1. Stefan
Rosinski,
August
2013
Als Communisant im Widerstand
Zu Walter Benjamins Reflexionen über den antifaschistischen Intellektuellen
- Vortrag gehalten im Rahmen der MÜNZENBERG-LEKTIONEN 2013 -
„Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung
die Stunde noch nicht gekommen ist.“
Die Situation
Im März 1933, kurz nach dem Reichstagsbrand verlässt der Literaturwissenschaftler
und freischaffende Publizist Walter Benjamin wie viele andere Intellektuelle Berlin,
um nach einem Zwischenaufenthalt in Paris nach Ibiza überzusiedeln. An seinen
Freund Gershom Scholem schreibt er:
„Unbezweifelt sind die zahlreichen Fälle, in denen Leute nachts aus ihren Betten geholt und misshandelt oder ermordet werden. (...) Der Terror gegen jede Haltung oder
Ausdrucksweise, die sich der offiziellen nicht restlos angleicht, hat ein kaum zu überbietendes Maß angenommen“.1
Auf Ibiza lebt er in einem Rohbau, finanziert sein bescheidenes Leben vom Verkauf
seiner Autographensammlung und gelegentlichen Veröffentlichungen unter Pseudonym in deutschen Zeitungen. Die Versuche hingegen, größere Texte in der deutschen Exilpresse unterzubringen, scheitern. Mehr Hoffnung setzt er in die kommunistischen Publikationsorgane. Doch lediglich der erste Teil der Pariser Briefe wird
dank der Unterstützung Brechts in der Moskauer Volksfront-Zeitschrift Das Wort veröffentlicht (ein Umstand übrigens, der zu seiner sofortigen Ausbürgerung führt).
Regelmäßig publizieren indes kann er in der Zeitschrift für Sozialforschung, deren
Redaktion (im Wesentlichen Max Horkheimer und Adorno) seit 1934 in New York
sitzt. Hier erscheint ein 1933 verfasster Text, der im Zusammenhang mit Benjamins
Selbstreflexion von einiger Bedeutung ist: Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen
Standpunkt des französischen Schriftstellers.
1
Bernd
Witte:
Walter
Benjamin.
Reinbek:
Rowohlt
1985,
S.
101.
Vgl.
auch
die
von
Jean
Selz
überlieferte
Formulierung
Benjamins,
„...wenn
man
sich
jetzt
mit
einem
Deutschen
über
Kultur
unterhalte,
sei
es
gut,
dabei
einen
Revolver
in
der
Tasche
zu
haben“.
In:
„was
noch
begraben
lag“.
Zu
Walter
Benjamins
Exil.
Briefe
und
Dokumente.
Hg.
v.
Geret
Luhr.
Berlin:
Bostelmann
und
Siebenhaar
2000.
S.
69.
1
2. Stefan
Rosinski,
August
2013
Da Benjamin vom Institut zwar eine monatliche, allerdings sehr kleine Rente bezieht,
sieht er sich gezwungen, sein Leben an der unteren Grenze des Existenzminimums
zu improvisieren. So lebt er über Monate hinweg und mit einigem Unwillen in der von
seiner geschiedenen Frau geleiteten Pension im italienischen San Remo.
Die Erfahrungen des Exils, von Verarmung und Isolation schlagen sich nieder in einem Brief an Scholem, in der die durch den Kapitalismus erzeugte und den Faschismus nun verschärft zutage tretende Situation des Intellektuellen beschrieben
wird. Deutlich würde, so Benjamin, dass der Intellektuelle weder - wie er es im Zeitalter einer ungefährdeten Herrschaft der Bourgeoisie tat - deren menschlichste Interessen vertrete noch sich völlig dem Proletariat assimilieren könne: „Daher bildete
sich die Fata Morgana eines neuen Emanzipiertseins, einer Freiheit zwischen den
Klassen, will sagen, der des Lumpenproletariats. Der Intellektuelle nimmt die Mimikry der proletarischen Existenz an, ohne darum im mindesten der Arbeiterklasse verbunden zu sein.“ Dazu schreibt Benjamins Biograph Bernd Witte: „Dieser Befund, in dem Benjamin die eigene gesellschaftliche Situation auf den Begriff bringt, ist
für ihn das sprechende Merkmal einer weltgeschichtlichen Krisensituation, in der
über Rettung oder Untergang der Menschheit entschieden wird. In ihr muss auch
dem Künstler und der Kunst eine neue Funktion zukommen“.2
Ob Benjamin von einer bevorstehenden proletarischen Revolution ausgegangen ist,
wird heute in der Kommentarliteratur unterschiedlich bewertet.3 Mit Brecht war er
sich einig, im Kommunismus das alleinige Mittel zur Überwindung von Unterdrückung
zu sehen4 - ja, die, wie es im Surrealismus-Essay heißt, „Befreiung in jeder Hinsicht“.5 Doch stellte für beide der ab 1930 erstarkende Faschismus den erwarteten
geschichtlichen „Selbstlauf“ im Sinne des historischen Materialismus zusehends infrage. Mit der Befürchtung, der Faschismus könne siegen und Fortschritt würde zur
Katastrophe, sahen sie sich im Widerspruch zum Zukunftsoptimismus der kommunistischen Bewegung. So äußerte sich Brecht im Gespräch mit Benjamin, er halte das
2
Witte,
Benjamin,
S.
107f.
3
Cf.
Müller-‐Schöll,
Nikolaus:
Das
Theater
des
„konstruktiven
Defaitismus“.
Frankfurt
am
Main:
Stroemfeld
2002,
S.
29
und
Wizisla,
Erdmut:
Benjamin
und
Brecht.
Die
Geschichte
einer
Freundschaft.
Frankfurt
am
Main:
Suhrkamp
2004,
S.
143
und
268.
4
Brecht
schreibt
1928,
Marx
sei
der
„einzige
Zuschauer
für
meine
Stücke,
den
ich
je
ge-‐
sehen
hatte.“
Cf.
Wizisla,
Benjamin,
S.
15.
5
GS
II
1,
S.
307.
2
3. Stefan
Rosinski,
August
2013
Eintreten einer „geschichtslosen Epoche“ für wahrscheinlicher als den Sieg über den
Faschismus.6 Für Brecht ergaben sich freilich aus diesem Befund andere Konsequenzen für die Rolle des Intellektuellen als für Benjamin. Während der Dramatiker
die Führungsfunktion einforderte (und damit seine - wie er sagte - „leninistische
Wende“ einleitete), hielt der Philologe entgegen, dass der Autor als einzelner ein
„Missvergnügter, kein Führer“ sei.7
In diesem Kontext insistiert Benjamin darauf, „ (...) durch die praktikablen Erkenntnisse desselben (des Kommunismus - SR) die unfruchtbare Prätension auf Menschheitslösungen abzustellen, ja überhaupt die unbescheidene Perspektive auf „totale“
Systeme aufzugeben (...)“.8 Nicht die Ersetzung einer gesellschaftlichen Epoche
durch die nächste à la Hegel präge die revolutionäre Aktion; vielmehr gelte es, das
„Kontinuum der Weltgeschichte aufzusprengen“.
Sprengung und Zertrümmerung sind Kategorien, die in den Texten Brechts und Benjamins häufig auftauchen. Erdmut Wizisla schreibt dazu in seinem Buch über die
Freundschaft der beiden Autoren: „Der Verlust an Fortschrittsgläubigkeit, Kontinuität
und Geschlossenheit hatte methodische Konsequenzen. Hier liegen die geschichtsphilosophischen Wurzeln für die Wertschätzung von Kategorien, die für die künstlerische Avantgarde wesentlich sind, wie Unterbrechung, ‚Trennung der Elemente’,
Chok, Zitat, Detail, Fragment, Montage, Experiment“.9
Die Erwartungshaltung an eine kommende Gemeinschaft speist sich weniger aus
dem Reflex auf die offizielle Lesart der Kommunistischen Internationalen, wie und
wann die Revolution zu erwarten sei, als aus einer „philologischen materialistischen
Forschung“ an surrealistischen und anderen literarischen Texten.10
6
Ebd.,
S.
268.
Demgegenüber
fokussierte
die
ab
Herbst
1930
begonnene
Diskussion
über
eine
gemeinsame
Zeitschrift
namens
Krise
und
Kritik
-‐
deren
„Gesinnung
scharf
nach
links“
gehen
sollte
-‐
als
Aufgabe,
die
„Krise
festzustellen
oder
herbeizuführen,
und
zwar
mit
den
Mitteln
der
Kritik“,
cf.
S.
130.
7
Ebd.
,
S.
141.
8
Ebd.,
S.
272.
9
Ebd.,
S.
269f.
10
Cf.
den
in
Folge
der
Ablehnung
des
Baudelaire-‐Essays
begonnenen
Briefwechsel
mit
Adorno,
in
dem
Benjamin
sein
Konzept
einer
„materialistischen
Philologie“
zu
erörtern
versucht:
„Wenn
Sie
von
einer
‚staunenden
Darstellung
der
Faktizität’
sprechen,
so
charak-
terisieren
Sie
die
echt
philologische
Haltung“,
GS
I.3,
S.
1103.
3
4. Stefan
Rosinski,
August
2013
Der von Benjamin im Zusammenhang seiner Bestimmung des Intellektuellen gewählte Begriff der „Mimikry“ ist abgeleitet von englisch mimicry (= ‚Nachahmung’) und to
mimic: ‚mimen’; entlehnt aus griech. µίµος (mímos) ‚Nachahmer, Imitator‘. Er wird mit
Bedacht gewählt und seine Referenz aufs Theater soll - wie wir sehen werden - nicht
zufällig sein. Dass der Nachahmende im Nachgeahmten sich nur mittelbar fassen
lässt, verkompliziert den ontologischen Status und entwendet ihn - ähnlich wie übrigens das „Proletariat“ beim frühen Marx - der Substantiierung durch einen vulgärmaterialistischen11 Zugriffs: Das „Lumpenproletariat“ bietet weder seine Arbeitskraft als
Ware an noch handelt es im strengen Sinn mit Waren; es hat daher keine direkte
Beziehung zum Kapital. Seine funktionale Stellung in den Produktionsverhältnissen
(als Bedingung der Klassenbildung) ist folglich nur schwer auszumachen. Es fragt
sich daher, wie sich die „Ideologie“ dieser Nichtklasse als (Dys-)Funktion in Bezug
auf die Reproduktion der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bestimmen ließe.12
Die Mimikry des Intellektuellen an die proletarische Existenz jedenfalls - so viel ist
festzuhalten - isoliert nach zwei Seiten. 1930 schreibt Benjamin:
Die linksradikale Schule „(...) mag sich gebärden wie sie will, sie kann niemals die
Tatsache aus der Welt schaffen, dass selbst die Proletarisierung des Intellektuellen
fast nie einen Proletarier schafft. Warum? Weil ihm die Bürgerklasse in Gestalt der
Bildung von Kindheit auf ein Produktionsmittel mitgab, das ihn aufgrund des Bildungsprivilegs mit ihr und, das vielleicht noch mehr, sie mit ihm solidarisch macht.
Diese Solidarität kann sich im Vordergrund verwischen, ja zersetzen; fast immer aber
11
„Unter
‚Vulgärmaterialismus’
würden
wir
demnach
die
‚Erklärung’
eines
kulturellen
Phänomens
mittels
einer
direkten,
zweistelligen
Abbildungsrelation
verstehen,
die
das
kulturelle
Phänomen
mit
einem
ökonomischen
Phänomen
verbindet“,
Jürgen
Link
/
Ur-‐
sula
Link-‐Heer:
Literatur-soziologisches
Propädeutikum.
München:
Wilhelm
Fink
1980,
S.
21.
Link
/
Link-‐Heer
machen
geltend,
dass
vulgärmaterialistisch
vor
allem
die
Annahme
der
‚Monokausalität’
des
‚Widerspiegelungs-‐Theorems’
sei.
Letzteres
gründe
auf
einem
Text
Lenins,
‚Leo
Tolstoi
als
Spiegel
der
russischen
Revolution’,
habe
aber
erst
durch
Lu-‐
kács
seinen
mechanistischen,
weil
hegelianischen
Charakter
bekommen.
Dem
gegenüber
stehe
das
„klassenanalytische
Verfahren“
als
„Aufweis
des
funktionalen
Zusammenhangs
zwischen
kulturellem
Phänomen
und
sozialem
Träger“.
12
Cf.
Walter
Benjamin:
Charles
Baudelaire.
Ein
Lyriker
im
Zeitalter
des
Hochkapitalismus.
GS
I.2,
S.
514:
Der
„conspirateur
de
profession“
als
Künstler
und
der
Künstler
als
Ver-‐
schwörer,
den
„überraschende
Proklamation
und
Geheimniskrämerei,
sprunghafte
Ausfäl-
le
und
undurchdringliche
(!)
Ironie“
kennzeichneten.
Auch
hier
ist
eine
Form
der
Maskie-‐
rung
angedeutet.
4
5. Stefan
Rosinski,
August
2013
bleibt sie stark genug, den Intellektuellen von der ständigen Alarmbereitschaft, der
Frontexistenz des wahren Proletariers streng auszuschließen“.13
Es ist dieser Sachverhalt einer klassenmäßigen „Entortung“, einer „verwischten Solidarität“, also eines klassenmäßig konstitutiven Mangels des revolutionären Schriftstellers, mit dem Benjamin in seiner Kritik ansetzt - und die diametral dem entgegensteht, wovon Johannes R. Becher in einem Grundsatzartikel zum Thema „Partei und
Intellektuelle“ 1928 gesprochen hatte: Um revolutionäre Literatur zu schreiben, könne
sich der Intellektuelle durch „alltägliche politische Kleinarbeit und Unterwerfung unter
die Parteidisziplin“ - offenbar umstandslos - zum Proletarier wandeln.
Was „revolutionäre Literatur“ angesichts der Entortung des Autors als Lumpenproletariat und der faschistischen Zuspitzung Anfang der dreißiger Jahre ist oder sein
könnte, ja, ob nicht ein jeder Versuch der intellektuellen Bestimmung des Revolutionären dieses konstitutiv verfehlen muss, darüber hat Walter Benjamin zeit sein Leben im weiten Bogen vom barocken Trauerspiel bis zu Brechts epischen Theater,
von den Texten Baudelaires bis zu denen Franz Kafkas nachgedacht. Hier soll sich
indes mit einem Ausschnitt daraus, einem Textes von 1934, begnügt werden.
Der Autor als Produzent
Walter Benjamins Text „Der Autor als Produzent“ erschien postum im Jahr 1966 mit
dem Untertitel „Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am
27.4.1934“. Heute geht man von einem tatsächlich gehaltenen Vortrag aus, wahrscheinlich vor dem Publikum der Mitarbeiter des Instituts, das eine Gründung der
Schriftsteller und aktiven Kommunisten Oto Biha und Arthur Koestler (dem Freund
und späteren „Co-Renegaten“ Willi Münzenbergs) war. Koestler berichtet über das
Institut in seiner Autobiographie: „Ich fungierte ein Jahr hindurch als unbezahlter Geschäftsführer des Pariser ‚Instituts zum Studium des Faschismus’. Das war ein Archiv und Forschungsinstitut, das von Angehörigen der KP betrieben und von der
Komintern kontrolliert, aber nicht finanziert wurde. Zweck und Ziel dieser Einrichtung
war,
ein
von
den
massenpropagandistischen
Methoden
der
Münzenberg-
Unternehmen unabhängiges Institut für das ernsthafte Studium des faschistischen
13
Benjamin,
vgl.
auch
GS
II,
2,
S.
700.
5
6. Stefan
Rosinski,
August
2013
Regimes zu schaffen. Wir wurden durch Spenden der französischen Gewerkschaften
und aus französischen Intellektuellen- und Akademikerkreisen unterhalten“.
Etwas anders klingt es in der Benjamin-Biographie Werner Fulds (1979): „Das Institut
war eine kommunistische Tarnorganisation, von Mitgliedern der KP betrieben und
von der Komintern kontrolliert (...) Es wurde sorgsam alles vermieden, was auf den
kommunistischen Charakter des Unternehmens hätte schließen lassen. Umfängliche
Publikationsserien waren geplant, die kaum verwirklicht wurden, und es ist möglich,
dass man sich gerade linksbürgerliche Schriftsteller wie Benjamin als Alibiautoren
heranzuziehen wünschte“.14
Benjamin hatte ursprünglich beabsichtigt, den Text in der von Klaus Mann herausgegebenen Exilzeitschrift Die Sammlung im Amsterdamer Querido-Verlag herauszugeben. Hier publizierten von September 1933 an - in insgesamt 24 Ausgaben bis
August 1935 - Autoren wie Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Bert Brecht, André Gide, Ilja Ehrenburg, Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Joseph Roth und natürlich die
Familie Mann. Die redaktionelle Schwierigkeit bestand in der Vorgabe, ein Forum der
Faschismuskritik sein zu sollen, allerdings ohne Rekurs auf tagespolitisches Geschehen. „Gesammelt“ werden sollte hier dasjenige - so verstand es Klaus Mann „was den Willen zur menschenwürdigen Zukunft hat, statt den Willen zur Katastrophe: (...) für dieses wirkliche Deutschland wollen wir eine Stätte der Sammlung
sein“.15
Vor dem Hintergrund der von Benjamin vertretenden Haltung ist - wie wir sehen werden - die immer wieder geäußerte Irritation der Beiträger darüber, ob es sich hier um
eine „literarische“ oder „politische“ Zeitschrift handelte, nicht ohne Bedeutung.
Die interne Auseinandersetzung über die Publikationspolitik der Sammlung wirft ein
bezeichnendes Licht auf den disparaten intellektuellen Diskurs im Exil der dreißiger
Jahre. So war es einer der bekanntesten Exilanten, Heinrich Mann, der seinem Neffen von einer Veröffentlichung des Benjaminschen Textes abriet. Er regierte damit
auf den von Benjamin selbst formulierten Ansatz, sein Text beschäftige sich angesichts des Faschismus „mit der politischen Analyse gewisser literarischer Gruppierungen, wie sie sich in Deutschland zwischen 1920 und 1930 haben studieren las14
Werner
Fuld:
Walter
Benjamin.
Zwischen
den
Stühlen.
Eine
Biographie.
München:
Han-‐
ser
1979,
S.241f.
15
In:
Wikipedia:
Artikel
„Die
Sammlung“.
6
7. Stefan
Rosinski,
August
2013
sen. Er sucht insbesondere das Maß an Verantwortung zu bestimmen, die diese
Schulen an der Niederlage der deutschen Intelligenz tragen.“ Und hier richtete Benjamin den Fokus vor allem auf die „linksbürgerliche Intelligenz“. Heinrich Mann unterstellte Benjamin - einem „kommunistischen Literaten“ - Führer- und Staatsgläubigkeit
sowie eine „Geistesart wie die Nazi(s)“. Und schloss mit der Warnung, die „emigrierte
Literatur“ dürfe nicht so aussehen, als bestände sie ganz aus den Resten oder Vorläufern einer Partei. Benjamin kannte dieses (Fehl-)Urteil und bestand umso mehr
auf der Auseinandersetzung zwischen den im Exil befindlichen Intellektuellen: Sie sei
„eine Frage, die infolge der Niederlage der deutschen Intellektuellen akuter als sie es
je war geworden ist“.
Mit seinen expliziten Angriffen gegen die „linksbürgerliche Intelligenz“ und ihre Literatur vereinsamte der Intellektuelle Benjamin zusehends. Die Bemühungen um eine
Einheitsfront der exilierten Intellektuellen, wie sie Willi Münzenberg ab 1935 in Umsetzung der inzwischen veränderten Strategie der Komintern unternahm, verschärften die Situation. Sowohl zum Lutetia-Kreis (Vorsitz: Heinrich Mann) als auch zur
1938 von Münzenberg und Koestler gegründeten Zeitschrift Die Zukunft (deren
Zweck neben Antifaschismus und Antistalinismus die Propagierung der Einheitsfront
war) wurden Autoren zur Mitarbeit aufgefordert, an denen sich Benjamin kritisch abgearbeitet hatte: Heinrich Mann, Alfred Döblin und andere Großschriftsteller16 der
deutschen Sprache. Benjamin hingegen blieb isoliert.17
16
Benjamin
notiert
im
Sommer
1934,
dass
Brecht
gesprächsweise
zwei
„Dichter-‐Typen“
unterschieden
habe:
die
„Substanzdichter“
als
„Visionäre“,
die
„es
ganz
ernst
meinen“
und
„die
es
wirklich
zu
etwas
bringen“
wie
Gerhard
Hauptmann,
und
die
„Besonnenen“,
die
es
nicht
ganz
ernst
meinten.
Brecht
selbst
habe
sich
letzteren
zugeordnet,
denn
auch
er
denke
„zu
viel
an
Artistisches“.
Das
aber
-‐
so
der
Dramatiker
-‐
sei
ausdrücklich
er-‐
laubt“.
17
In
seinem
1933
verfassten
Bericht
zur
Situation
der
in
der
KPD
organisierten
Exil-‐
schriftsteller
wirbt
Johannes
R.
Becher
bereits
für
die
„Einheitsfrontbildung“.
Er
macht
in
diesem
Zusammenhang
auf
die
eminente
Bedeutung
einer
Anwerbung
von
Mitglie-‐
dern
aufmerksam,
die
„als
Schriftsteller
(...)
Autorität“
besitzen.
Der
Schulterschluss
mit
linksbürgerlichen
Autoren
mochte
taktische
Gründe
nach
außen
haben;
nach
innen
führ-‐
te
er
zu
einer
intellektuellen
Konsolidierung,
die
für
Benjamin
nichts
anderes
als
Verrat
an
der
Sache
darstellen
musste.
In:
Heinz
Ludwig
Arnold:
Deutsche
Literatur
im
Exil
1933-1945.
Band
I:
Dokumente.
Frankfurt
am
Main:
Athenäum
1974,
S.
31.
7
8. Stefan
Rosinski,
August
2013
Der Bund proletarisch-revolutionäre Schriftsteller
Isoliert bliebt Benjamin auch gegenüber der wahrscheinlich einflussreichsten Organisation linksintellektueller Autoren, dem „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“. Der Literaturwissenschaftler und Exilforscher Dieter Schiller hat dessen Arbeit im Pariser Exil dargestellt18. Er schreibt:
„Im Juli des Jahres 1933 fuhr Johannes R. Becher, der Vorsitzende des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands (BPRS), im Auftrag
der Leitung der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller (IVRS)
aus Moskau in die westlichen Emigrationszentren. Was dort – und natürlich
auch im Reich – nach dem Schock der Niederlage vom Bund übriggeblieben
und wie die Bundesarbeit tatsächlich weitergeführt worden war, davon hatte er
noch keine genaue Vorstellung.19 (...) Mit Recht hatte Becher in Paris festgestellt, dass viele Genossen in den vergangenen Monaten mit der Herstellung
des »Braunbuchs« beschäftigt waren und deshalb für die Bundesarbeit ausfielen.20 Aber auch später waren seine engsten und in der Bundesarbeit erfahrendsten Freunde mit anderen Aufgaben betraut wie z.B. Otto Biha, der im
Exil als Peter Merin auftrat, beim Aufbau des Instituts zum Studium des Faschismus in Paris. Überhaupt stellte es sich für ihn, aber auch für Anna Seghers und Kurt Kläber je länger je mehr als ein Problem für den Bund heraus,
dass fast alle fähigen Genossen – wie Kläber21 sarkastisch sagte – »bei Münzenberg in Amt und Brot« waren, in dessen Verlagsunternehmen und Komitees angestrengt und nützlich arbeiteten, aber eben deshalb auch deren Interessen verfolgten. Zu alledem glaubte Becher feststellen zu müssen, dass sich
»politische Bauchschmerzen in die literarische Diskussion« hineinschöben
und dass sich hier hemmungslos austobe, was in der Arbeit der Parteiinstitutionen nicht ausgesprochen werden könne oder – wenn ausgesprochen – zum
Parteiausschluss führe.
18
Dieter
Schiller:
Zur
Arbeit
des
Bundes
proletarisch-‐
revolutionärer
Schriftsteller
im
Pariser
Exil.
In:
UTOPIE
kreativ,
H.
102
(April)
1999,
S.
57-‐63.
19
Becher
schätzt
die
Zahl
der
Mitglieder
des
Bundes
in
Paris
auf
„ca.
30
Genossen“.
20
Becher
moniert
dazu
in
seinem
Bericht:
„Die
theoretische
Unklarheit
kommt
ebenfalls
in
dem
Kulturteil
des
Braunbuchs
zum
Ausdruck,
wo
ziemlich
unterschiedlos
(sic!)
alle
verbrannten
und
verbannten
Schriftsteller
behandelt
werden“,
Arnold,
Exil,
S.
36.
21
Kläber
brach
1938
mit
der
KPD.
8
9. Stefan
Rosinski,
August
2013
Worum es sich bei solchen Ketzereien handelte, verrät Bechers Bericht über
seinen Pariser Aufenthalt. Die »Emigrationspanik« – heißt es darin – habe
sich »in der Form trotzkistischer Fragestellung« sublimiert, was wohl heißen
soll, dass über den Anteil der KPD an der Niederlage diskutiert wurde und
dass überhaupt von einer Niederlage die Rede war. Solche Abweichungen
von der offiziellen Parteilinie der KPD nicht verhindert zu haben, war ihm Beweis, dass die Leitung der Parteifraktion »außerordentlich schwach« sei.22 (...)
Fraktionsleitung hieß sie, weil sie zugleich die Leitung der Parteifraktion der
KPD im Schutzverband deutscher Schriftsteller im Ausland23 bildete. (...)
Noch zu Jahresbeginn 1934 forderte Becher von seinen Freunden im Westen
angesichts der »starken oppositionellen Strömungen in unseren Reihen«, die
»alleinige Schuld der Sozialfaschisten (d.h. der Sozialdemokratie - D. S.) am
Kommen des Faschismus« zu betonen und – ein groteskes Argument – den
Kampf gegen den Sozialfaschismus nicht den Nationalsozialisten zu überlassen. (...)
Ganz umsonst waren die Beratungen Bechers mit den Pariser Freunden nicht,
im Herbst setzte unverkennbar eine Belebung der Bundesarbeit ein und der
Briefwechsel zwischen Paris und Moskau verdichtete sich zusehends. Gustav
Regler berichtete Anfang Dezember, der Bund arbeite wieder voll, und verwies
auf gelungene Kritikabende, Arbeitsgemeinschaften, Schulungszirkel und öffentliche Veranstaltungen. In vielen Informationen und Berichten aus dem
Kreis der Pariser Bundesmitglieder wird dieser Teil der Bundesarbeit ausführlich erläutert, mit unverhohlenem und berechtigtem Stolz über das Geleistete.
Nicht so zufrieden zeigten sich die ehemals zentralen Funktionäre des Bun22
Mit
„Parteifraktion“
war
hier
die
Pariser
Gruppe
des
BPRS
unter
Leitung
von
Anna
Seghers
gemeint.
23
Wikipedia:
„Der
Schutzverband
deutscher
Schriftsteller
(SDS)
wurde
1909
gegründet
und
sollte
Rechtsschutz
gegen
staatliche
Eingriffe
in
das
Literaturschaffen
gewähren.
Der
SDS
wurde
nach
der
Machtübernahme
der
NSDAP
am
31.
Juli
1933
in
den
Reichs-
verband
deutscher
Schriftsteller
überführt.
In
Paris
gründeten
Schriftsteller,
die
aus
Deutschland
emigriert
waren,
in
Antwort
auf
die
Bücherverbrennungen
1933
in
Deutschland
am
30.
Oktober
1933
den
Schutzverband
deutscher
Schriftsteller
im
Ausland.
Der
Exilverband
verfolgte
eine
Volksfront-‐Politik
gegen
die
nationalsozialistische
Dikta-‐
tur.
In
New
York
City
wurde
1939
ein
Landesverband
für
die
USA
gegründet,
Ehrenvor-‐
sitzender
war
Thomas
Mann,
Vorsitzender
Oskar
Maria
Graf.
Antistalinistische
Literaten
und
Journalisten
gründeten
nach
innerverbandlichen
Konflikten
am
7.
Juli
1937
den
Bund
Freie
Presse
und
Literatur.
Becher
schätzt
1933,
dass
der
Schutzverband
in
Paris
etwa
150
Mitglieder
habe“.
9
10. Stefan
Rosinski,
August
2013
des, die freilich nicht unmittelbar an der Bundesarbeit beteiligt waren. Für Kurt
Kläber waren die Abendveranstaltungen nur Anhäufungen von Menschen, die
sich gegenseitig Referate halten; von positiver Arbeit habe er nichts gesehen.
Das korrespondiert mit Peter Merins (Oto Biha) Urteil, die Bilanz der Schriftsteller-Emigration sei katastrophal, weil sie weder eine ernste Analyse des Faschismus auf ihrem Gebiet noch irgendeinen hörbaren Appell an die Intellektuellen der Welt zur Solidarität hervorgebracht habe.“
Das insgesamt angespannte Verhältnis mag durch folgende Anekdote vom „Kongress der antifaschistischen Schriftsteller zur Rettung der Kultur“ im Juni 1935 in Paris angedeutet sein: Als Gustav Regler zum Thema „Schöpferische Fragen und Würde des Geistes“ „(...) eine inspirierte Rede hielt, an deren Ende sich das Publikum
spontan erhob und die Internationale sang, erschien diese solidarische Demonstration den kommunistischen Organisatoren zu verräterisch: Becher nannte Regler einen
Saboteur, und in einer eigens anberaumten Sitzung wurde er gerügt, da nicht er es
zu bestimmen habe, wann die Internationale gesungen würde. Als Regler entgegnete, es sei spontan gesungen worden, warf sein Parteivertreter Abusch, später Kulturbeauftragter in der DDR, ihm eben dies vor: ‚Revolutionen haben nicht spontan zu
sein’.“24
Mitte 1934 begann sich die offizielle Parteilinie zur Exilpolitik zu ändern:
„Die Mitteilung, Heinrich Mann habe für die Zeitung des SDS »Der Schriftsteller« einen Leitartikel geschrieben, wertet Becher enthusiastisch als »entscheidenden Durchbruch in der Einheitsfrontbewegung«25. Ein – etwa gleichzeitig
geschriebener – Diskussionsbrief aus Moskau gibt die Orientierung, zu versuchen, alle die Schriftsteller zu gewinnen, die ehrlich gegen den HitlerFaschismus kämpfen, nicht um sie auszunutzen, sondern um ‚sie kameradschaftlich in unseren Kampf einzureihen’ (Becher). Eins der stärksten Überzeugungselemente für die bürgerlich radikalen Schriftsteller sei »unsere literarische Praxis«. Das ist ein neuer Ton, vor allem eine tiefgreifend veränderte
Wertung der künstlerischen Produktion. Seit dieser Zeit, so scheint es mir, hat
24
Fuld,
Benjamin,
S.
249.
25
„Einheitsfront“
hieß
nicht,
dass
es
nicht
auch
Ausgrenzungen
gegeben
hätte.
Mitarbei-‐
ter
der
-‐
vom
„Trotzkisten“
Willi
Schlamm
geleiteten
-‐
Weltbühne
zum
Beispiel
waren
nicht
ohne
weiteres
erwünscht.
10
11. Stefan
Rosinski,
August
2013
es eine eigenständige Tätigkeit der Pariser Gruppe des BPRS nicht mehr gegeben. Im Zeichen der »breiten Einheitsfront-Taktik« wurde der Schutzverband deutscher Schriftsteller im Exil das eigentliche Wirkungsfeld der Bundesmitglieder.“26
Festzuhalten ist hier - meine ich - zum einen die Kritik Bihas, eine ernste Analyse des
Faschismus habe die Gruppe der Schriftsteller-Exilanten „auf ihrem Gebiet“ bisher
nicht hervorgebracht; zum anderen die durchaus merkwürdige Vorstellung Bechers,
eines der stärksten Überzeugungselemente für die „bürgerlich radikalen Schriftsteller“ sei die „literarische Praxis“ der im BPRS organisierten Autoren - ohne dass diese
näher von ihm definiert würde.27
Im Spannungsfeld dieser Selbst- und Enttäuschungen hält Benjamin seinen Vortrag
Der Autor als Produzent. Er will explizit beides: die literarische Praxis der revolutionären Schriftsteller beleuchten, und dies mit dem Anspruch, damit zur Analyse des Faschismus beizutragen. Die Mitarbeiter des Pariser Instituts (unter ihnen sehr wahrscheinlich auch Oto Biha) werden ihm zugehört haben, aber haben sie auch hingehört? Eine Publikation des Textes jedenfalls erfolgte ebenso wenig wie eine Aufforderung zur weiteren Mitarbeit.
Erst in den 60er Jahren und vor dem Hintergrund der westdeutschen Studentenbewegung bildete die Veröffentlichung von Der Autor als Produzent (In: Versuche über
Brecht) den Auftakt zu einer Rekonstruktion der historisch-materialistischen Literaturtheorie Benjamins und damit zu einer Diskussion antifaschistischer Literatur, die insbesondere auch den Positionen Brechts Raum gab.
Während der weiteren Exilzeit jedenfalls hatte dieser Diskurs kein Forum gefunden,
sondern war seit 1937 durch die anders gelagerte, in der Moskauer Exilzeitschrift
Das Wort ausgetragene „Expressionismusdebatte“ mit ihren Protagonisten Lukács,
26
Schiller,
Zur
Arbeit
des
BPRS.
27
Eine
Minimaldefinition
findet
sich
in
den
Statuten
des
sowjetischen
Schriftstellerver-‐
bands
von
1934:
„Der
sozialistische
Realismus,
der
die
Hauptmethode
der
sowjetischen
schönen
Literatur
darstellt,
fordert
vom
Künstler
wahrheitsgetreue,
historische
konkre-‐
te
Darstellung
der
Wirklichkeit
in
ihrer
revolutionären
Entwicklung“.
11
12. Stefan
Rosinski,
August
2013
Brecht, Bloch28 und Kurella überdeckt worden.29 Vor allem Brecht hat sich in dieser zur Problematik des literarischen Erbes und dem Begriff des Realismus gehenden Debatte gegen Lukács und dessen Konzeption positioniert; verzichtete aber bezeichnender Weise auf den Abdruck seiner Ausführungen, die erst mit seinem Nachlass veröffentlicht wurden.
Ideologisch verortet wurde das kommunistische Literaturmagazin Das Wort durch
Alfred Kurella und Johannes R. Becher, den beiden führenden Kulturpolitiker der
KPD in Moskau; operativ geleitet durch Fritz Erpenbeck. Sowohl Kurella als auch
Erpenbeck übernahmen gegen Brecht die Position von Lukács: „Erpenbeck bekämpfet noch in der DDR Brechts Konzept vom epischen Theater auf schärfste mit dem
Argument der ‚volksfremden Dekadenz’ und nahm dabei Lukács klassischen Standpunkt, die Forderung nach aristotelischen Regeln der Dramatik, ein. Erst Ende der
fünfziger Jahre unterzog Erpenbeck seine Position einer Selbstkritik“.30
1938 zeichnet Walter Benjamin in diesem Zusammenhang folgendes Gespräch mit
Brecht auf: „Brecht liest mir mehrere polemische Auseinandersetzungen mit Lukács
vor, Studien zu einem Aufsatz, den er in Das Wort veröffentlichen soll. Es sind getarnte aber vehemente Angriffe. Brecht fragt mich, was ihre Publikation angeht, um
Rat. Da er mir gleichzeitig erzählt, Lukács habe derzeit ‚drüben’ eine große Stellung,
so sage ich ihm, ich könne ihm keinen Rat geben. ‚Hier handelt es sich um Machtfragen. Dazu müsste sich jemand von drüben äußern. Sie haben doch Freunde dort.’
Brecht: ‚Eigentlich habe ich dort keine Freunde. Und die Moskauer selber haben
auch keine - wie die Toten’.“
28
Vgl.
die
Sonderrolle
Blochs,
der
von
einem
„Tendenz-‐Latenz-‐Überschuss“
des
Materi-‐
als
sprach,
der
über
die
Faktizität
der
Wirklichkeit
hinausgelange.
Cf.
Ernst
Bloch:
Erb-‐
schaft
dieser
Zeit,
1935.
29
Der
Expressionismus
wurde
von
den
Faschisten
als
„entartet“;
von
den
Kommuni-‐
sten
in
Hinsicht
auf
seine
„Brauchbarkeit“
im
Klassenkampf
als
„dekadent“
abgelehnt.
Die
Diskussion
entzündete
sich
an
Gottfried
Benns
Parteinahme
für
den
Nazismus
und
kehrte
zu
Lenins
Forderung
der
Anknüpfung
an
die
„schöne
Literatur“,
als
Modell
für
sozialistische
Literatur,
zurück.
Aktueller
Bezugspunkt
blieb
die
Volksfrontbewegung
und
die
Vorstellung
von
Literatur
„als
Waffe“
(H.
Mann,
Der
Weg
der
deutschen
Arbeiter,
1936).
W.
Pieck
sprach
demgemäß
von
einer
„Volksfrontliteratur“,
deren
wesentliche
Kategorie
ein
erzieherischer
Realismus
zu
sein
habe.
Cf.
Hans-‐Jürgen
Schmitt:
Die
Ex-
pressionismusdebatte.
Frankfurt
am
Main:
Suhrkamp
1978.
30
Schmitt,
Expressionismusdebatte,
S.
24f.
12
13. Stefan
Rosinski,
August
2013
In der DDR sah die Intelligenzija sich weiterhin in der Tradition der Volksfrontbewegung und rezipierte daher auch die Expressionismusdebatte als wesentliches Element dieses Erbes (1968 erscheint ein Reprint von Das Wort). Kurella hatte 1938 in
einem sogenannten „Schlusswort“ die Realismus-Debatte und deren Ergebnis für
eine „sozialistische Literatur“ rückblickend bewertet; im Wiederabdruck 1961 (diesmal unter dem Titel: „Zwischendurch“), führt er dazu aus: „Damals schon rief meine
Identifizierung des Geistes, der Gottfried Benn die Feder führte, und des ‚Geistes’
der Naziideologie lebhaften Protest hervor. Ich habe die spitzen, ja überspitzten
Formulierungen von damals stehen lassen. Soll sich auch heute noch einmal der
Streit an ihnen entzünden! Dass nicht so viele deutsche Intellektuelle dem Nazismus
zum Opfer gefallen wären, wenn sie nicht durch die Auflösung aller humanistischen
Werte (! - SR) durch Leute wie Benn und durch den dekadenten Grundzug des ganzen Expressionismus geistig und moralisch entwaffnet worden wären, ist heute noch
meine Überzeugung. Und man sehe einmal zu, wo alle Expressionisten (mit Ausnahme derer, die aufhörten, es zu sein und sich zu neuen sozialistischen Positionen
durchrangen) heute gelandet sind, wem ihr Werk heute dient!“.31
In Ostdeutschland kam es 1970 durch Gerhard Seidel zu einer Publikation ausgewählter Schriften Benjamins unter dem Titel „Lesezeichen“. Darin schrieb der Herausgeber: „Die im Sommer 1924 auf Capri eingeleitete Wendung zum Marxismus hat
Benjamin nie rückgängig gemacht. Ausgedehnte Studien der klassischen und zeitgenössischen marxistischen Literatur und - seit 1929 - der freundschaftliche Umgang
mit Bertolt Brecht haben Benjamins Denken vollends in den hellen Mittag materialistischer Erkenntnis geführt.“
Wenige Jahre zuvor jedoch hatte Seidel in einem internen Gutachten für den AufbauVerlag zur Übernahme der in Westdeutschland 1966 veröffentlichen Sammlung Versuche über Brecht (darin auch Der Autor als Produzent) mit folgenden Worten davon
abgeraten, die Svendborger Gespräche zwischen Benjamin und Brecht mit zu übernehmen: „Zahlreiche der in diesen Gesprächen nur angerissenen Probleme, vor die
sich die progressiven Schriftsteller in den ersten Exiljahren gestellt sahen - man denke an bestimmte Erscheinungen in Politik und Kulturpolitik der Sowjetunion im Zeichen des wachsenden Personenkults -, würden jedoch hier und heute einen sehr
ausführlichen historischen und ideologischen Kommentar verlangen, der unsere
31
Schmitt,
Expressionismusdebatte,
S.
24.
13
14. Stefan
Rosinski,
August
2013
(Benjamin-)Ausgabe zu stark belastete. Die marxistische Literaturwissenschaft hat
diese Texte keineswegs zu scheuen; von ihrer Veröffentlichung in extenso in einer
Ausgabe des Aufbau-Verlags soll jedoch abgeraten werden“.32
Der Text
Benjamin beginnt seinen Text vom Autor als Produzenten mit der Feststellung, dass
die Zeitumstände des herrschenden Faschismus jeden Künstler und Intellektuellen ob sie wollten oder nicht - zu einer „Entscheidung“ nötigten: zu der Entscheidung, in
wessen „Dienst“ man seine Aktivität stelle. In einer solchen historischen Situation
kann es keine Entscheidungslosigkeit geben, denn jede Form der Publikation ist performativ: Handlung im Kontext der mörderischen Frage von Affirmation oder Konfrontation. Das „Existenzrecht“ des Dichters ist angesichts der nazistischen Verfolgungspolitik zweifach in Frage gestellt: als nacktes Leben und in dem Anspruch auf die
Autonomie der Kunst und des Denkens. Ein „fortgeschrittener Autor“ wird sich deshalb, so Benjamin, „auf die Seite des Proletariats“ stellen und die Autonomie durch
die „Tendenz“ ersetzen.
An dieser Stelle setzt Benjamin seinen Hebel an: Die Tendenzdebatte sei bisher
unglücklich gelaufen, weil sie den Zusammenhang von Tendenz (also dem auf den
Klassenkampf bezogenen Denken) und literarischer Qualität nicht plausibel machen
könne. Insofern sei der alleinige Begriff der „Tendenz“ ein vollkommen untaugliches
Instrument der politischen Literaturkritik. Dagegen formuliert er seine These: Ein
Werk, das die richtige Tendenz zeige, müsse notwendig auch jede sonstige (soll
heißen: literarische) Qualität aufweisen. Dies wolle er im Folgenden „beweisen“ und
damit das Studium des Faschismus befördern.
Wenn ein Werk „richtiger Tendenz“ notwendig auch literarische Qualität zeigt, kann
im Umkehrschluss literarische Qualität (die freilich noch zu definieren wäre) ein Indikator richtiger politischer Tendenz sein, ohne dass unter Umständen deren politischer Gehalt als Gesinnung explizit würde. Benjamin hält jedenfalls fest: „Die Tendenz einer Dichtung kann politisch nur dann stimmen, wenn sie auch literarisch
32
Wizisla,
S.
44.
14
15. Stefan
Rosinski,
August
2013
stimmt“. Auch wenn "im Zentrum der Philosophie der Klassenkampf" stehen müsse,
versichert er, dass "Kritik in der Sprache der Artisten reden muss".
Damit reicht das Parteibuch eines Autors ebenso wenig wie seine zu Markte getragene „fortschrittliche“ Gesinnung als Ausweis der richtigen politischen Tendenz seiner Werke. Denn erst die „literarische Tendenz“ erzeuge deren - politisch notwendige
- Qualität. Benjamin denkt also eine „literaturtheoretisch begründete moderne Autorschaft und die Verantwortung des Intellektuellen zusammen“, eine avancierte Ästhetik als antifaschistische Literaturpraxis.33
Dies ist zunächst eine Absage an sozialistische Trivialliteratur, wie sie als Gut- und
Richtiggemeintes zuhauf publiziert wurde. Diese sei - egal wie revolutionär und politisch nonkonformistisch sie sich gebe - „ästhetischer Verrat“, so Benjamin. Die „sozialistische Romanform“ etwa sei eher ein Rückzugsgefecht bürgerlicher Belletristik
als ein Vorstoß proletarischer und daher ästhetischer Konformismus von SchwarzWeiß-Zeichnungen.34
Den Konformismus-Begriff verwendet Benjamin indes auch in einem anderen Zusammenhang: Faschismus sei Konformismus, hervorgegangen aus der tödlichen
Mendelung von Nihilismus mit Idealismus35. Konformismus als Teil einer Funktionsweise der Technokratie werde von dieser erzeugt; als das Einverstandensein mit
ihren Verfahren, ohne dass deren Ergebnisse aushandelbar wären.36 Über den Konformismusbegriff rückt Benjamin sozialistische Tendenzliteratur, soweit sie reine Gesinnungsliteratur ist, in den Umkreis eines faschistischen Denkens.
Um seinen Begriff der literarischen Tendenz genauer bestimmen zu können, zieht
Benjamin die Kategorie der Produktionsverhältnisse heran. Nicht die Frage, wie
ein Werk zu diesen Verhältnissen stehe (das wäre Gesinnung), sei entscheidend,
sondern wie es in ihnen stehe. Diese Frage, so Benjamin, ziele „unmittelbar auf die
schriftstellerische Technik“. Erst die Technik eines Werkes gebe Aufschluss darüber,
33
C.
Kambas,
Positionierung
der
Linksintellektuellen
im
Exil.
In:
Benjamin
Handbuch.
34
Vgl.
Zum
gegenwärtigen
Standpunkt
des
französischen
Schriftstellers.
35
Bert
Brecht:
„Die
Durchführung
dieses
gigantischen
Programms
in
seinen
drei
Teilen
erforderte
selbstverständlich
die
ungeheuerlichsten
Anstrengungen
des
gesamten
Vol-‐
kes
und
jenen
eingangs
erwähnten
Idealismus.
Ohne
einen
solchen
Idealismus
können
Programme
solcher
Art
nicht
durchgeführt
werden“.
Schriften
2.1,
S.
13.
36
Cf.
Walter
Benjamin:
Theorien
des
deutschen
Faschismus.
In:
GS
III,
S.
238.
15
16. Stefan
Rosinski,
August
2013
ob die literarische Tendenz in einem Fort- oder Rückschritt liege. An ihr erkenne
man, welche Funktion ein Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer Zeit habe. (Selbstverständlich beschreibt das Technische einen
grundlegend anderen Sachverhalt als das Technokratische.)
Den Begriff der Funktion verbindet Benjamin mit einem Ausdruck des russischen
Schriftstellers (und Brecht-Freundes) Tretjakows: dem vom „operierenden“ Schriftsteller im Unterschied zum „informierenden“. Der fortschrittliche, operierende Schriftsteller „greift ein“, indem er die Formen der Literatur verändert. Formveränderung ist
hier im Kontext eines historischen Bewusstseins gedacht, das sich selbst in einem
„gewaltigen Umschmelzungsprozess“ reflektiert. Dieses Bewusstsein des Umbruchs
war kein Alleinstellungsmerkmal der Linken, sondern erfasste das gesamte Spektrum
des politischen Denkens der Zwanziger und Dreißiger Jahre.
Umgeschmolzen werden müssen mit den Formen auch die Funktionen und damit die
Produktionsverhältnisse: Wer ist zukünftig Schreibender, wer Lesender, wer ist Spielender, wer Zuschauer? Ja, mehr: die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum
selbst beginne sich aufzulösen. Ein Aspekt, den Benjamin in seinen Arbeiten zum
epischen Theater intensiv weiterverfolgen wird und der für Brechts „Maßnahme“ fundamental ist.
Mit dem breiten Zugriff der Werktätigen auf die Medien - Benjamin exemplifiziert hier
am Beispiel der Sowjetunion - sei jeder „Lesende jederzeit bereit, ein Schreibender
zu werden“. Die „Arbeit selbst komme zu Wort“, und man könne nicht weniger als die
„Literarisierung der Lebensverhältnisse“ beobachten. Schauplatz dieses Vorgangs
seien die Zeitungen, Schauplatz einer „hemmungslosen Erniedrigung des Wortes“.
Freilich: dies gelte nur für die Sowjetunion, denn woanders seien diese Medien keine
geeigneten Instrumente des politischen Fortschritts, weil sie nach wie vor im Eigentum der Kapitalisten stünden.
Folglich gilt für den Autor im Kapitalismus eine andere Aufgabenstellung als in einem
Land, wo der Schriftsteller aufgefordert ist, unmittelbar in die Produktion oder wie
Tretjakow in die Kollektivierung einzugreifen. Hier kann Literatur als Produktionsmittel sozialisiert werden, indem Bildung nicht länger ein Privileg von Intellektuellen ist.
16
17. Stefan
Rosinski,
August
2013
Anders im Kapitalismus: Ist der Autor imstande, die eigene Arbeit, ihr Verhältnis zu
den Produktionsmitteln, d.h. den Stand ihrer Technik wirklich revolutionär zu durchdenken?
Benjamin wählt die Beispiele des Aktivismus und der Neuen Sachlichkeit als zwei
literarische Strömungen, die sich gesellschaftskritisch geben. Sind sie es nur der Gesinnung nach, oder übt der Autor seine Solidarität mit dem Proletariat auch als Produzent? Wird die Stellung der Intelligenz im Produktionsprozess kritisch reflektiert?
Benjamins Kritik an den Konzepten von Vertretern dieser Strömungen, explizit Alfred
Döblin und Heinrich Mann, fällt vernichtend aus. Hier werde ein „Begriff des Geistigen“ ohne Rücksicht auf die Stellung der Intelligenz im Produktionsprozess vertreten. An die Stelle der materialistischen Dialektik sei im Aktivismus das Prinzip des
„gesunden Menschenverstandes“ getreten; der Begriff des Sozialismus ein reaktionärer. Benjamin zitiert hierzu Döblin: Sozialismus sei „Freiheit, spontaner Zusammenschluss, Ablehnung jedes Zwanges, Empörung gegen Unrecht und Zwang,
Menschlichkeit, Toleranz, friedliche Gesinnung“. Diesem „Aktivismus“ als „geistiger
Erneuerung“, so Benjamin abschließend, gehe jede Analysefähigkeit und kritische
Selbstwahrnehmung ab.
Dem Aufbruch der Autoren in der Sowjetunion zum Verwechseln ähnlich sehen mag
die Literatur der sogenannten Neuen Sachlichkeit. Sie habe die Reportage literaturfähig gemacht, integriere Elemente der Illustrierten, des Radios, der Photomontage.
Sie wolle das Elend zeigen - und erniedrige es doch zum Gegenstand des Konsums.
Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Walter Mehring - so der Befund - verwandelten den
politischen Kampf aus einem „Zwang zur Entscheidung“ in einen Konsumartikel.
Benjamin bescheinigt dem Großteil der linken Literatur, dass sie „der politischen Situation immer neue Effekte zur Unterhaltung des Publikums abzugewinnen“ vermögen. Der „revolutionäre Routinier“ beliefere ohne zu verändern (auch mit „revolutionären“ Themen) und bediene damit den bürgerlichen Produktionsapparat, der erstaunliche Mengen von revolutionären Themen assimilieren könne, ohne seine Bestand (und den seiner besitzenden Klasse) ernstlich zu gefährden. Dabei könne es
doch nur um eines gehen: den (literarischen) „Produktionsapparat durch Verbesserungen der herrschenden Klasse zu entfremden“.
17
18. Stefan
Rosinski,
August
2013
Benjamin zitiert zustimmend Brecht (und integriert Teile eigener Aufsätze zum Epischen Theater), dass es um „Umfunktionierung“ ginge: Umfunktionierung der Produktionsformen im Sinne einer dem Klassenkampf dienlichen (statt: dienenden) Intelligenz. Am Beispiel des Theaters dokumentierten Brechts Arbeiten, dass der Produktionsapparat so beliefert werden könne, dass er im Sinne des Sozialismus gleichzeitig verändert werde. Künstlerische Arbeiten sollen - so fordere Brecht - „nicht mehr
so sehr individuelle Erlebnisse sein, sondern mehr auf die Benutzung (Umgestaltung)
bestimmter Institute“ gerichtet werden. Nicht geistige Erneuerung, wie sie die Faschisten proklamieren, sei wünschenswert, sondern technische. Vom politisch aufgeklärten Künstler müsse man erwarten dürfen, dass er den Produktionsapparat dem modischen Verschleiß entreiße und ihm den revolutionären Gebrauchswert zurückgebe:
Die Arbeit des modernen Autors „wird niemals nur die Arbeit an Produkten, sondern
stets zugleich die an den Mitteln der Produktion sein. Mit anderen Worten: seine
Produkte müssen neben und vor ihrem Werkcharakter eine organisierende Funktion
besitzen. Und keineswegs hat ihre organisatorische Verwertbarkeit sich auf ihre propagandistische zu beschränken. Die Tendenz allein tut es nicht. “
An dieser Stelle soll zumindest angedeutet werden, dass Benjamins Ansatz eine gewisse Verwandtschaft mit den Arbeiten der russischen Formalisten in den zwanziger Jahren zeigt. Ich zitiere Hans Günther aus seinem Vorwort zu dem Band Marxismus und Formalismus von 1973: „Bei den Formalisten herrschte durchaus das
Bewusstsein, dass sie als Revolutionäre auf dem Gebiet der Erforschung der Literatur innerhalb ihres Bereichs, d.h. als Literaturwissenschaftler und Kritiker der literarischen Entwicklung, an der totalen Umgestaltung der Gesellschaft teilnahmen. Allerdings setzten sie sich gegen eine voreilige Synthese mit dem Marxismus, gegen das
oberflächliche Engagement zur Wehr. Die Position der Identität von gesellschaftlicher
Revolution und Revolution in der Kultur und Wissenschaft vertrat mit überschwänglichem Pathos Osip Brik, der im OPOJAZ (= Gesellschaft zur Erforschung der dichterischen Sprache) den besten Erzieher für die junge proletarische Literatur sah
(1923): ‚Der OPOJAZ hilft den Genossen Prolet-Schriftstellern, die Traditionen der
bürgerlichen Literatur zu überwinden (...) Der OPOJAZ hilft dem proletarischen
Schaffen nicht mit nebulösen Phrasen von ‚proletarischem Geist’ und ‚kommunistischem Bewusstsein’, sondern mit exaktem technischen Wissen über die Verfahrensweisen des modernen dichterischen Schaffens. Der OPOJAZ ist der Totengrä
18
19. Stefan
Rosinski,
August
2013
ber des poetischen Idealismus’“. - Dieses Wissen ist spätestens 1930 verloren gegangen, als die russische Formale Schule „den mit wachsender Schärfe geführten
dogmatischen Angriffen und dem immer stärker werdenden administrativen Druck“
schlussendlich erlag. Mit Lunatscharskis Unterscheidung von „ideologischer“, gesellschaftlich aktiver und wertvoller und „formaler“, d.h. ideenloser, dekadenter Kunst
„wurde ‚Formalismus’ von den 30er Jahren an zum Schimpfwort, das (....) vor allem
gegen moderne Gestaltungsverfahren in der Kunst gerichtet war“.
Für Walter Benjamin war die wesentliche Bezugsgröße denn auch nicht der russische Formalismus, sondern der französische Surrealismus. Dies ist im wichtigen
„Sürrealismus“-Aufsatz von 1929 ausgeführt; aber auch in dem 1934 in der Zeitschrift
für Sozialforschung publizierten Artikel „Zum gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers“. Hierin heißt es zum Ende: „So haben (die Surrealisten) den
Intellektuellen als Techniker an seinen Platz gestellt, indem sie über seine Technik
dem Proletariat Verfügung zuerkannten, weil nur dieses auf ihren fortgeschrittensten
Stand angewiesen ist. Mit einem Wort - und das ist ausschlaggebend - sie haben
das, was sie erreichten, kompromisslos, auf Grund der ständigen Kontrolle ihres eigenen Standortes erreicht. Sie haben es als Intellektuelle erreicht - und das heißt auf
dem weitesten Wege. Denn der Weg des Intellektuellen zur radikalen Kritik der gesellschaftlichen Ordnung ist der weiteste wie der des Proletariers der kürzeste. Darum der Kampf, den sie Barbusse und allen denen ansagten, die im Zeichen der „Gesinnung“ bestrebt sind, diesen Weg abzukürzen. Darum gibt es für sie unter den Arme-Leute-Schilderer keinen Platz.“37
Benjamins Verständnis eines die Verhältnisse neu organisierenden technischen Verfahrens wird vom ihm nicht inhaltlich gefasst. Tatsächlich kommt es weniger auf die
ästhetische Konkretion an, als auf die Haltung, die damit „vorgemacht“ wird. Eine
Tendenz haben heißt: eine Haltung vormachen, „in der man ihr nachzukommen hat“:
„Und diese Haltung kann der Schriftsteller nur da vormachen, wo er überhaupt etwas
macht: nämlich schreibend“. Im Schreiben zeigt der Autor Tendenz als Haltung: als
technisches, „unterweisendes Verhalten“. Hier zitiert er Brecht: „Ein Autor, der die
Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden“. Und er fährt fort:
37
Benjamin,
GS,
II
2,
S.
802.
19
20. Stefan
Rosinski,
August
2013
„Also ist maßgebend der Modellcharakter der Produktion, der andere Produzenten
erstens zur Produktion anzuleiten, zweitens einen verbesserten Apparat ihnen zur
Verfügung zu stellen vermag. Und zwar ist dieser Apparat umso besser, je mehr er
Konsumenten der Produktion zuführt, kurz aus Lesern oder aus Zuschauern Mitwirkende zu machen imstande ist. Wir besitzen bereits ein derartiges Modell (...). Es ist
das epische Theater von Brecht“.
Benjamin zu Brecht
Um im Folgenden diese „organisierende Funktion“, dieses „Modell“ genauer zu beschreiben, bezieht sich Benjamin auf seine eigenen Untersuchungen zum Epischen
Theater, wie er sie bereits in verschiedenen Texten ausgeführt hatte.38
Brecht, so Benjamin, habe den Funktionszusammenhang zwischen Podium und Publikum verändert. Die Elemente der Wirklichkeit würden im Sinne einer Versuchsanordnung behandelt. Das Theater wird zu einem dramatischen Laboratorium, das den
Zuschauer „durch Denken den Zuständen entfremdet“, in denen er lebt. Dies geschieht dadurch, dass das epische Theater konsequent das Verfahren der Montage
verwendet, d.h. montierend die Handlung unterbricht und dadurch „Zustände entdeckt“: „das Montierte unterbricht ja den Zusammenhang, in welchen es montiert
ist“.39 Zustände werden also nicht „wiedergegeben“, sondern tatsächlich entdeckt.
Benjamin hat in diesem Kontext auch von einer „Dialektik im Stillstand“ gesprochen:
das Bild friert ein und erlaubt auf diese Weise einen Blick auf die „gewohnteren Szenen des heutigen Daseins“, der dem „eines Fremden“ gleicht. Das Verfahren der
Montage von Zuständen unterbricht, wirkt damit der Illusion entgegen und zwingt zur
Stellungnahme. Aus dem Bekannten kann ein Erkanntes werden. Die Unterbrechung
hat „eine organisierende Funktion“.
Kritik der Kritik
Die Aufgabe des fortschrittlichen Intellektuellen ist Kritik an den Verhältnissen durch
ein Durchdenken der Stellung der eigenen Technik in ihnen. Der Modellcharakter
liegt im „unterweisenden Verhalten“, mit dem der Autor sein Schreiben technisch or-
38
„Was
ist
das
epische
Theater?“
(1),
1931.
Benjamin
hat
in
einem
Brief
an
Adorno
sei-‐
nen
Text
Der
Autor
als
Produzent
als
„Gegenstück“
zum
ersten
Brecht-‐Essays
bezeichnet.
39
Benjamin,
GS
II
2,
S.
697.
20
21. Stefan
Rosinski,
August
2013
ganisiert. Dabei geht es - wie wir gehört haben - um „Umformung“, eine Verbesserung des Apparates.
Indem Benjamin in seinem Text die Techniken des epischen Theaters nicht nur beschreibt, sondern sie in dieser Beschreibung auch anwendet, sie als Mittel seiner
eigenen Beschreibung verwendet, werden sie ihrerseits einer Kritik unterzogen.
Demzufolge ginge es Benjamin nicht so sehr um das lehrhafte Modell des epischen
Theaters als vielmehr um die Funktion von „Kritik“ in Bezug auf dieses Modell der
Kritik (wie auch auf ein jedes andere Modell der Kritik): um eine Kritik der Kritik also.
Es soll auch für die Beschreibung von Brechts Modell gelten, was es für sich in Anspruch nimmt: einen Blick auf die gewohnten Szenen des heutigen Daseins zu werfen, der der eines Fremden ist. Benjamin montiert folglich seinerseits die Elemente
des epischen Theaters Brechts in einer verändernden Weise, dass es nun selbst im
Sinne einer Versuchsanordnung behandelt wird. Er unterbricht den politisch fortschrittlichen Diskurs Brechts und gewinnt dadurch gleichfalls „Zustände“ dieses
Theatermodells - Zustände, die den vermeintlich konsistenten Entwurf eines aufgeklärten Theaters von sich selbst entfremden.
An einem einfachen Beispiel wird dies sinnfällig. Die Ausführungen zum epischen
Theater in Benjamins Text sind zum großen Teil als direktes Zitat aus dem von ihm
verfassten Essay „Was ist das epische Theater?“ (1) entnommen. Dort heißt es: „In
dem Augenblick, da die Masse in Debatten, in verantwortlichen Entschließungen, in
Versuchen begründeter Stellungnahme sich differenziert, in dem Augenblick, da die
falsche, verschleiernde Totalität „Publikum“ sich zu zersetzen beginnt, um in ihrem
Schoß den Parteiungen Raum zu geben, welche den wirklichen Verhältnissen entsprechen - in diesem Augenblick stößt der Kritik das doppelte Missgeschick zu, ihren
Agentencharakter aufgedeckt und zugleich außer Kurs geraten zu sehen (...) Mit diesem Verhalten des Publikums kommen ‚Neuerungen’ zur Geltung, die jedes andere
Denken als das in der Gesellschaft realisierbare ausschließen und damit in Gegensatz zu allen ‚Erneuerungen’ treten“.
Was hier als einfacher Gegensatz zwischen Reform („Erneuerung“) und Revolution
(„Neuerung“) erscheint, löst sich bei genauerem Hinsehen durch die semantische
Doppeldeutigkeit der Sprache auf. Während es bei Brecht noch deutlich heißt: „zu
zertrümmern sei jedes andere denken als das in einer gesellschaft realisierbare“,
21
22. Stefan
Rosinski,
August
2013
ergeben sich in Benjamins scheinbarer Wiederholung zwei Auslegungsmöglichkeiten, je nachdem, wie man betont: Ist es jedes andere Denken außer dem realisierbaren, das auszuschließen ist - oder ist, ganz im Gegenteil, womöglich das realisierbare Denken auszuschließen, weil es das einer „falschen“ Gesellschaft ist?
Benjamin zitiert Brecht und verfremdet ihn gleichzeitig. Die semantische Irritation hat
hier eine unterbrechende Funktion - als Kritik am Modell des Brechtschen Theaterentwurfs, das es in seinen Mitteln auf sich selbst anwendet. Sie zeigt nämlich, dass
die wesentliche Referenz dieses Entwurfs, die vorgebliche „Realität“ in Sachen der
Revolution die strittigste ist.
Einig sind sich Brecht und Benjamin darin, einen Idealismus abzulehnen, der der
Realität eine realitätsfremde Utopie entgegenstellt.40 Brechts Verweis auf die notwendige Realisierbarkeit des Denkens erteilt scheinbar allen idealistischen Kategorien eine Absage - und führt doch einen transzendentalen Begriff der Realität ein. Der
Dramatiker verwendet die Begriffe von Realität und Gesellschaft als der Erfahrungserkenntnis vorgelagert, sie erst ermöglichend. „Realität“ wäre bei Brecht Bedingendes statt Bedingtes (bedingt etwa durch unsere Kognitionsmatrix oder durch die
Sprache etc.). Benjamins verändernde Verwendung des Zitats kritisiert, dass Brechts
theoretische (und dem Konzept des historischen Materialismus folgende) Forderung
der „Erkennbarkeit des Realisierbaren“ eine von Zweideutigkeit freie Sprache voraussetzen würde. Zweideutigkeit aber ist das Prinzip des Gestischen, wie Brecht es
selbst formuliert hatte.
„Damit steht das gesamte Brechtsche Unternehmen auf dem Spiel. Zur kritischen
Unterscheidung von gut und böse, Wahrheit und Meinung, revolutionär und reaktionär bedürfte es eben dessen, was Brecht als ‚Realisierbarkeit’ bezeichnen möchte.
Ohne diesen Prüfstein der „Realisierbarkeit des Denkens“ (...) schlüge der Anspruch
um in totalitären Dogmatismus“.41
Hier, so mag der mitwirkende Leser schließen, liegen die Aporien und unüberwindbaren Widersprüche der Texte Benjamins, liegt aber auch die Politik des revolutionären
Autors. Dass sie sich heftig am Werk Brechts entzündeten, dokumentiert ein Brief,
den Benjamin 1935 an Adorno schrieb, der die größten Bedenken gegen den Ein-
40
Vgl.
Nikolaus
Müller-‐Schöll,
Theater
des
konstruktiven
Defaitismus.
41
Müller-‐Schöll,
Defaitismus.
22
23. Stefan
Rosinski,
August
2013
fluss des Dramatikers hegte. Brecht, so Benjamin beschwichtigend, habe seiner Arbeit nie „Direktiven“ beschert - wohl aber „Aporien“.42
Benjamin geht es nicht darum aufzuzeigen, wie die Stellung des fortschrittlichen Autors im Produktionsprozess zu sein habe. Letzteres würde auf ein Inhalts- oder: Gesinnungsmodell hinauslaufen, das lediglich die normative Ästhetik der aristotelischen
Dramaturgie durch die der epischen ablösen würde. Genau dagegen hatte Benjamin
polemisiert. Die einzige Forderung, die er erhebt, lautet: „die Forderung nachzudenken, seine Stellung im Produktionsprozess sich zu überlegen“. Dieses Nachdenken
ist ein kritisches, wo es die „falsche Totalität ‚Publikum’“ zersetzt, um den „Parteiungen Raum“ zu geben. Genau darin werden der Zuschauer und der Leser „Mitwirkende“.
Ich komme zurück auf das Geschehen beim „Kongress der antifaschistischen
Schriftsteller zur Rettung der Kultur“ im Juni 1935. Die Äußerung von Abusch, Revolutionen hätten nicht spontan zu sein, ist - seinerseits spontan - im Bewusstsein des
vermeintlich sicheren Wissens darüber getan, wie Gesellschaft, Realität und Revolution funktionieren. Darin gibt sie ihren dogmatischen, ja totalitären Charakter zu erkennen. Andererseits jedoch, jenseits der performativen Wirkung der Aussage, wird
hier etwas zweites berührt: ein Vortrag, der das spontane Absingen der Internationale bewirkt, ist mitnichten das Ergebnis einer kritischen Intervention wie sie von Benjamin am Beispiel des epischen Dramatikers beschrieben wird: „Er sieht es weniger
darauf ab, das Publikum mit Gefühlen, und seien es auch die des Aufruhrs (!), zu
erfüllen, als es auf nachhaltige Art, durch Denken, den Zuständen zu entfremden, in
denen es lebt“. So ließe sich der Hinweis des Parteifunktionärs auf die wenig willkommene spontane Geste durchaus im Sinn des fortschrittlichen Autors als Produzenten und seiner potentiell nicht abschließbaren Kritik, wie sie sich erst dem Denken erschließt, verteidigen.
Coda.
Walter Benjamin versteht die „Rolle“ des Intellektuellen durchaus im Sinn der damit
angesprochenen Theatermetapher. So wie der epische Schauspieler spielt und sein
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Spielen gleichzeitig zeigt, so besteht auch die kritische Haltung des Intellektuellen in
einer doppelten Maßnahme zur Sicherstellung der Distanzierung vom Gegenstand.
Im Schreiben des revolutionären Autors fallen Zeigen und Gezeigtes auseinander,
und zwar so, dass der Lesende zum Mitwirkenden wird: Ihm erschließt sich ein Text
mit „literarischer Tendenz“ als ein organisierender, der jede Partei zersetzend aus
ihrer Konkursmasse Parteiungen über seine Auslegung erzeugt. So wie „der Blick
des epischen Dramatikers verfremdet“, tut es auch der des Kritikers, der des revolutionären Autors, des Autors als Produzenten. In diesem Sinn dürfte Benjamins Satz
gegen Brecht zu verstehen sein, dass der Begriff der „revolutionären Intelligenz“ an
sich schon ein konterrevolutionärer sei. Benjamins Antifaschismus ist immer auch ein
Antitotalitarismus gegen jegliche Form des Dogmatismus.
Der Autor wird als Ingenieur gedacht, der die Vergesellschaftung der geistigen Produktionsmittel voranbringt. Er arbeitet als Techniker, als Spezialist an der Umfunktionierung der Formen und im Namen einer Revolution, deren genaue Inhalte er nicht
kennt: „Je vollkommener er seine Aktivität auf diese Aufgabe auszurichten vermag,
desto richtiger die Tendenz, desto höher notwendigerweise auch die technische
Qualität seiner Arbeit“.
Dass der Intellektuelle darüber zum Verräter an seiner „Ursprungsklasse“ wird, bezahlt er mit einer Strafe, die Einsamkeit heißt. Einsamkeit ist seine Armut, die - paradox genug - gleichwohl auch sein „Kapital“ darstellt: „Es handelt sich aber darum: die
Erkenntnis, wie arm der Schriftsteller ist, und wie arm er zu sein hat, um von vorn
beginnen zu können“.
Postskriptum
2004 hat Boris Buden, der kroatische, in Berlin lebende Philosoph, der die Signaturen der „postkommunistischen Gesellschaften“ erforscht, einen Text veröffentlicht mit
dem Titel: Benjamins ‚Der Autor als Produzent’. Eine Re-Lektüre im postkommunistischen Osten. Darin macht er folgenden Gedanken geltend: Kann es eine Antwort auf
die Frage geben, welche Position ein Kunstwerk in den Produktionsverhältnissen
UNSERER Zeit einnimmt, wenn die Frage nicht mehr zur Verfügung steht?
Soll heißen: „Können wir heute diese selbe Frage wiederholen? Haben wir heute etwas wie die kritische Methode des dialektischen Materialismus zur Verfügung für un
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sere Reflexionen? Die Antwort lautet - un/glücklicherweise nein! (...) Denn diese Frage ist heute in sich zu einer Antwort ohne ihre eigentliche Frage geworden. Es ist die
allgemeine Frage nach den materiellen Bedingungen künstlerischer Produktion, die
unter den gegebenen ideologischen Bedingungen ihre gesamte Bedeutung eingebüßt hat“.
Damit wird von Boris Buden der für einen Linken schmerzliche Aspekt berührt, dass
wir heute in einem historischen Raum leben, der jeglichen explizit politischen Bezug
zu linken Erfahrungen abgeschnitten hat. Ein solcher Bezug aber war es, in dem
Benjamin arbeitete und dachte: Benjamin benützt „reflexive Methoden wie den dialektischen Materialismus, die nicht nur Möglichkeiten kritischer Philosophie oder intellektueller Kritik sind, sondern funktionierende Instrumente - um nicht Waffen zu sagen - einer wirklichen, zu dieser (seiner) Zeit sehr starken internationalen, politischen
Bewegung und einer existierenden sozialen Organisation und Institution, nämlich des
sowjetischen Staats“.
Der Text Benjamins wäre danach auf gewisse Weise referenzlos geworden. Und so
schließt Buden seinen Text mit einem Appell, der selbst leer bleiben muss: „Es gibt
deshalb keine neuen Antworten auf Benjamins alte Fragen. Was wir stattdessen
brauchen, sind neue Fragen, hervorgerufen von seiner alten Antwort“.
Mit dieser Frage nach den Fragen schließen auch meine Ausführungen, die notabene mit einem Fragezeichen enden müssen.
sr
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