, „müssen
einem Projekt, in dem es um die Verbesserung der Facharztaus- wir den Vorstand des Universitätsklinikums um eine Entschei-
bildung geht. Heute, sagt Ste- dung bitten.“ Das Modell der
phan Gutzeit, verlaufe die Aus- wissenschaftlich-kaufmännischen
bildung zum Facharzt für alle Doppelspitze in Forschung und
jungen Ärzte gleich, egal, ob sie An den Universitäten herrscht Lehre könnte durchaus Beispiel-
später einmal in die Forschung charakter haben. Schließlich klagt
Misstrauen gegenüber der Wirtschaft.
gehen, Chefarzt werden oder jeder deutsche Professor nach
eine Firma für Pharmaprodukte
In der Wirtschaft herrscht den ersten Jahren im Amt darü-
oder medizinische Dienstleistun- Unverständnis über die Motive ber, dass immer mehr von der
gen gründen wollen. Vor einiger der Wissenschaft. ohnehin knappen Zeit, die ihm
Zeit kamen mehrere junge Ärz- für eigene Forschungen bleibt, für
te, die sich überlegt hatten, wie Verwaltungsaufgaben draufgeht.
man die Ausbildungswege stär- Wenn es gelänge, diese Arbeiten
ker differenzieren könne, auf die Stiftung zu. „Wenn wir das an Forschungskoordinatoren und Manager abzugeben, wäre dies
hinkriegen, lösen wir ein richtiges Problem in der deutschen sicherlich ein Gewinn.
Universitätsmedizin“, sagt Gutzeit. Allerdings kommt es bei allem Bemühen um professionelles
Die Stiftung Charité macht vor, wie man Anreize für akade- Management darauf an, einen klaren Blick dafür zu bewahren,
mische Reformen von unten schaffen kann. Aber wie sieht es mit was das eigentliche Ziel des Unternehmens ist. In den USA
Veränderungen an der Spitze aus? In einem Unternehmen sind es haben in den vergangenen Jahrzehnten viele Universitäten, die
meistens die Generalisten, denen steile Karrieren gelingen. An der erst auf den Ausbau ihrer Football-Mannschaften und später, ab
Universität ist es umgekehrt. Dort stehen ganz oben in der Hie- den achtziger Jahren, auf die Vermarktung von Patenten gesetzt
rarchie Spezialisten, die von professionellem Management im haben, dabei mehr Geld verloren als gewonnen. Diesen Schluss
Zweifel recht wenig verstehen. Dies hat seinen Grund im fest zieht der US-Bildungsforscher Derek Bok in seinem Buch „Uni-
verwurzelten Misstrauen gegenüber der Wirtschaft. versities in the Marketplace“: „Von mehr als 200 Patentbüros
Schon im Jahr 1909, berichtet der Bildungswissenschaftler und an amerikanischen Universitäten hat im Jahr 2000 nur ein Bruch-
langjährige Präsident der Universität Harvard, Derek Bok, habe teil mehr als zehn Millionen Dollar erzielen können – und die
sich einer seiner ehemaligen Studenten besorgt darüber geäußert, große Mehrheit konnte überhaupt keine nennenswerten Summen
dass „die Leute, die heute in Harvard das Sagen haben, kaum einnehmen.“
mehr als Geschäftsleute sind, die ein großes Kaufhaus führen, das „Am Ende ist entscheidend, dass man Kaufleute hat, die das
Erziehungsdienstleistungen an ein Millionenpublikum verkauft“. Florieren der Universität und nicht das Bilden von Rücklagen als
Statt professionelle Manager anzuheuern, könnte man aber erste Priorität betreiben“, betont der Kieler Klinikchef und Pro-
auch Wissenschaftler selbst in Führungsaufgaben hineinwachsen fessor Josef Aldenhoff. Eine Überlegung, die auch der Wirtschaft
lassen. Josef Aldenhoff, Hochschulprofessor und Leiter der 2004 nicht schadete, wie Stephan Gutzeit ergänzt: „In der Medizin
privatisierten Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Kiel, führt der scharfe Wettbewerb zwischen den Pharma-Multis nicht
hat Erfahrungen mit beiden Modellen gesammelt. „Ich bin skep- von allein schon zu mehr Innovation, sondern zu immer mehr
tisch gegenüber Medizinern und anderen Wissenschaftlern, die Me-too-Produkten. Neue Medikamente kommen vielmehr von
Managementkurse belegen. Die werden nie besser werden als den Start-ups.“
ein guter Verwaltungsmann und stattdessen meinen, überall mit- Aus diesem Grund fördert die Charité-Stiftung nicht nur
reden zu können.“ Hochschulreformen, sondern ebenso Ausgründungen aus der
Allerdings, räumt Aldenhoff ein, sei die Annäherung beider Forschung – als Investition in Ideen. Unternehmertum muss eben
Seiten nicht immer einfach. „Die meisten guten Verwaltungs- und nicht heißen, nur noch in schnellen Renditen zu denken. -
92 BRAND EINS 05/08
17. EINSTIEG _NACHGEFRAGT
Was Menschen treibt brand eins: Lange haben wir uns das Lamento anhören müssen,
die Deutschen seien ideenlos, unbeweglich, innovationsfeindlich.
Neuerdings aber loben laut »Handelsblatt« Business-Monitor drei
„Ich kümmere mich Viertel der deutschen Manager die Rahmenbedingungen für Inno-
vationen im Lande als „sehr gut“ oder „gut“. Sind wir vielleicht gar
drum. In zwei Jahren.“ nicht so schlecht?
Andreas Frank: Die Rahmenbedingungen haben sich in der Tat
Interview: Harald Willenbrock gebessert. In den Unternehmen selbst aber sieht es anders aus.
Foto: Hartmut Nägele Offensichtlich verwechseln viele Manager Entscheidungs- mit
Innovationsfreude. Viele halten ihr Unternehmen für innovativer,
als es wirklich ist. Wenn man – wie wir es für unsere Untersu-
chung getan haben – mal nachbohrt, wie Ideen im Unternehmen
gefordert und gefördert werden, wissen viele keine Antwort mehr.
Es gibt eine gravierende Diskrepanz zwischen dem allgemeinen
Innovations-Anspruch auf der einen Seite und mangelhafter
Innovations-Verantwortung auf der anderen. Ernüchternd war die
Selbsteinschätzung von 104 Ansprechpartnern auf der Ebene Vor-
stand, Geschäftsleitung und Konzernentwicklung: Nicht einmal
ein Drittel von ihnen hielt sich selbst für zuständig.
Haben Sie dafür eine Erklärung?
Mit Innovation ist es wie mit der Altersvorsorge: Jedem ist klar,
dass das Thema immer wichtiger wird. Aber nur eine Minderheit
setzt sich damit gründlich auseinander. Unter 208 Top-Managern
großer Unternehmen, die wir zum Innovationsmanagement
befragt haben, fanden sich nur 14 sehr engagierte, enthusiastische
Innovationsförderer. Bei der großen Mehrzahl aber konnte von
einem systematischen Innovations-Management keine Rede sein.
Innovation? Super Sache.
Brauchen wir. Denken wir. Wozu brauchen Unternehmen überhaupt Innovationsmanager?
Und kehren gleich wieder zur Tagesordnung zurück. Sollte sich nicht jeder Mitarbeiter in seinem Bereich für Neuerungen
und Verbesserungen zuständig fühlen?
Eine Umfrage in großen deutschen Unternehmen Natürlich, denn erfahrungsgemäß stecken Mitarbeiter voller guter
offenbart: Über Innovation reden viele gern. Ideen. Nur gefragt sind die eben nicht. Um dieses Potenzial zu
Eigentlich alle. erschließen, braucht es erst einmal auf oberster Ebene ein Be-
kenntnis: „Liebe Mitarbeiter, wir wollen, dass ihr neue Ideen ent-
Zu einer echten Chance aber verhelfen ihr nur wenige, wickelt. Wir schaffen euch Platz, Luft und Ressourcen fürs Quer-
hat der Berater Andreas Frank herausgefunden. denken. Wir leben das vor. Und wir setzen hier und heute einen
Verantwortlichen ein, der sich systematisch darum kümmert.“
Innovationsverantwortlichen könnnte es leicht genauso ergehen wie
Gleichstellungsbeauftragten: Man ernennt jemanden und erklärt
damit das Thema für erledigt.
Da gibt es tatsächlich Parallelen. Mir haben Innovationsmanager
berichtet, dass ihre Aufgabe zum Teil eine Art Deckmäntelchen-
funktion habe. Deshalb ist es ja so wichtig, dass die Innovations-
verantwortlichkeit möglichst hoch in der Hierarchie angesiedelt
wird. Bei vielen Mittelständlern kümmert sich der Inhaber noch
selbst um Neuerungen. Deshalb leiden Firmen dieser Größe häu-
fig auch weniger am Mangel an Ideen, sondern vielmehr an 3
14 BRAND EINS 06/08
18. EINSTIEG _NACHGEFRAGT
Kapital, um Neuerungen umzusetzen. In größeren Unternehmen laufen lassen, sondern sie mir, zusammen mit allen anderen Vor-
kann man sich eher hinter Strukturen verstecken. Verantwortlich- stands- und Geschäftsleitungskollegen, regelmäßig persönlich prä-
keiten sind häufig unklar. Zuständig sind immer die anderen, im sentieren lassen. Ich würde mich außerdem dazu verpflichten, in
Zweifel die Geschäftsführung. Und der mangelt es an Zeit. genau definierter, kurzer Zeit über die Umsetzung von Ideen zu
entscheiden. Mit anderen Worten: Ich würde Innovation, diesen
Wie bitte? Es fehlt an Zeit für gute Ideen? häufig missbrauchten Begriff, zu meiner ganz persönlichen Sache
43 Prozent aller Geschäftsführer haben die Verantwortung für machen.
Innovationen schlicht wegdelegiert, ans Marketing etwa oder an
die Personalabteilung. Fast ein Viertel erklärte ausdrücklich, vor Möglicherweise lohnt sich solch ein Aufwand ja gar nicht: Forscher
lauter Arbeit keine Zeit für Innovationen zu haben. Von der Assis- der European Business School haben kürzlich die Innovationskraft
tentin eines IHK-Hauptgeschäftsführers beispielsweise hieß es: von 295 Unternehmen mit ihrer wirtschaftlichen Performance ver-
„Herr Soundso bittet mich, Ihnen auszurichten, dass er für Inno- glichen und herausgefunden: Es lagen nicht diejenigen vorn, die
vationen verantwortlich sei, er aber in den nächsten zwei Jahren selbst mit Innovationen den Markt gestalteten, sondern jene, die
keine Zeit habe, sich um Innovationen zu kümmern.“ Schlimmer sich Marktveränderungen erfolgreich angepasst hatten.
als solches Abblocken ist die (falsche) Selbsteinschätzung, die Natürlich kann man auch als Nachahmer Geld verdienen. Damit
dahintersteckt: Wir sind ohnehin schon innovativ genug. gibt man aber bald die Zügel aus der Hand. Irgendwann kann
man mangels Differenzierung nur noch an der Preisschraube dre-
„Alte Messlatten taugen halt nicht für Neuerungen“, schreiben Sie hen, und das gelingt deutschen Unternehmen verdammt schwer.
in Ihrer Studie. Wie installiert man neue? Dem Kostensparen als Konzept sind Grenzen gesetzt. Innovation
Indem man zunächst einmal systematisch jene Hürden identifi- aber eröffnet im Prinzip unendliche Potenziale.
ziert, an denen neue Ideen scheitern. In jedem Unternehmen gibt
es Bedenkenträger, die immer wissen, warum etwas nicht funk- Sie stellen selbst in Ihrer Studie fest: Das Wort Innovation ist ver-
tionieren wird und wie man es schon immer anders und besser braucht; man möchte es am liebsten für eine Weile nicht mehr
gemacht hat. Diese Leute muss man integrieren und von Verhin- hören. brand eins gibt Ihnen jetzt und hier die Chance, wirklich
derern in Förderer verwandeln. Einer der wenigen innovations- innovativ zu sein und einen frischen, unverbrauchten Begriff in die
begeisterten Marketingdirektoren, mit denen wir sprachen, hat uns Welt zu setzen. Wissen Sie einen?
gesagt: „Es gibt immer tausend Gründe dagegen und manchmal Darüber habe ich lange und vergeblich nachgedacht. Ich fürchte,
nur einen einzigen dafür. Da muss man sich schon was trauen. es gibt vorläufig keinen besseren. Innovation ist ein ausgelutsch-
Und die Frage, die sich wohl viele stellen, lautet: Warum denn, tes Wort. Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als den Begriff
wenn’s auch so läuft?“ Begeisterungsfähigkeit gilt nun mal nicht immer wieder neu mit Leben zu füllen. -
als Management-Tugend. Außerdem wird in vielen Unternehmen
der Begriff „Innovation“ als schönfärberische Umschreibung für
zeitraubende oder gar schmerzhafte Reorganisationsprozesse ver-
standen. Kein Wunder, dass so etwas keine Begeisterung weckt.
Woran erkennt man ein innovationsfreundliches Unternehmen?
Innovationsfreude zeigt sich daran, ob Manager in der Firma sind,
die Ideen fördern und fordern. Ob Mitarbeiter sich mit neuen
Ideen profilieren und Karriere machen können – oder ob sie als
Störer des Betriebsfriedens angesehen werden. Ein ziemlich ver-
räterisches Indiz können Personalbewertungsbögen sein: Nur in
wenigen wird abgefragt, mit welchen und wie vielen Ideen ein Als Strategie-Planer und Markenberater hat Andreas Frank immer wieder
Mitarbeiter zum Unternehmenserfolg beigetragen hat. erlebt, wie gute, neue und Erfolg versprechende Ideen in Unternehmen sang-
und klanglos untergingen. Mit seiner Untersuchung „Deutschland – ein Land
Angenommen, Sie wären selbst Vorstandsvorsitzender und wollten der Innovatoren?“ ist der 46-Jährige aus Erkrath bei Düsseldorf den Ursachen
Ihr Unternehmen mit frischen Ideen auf Trab bringen. Was wären der Innovationsmüdigkeit, den Motiven und Einstellungen im Management
Ihre ersten, wichtigsten Maßnahmen? auf den Grund gegangen. Die Studie basiert auf Interviews mit 208 Innova-
Ich würde ein Team von Innovations-Förderern schaffen und bei tions-Verantwortlichen (und solchen, die es sein sollten) in deutschen Unter-
mir und meinen Vorstandskollegen anfangen. Ich würde Ideen der nehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern. Unter www.frankundlange.de ist eine
Mitarbeiter nicht mehr durch den Filter des Mittelmanagements Zusammenfassung ab Juli kostenlos zu beziehen.
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