Diss sproll kap i 1 kontraktfertigung als neues produktionsmodell
1. Kapitel aus Sproll, Martina 2010: High Tech für Niedriglohn: Neotayloristische
Produktionsregimes in der IT-Industrie in Brasilien und Mexiko. Münster: Westfälisches
Dampfboot.
1. Kontraktfertigung als neues Produktionsmodell in der weltweiten IT-
Industrie
Die Entwicklung der internationalen Elektronikindustrie ist seit Jahren durch massive
Umbrüche von Technologien, Märkten und Arbeitsprozessen gekennzeichnet. Dies trifft
besonders für jenen Teil des Sektors zu, der im Zentrum der rasanten Entwicklung der
Mikroelektronik steht, die Informationstechnik (IT)-Industrie. Während unter Schlagworten
wie „New Economy“, „Informationsgesellschaft“ oder „Shareholder-Value“-Kapitalismus ab
Mitte der 1990er Jahre die Globalisierung von Kapital- und Warenströmen, das Internet als
neue Grundlage für E-Commerce und das Entstehen virtueller Fabriken im Mittelpunkt der
Diskussionen standen, wurden die tiefgreifenden Veränderungen in der Pro-
duktionsorganisation beziehungsweise im Arbeitsprozess selbst kaum beachtet. Doch auch
in der scheinbar immateriellen Welt der Elektronik findet weiterhin eine ganz materielle
Fertigung von Waren statt, die ebenfalls einen tiefgehenden Wandel durchlaufen hat, der
sich auf allen Ebene von Produktion, Arbeitsorganisation, Beschäftigung und Raum
ausdrückt. Gleichsam im Schatten der New Economy etablierte sich zunächst in den USA
fast unbemerkt von dieser Öffentlichkeit die IT- beziehungsweise Elektronik-
Kontraktfertigung als ein neues Produktionsmodell (Sturgeon 1997), das sich in kurzer Zeit
als ein Modell transnationaler Produktionsnetze über die Kontinente hinweg in der gesamten
Branche durchsetzte und als prototypisches Beispiel für ein postfordistisches Modell
vernetzter Massenproduktion gelten kann. Dabei entstand auch eine neue Form der
internationalen Arbeitsteilung, die seit 1997 Niedrigkostenstandorte in Asien, Mittelosteuropa
und Lateinamerika als neue Fertigungsstandorte integrierte. In der Fachdiskussion wird
Kontraktfertigung zumeist als Contract Manufacturing (CM) oder Electronics Manufacturing
Services (EMS) bezeichnet.
Bis heute sind die großen Akteure dieses neuen Modells der Kontraktfertigung kaum
bekannt, obwohl es sich um große transnationale Konzerne handelt. Sie heißen Flextronics,
Foxconn, Sanmina-SCI, Jabil Circuit oder Celestica und sie fertigen die Produkte der großen
Markenhersteller wie IBM, Cisco, HP, Dell, Siemens, Ericsson, Alcatel, Philips, Sony,
Whirlpool oder Nortel. Deren Namen stehen auf dem Endprodukt (z.B. einem PC, Router,
Drucker, Handy oder Netzwerkeinrichtungen), so dass die eigentlichen Hersteller, die
Kontraktfertiger, nicht in Erscheinung treten und gleichsam unter der „Tarnkappe“ agieren,
wie es von einer amerikanischen Tageszeitung einmal ausgedrückt wurde. Bei den
Markenherstellern selbst verbleibt oftmals nur die „Erfindung“ des Produkts sowie das
1
2. Marketing, während die Kontraktfertiger den größten Bereich der Wertschöpfungskette
übernehmen, was neben Teilen des Designs und des produktionsnahen Engineering auch
die Organisation der Beschaffungsketten, die Fertigung selbst, die Logistik und
Reparaturservices umfasst. Es handelt sich also um eine besonders weitgehende Form des
Outsourcing der Fertigung von IT-Hardware an neue Akteure, die Kontraktfertiger, deren
Erscheinen einen grundlegenden Umbruch in der Organisation und Funktionsweise der
gesamten weltweiten Elektronikbranche markiert. Dabei geht es um einen besonders
dynamischen industriellen Sektor, der sich in einem ständigen Wandel befindet. Doch
Kontraktfertigung hat sich als Produktionsmodell nicht nur im IT-Bereich etabliert, sondern
sich auf viele Segmente der Elektronikbranche jenseits der Informationstechnologie wie
Telekommunikation, Industrie-, Automobil, Medizinelektronik oder Raumfahrt ausgeweitet,
wobei es sich allerdings in seiner Form je nach Branchensegment stark ausdifferenziert hat
(vgl. Hürtgen/Lüthje/Schumm/Sproll im Erscheinen). Dabei traten vor allem neue asiatische
Unternehmen in das Feld, die anders als die zumeist nordamerikanischen Kontraktfertiger
auch eigene Produkte im Programm haben, größere Anteile der Produktentwicklung
beziehungsweise des Designs übernehmen und zumeist als ODM (Original Design
Manufacturer) bezeichnet werden. Diese kennt man vor allem aus der Notebook-Fertigung,
die zum Beispiel von Unternehmen wie Quanta oder Compal für große Markenhersteller
ausgeführt wird1. Kontraktfertigung umfasst also beide Formen der Auftragsfertigung, EMS
(Electronics Manufacturing Services) und ODM. Ich werde mich allerdings in der
vorliegenden Studie vor allem auf den Bereich des EMS konzentrieren, da ich in Brasilien
und Mexiko EMS-Betriebe untersucht habe2.
Im Folgenden soll nun ein kurzer historischer Abriss der ökonomischen und politischen
Hintergründe in der IT-Branche bezüglich der Entstehung und Entwicklung der
Kontraktfertigung gegeben werden.
1.1 Restrukturierung der IT-Branche – Wintelismus und vertikale Des-
integration
Den historischen Hintergrund für die Entstehung des Contract Manufacturing bildet der
Beginn der industriellen Fertigung von PCs Anfang der 1980er Jahre, der ein neues
informationstechnisches Zeitalter einläutete. IBM als das weltweit führende Unternehmen im
IT-Sektor lagerte als erstes traditionelles Großunternehmen einen Teil seiner
Baugruppenfertigung für PCs an ein bis dahin unbekanntes Unternehmen aus, nämlich SCI
1
In Deutschland wurde vor allem der taiwanesische ODM BenQ bekannt, der 2005 die Handy-Sparte von
Siemens weltweit übernahm.
2
Die taiwanesischen ODMs spielen im lateinamerikanischen Markt zumindest bislang eine untergeordnete Rolle
als Fertiger, auch wenn sie sich seit 2005 zunehmend in Lateinamerika, vor allem mit Aktivitäten für die
endmarktnahe Konfiguration von Geräten an der US-Grenze in Mexiko sowie in der brasilianischen freien
Produktionszone in Manaus niedergelassen haben.
Für eine umfassendere Betrachtung des ODM siehe Hürtgen/Lüthje/Schumm/Sproll im Erscheinen.
2
3. aus Huntsville, Alabama, das später einer der weltgrößten Kontraktfertiger werden sollte. Die
eigentliche Wiege des Contract Manufacturing liegt jedoch im kalifornischen Silicon Valley,
das nicht nur als konkreter Ort, sondern auch als Symbol für die technischen Neuerungen
der Mikroelektronik und die Entstehung des Informationszeitalters gilt. Hier sind nicht nur
eine neue Generation von Unternehmen der Halbleiterindustrie wie Intel, AMD oder National
Semiconductor entstanden, sondern auch die Pioniere der PC- Industrie wie Apple,
Commodore und Atari (vgl. Lüthje 2001). Diese organisierten ihre PC-Fertigung mangels
eigener Kapitalressourcen und Produktionsinfrastrukturen von Anfang an mit extern
bezogenen Standardkomponenten und schufen damit einen neuen Markt für Montagefirmen.
Unter den überwiegend mittelständisch geprägten Subunternehmen waren bereits einige, die
schon früh in hochwertige Technologie wie die automatische Leiterplattenbestückung
investierten, aus denen später führende Kontraktfertigungsunternehmen wie Solectron
hervorgingen (vgl. Sturgeon 1999: 176ff.). Einen kräftigen Wachstumsschub erfuhr die
Kontraktfertigung, als fabriklose Unternehmen wie Cisco Anfang der 1990er Jahre die
Fertigung ihrer Produkte an Kontraktfertiger – vor allem Solectron und Flextronics vergaben.
Cisco hatte seit seiner Gründung Mitte der 1980er Jahre keine eigene Fertigungsinfrastruktur
und konnte als fabrikloses Unternehmen unter Rückgriff auf die Kontraktfertiger als
Produktionsdienstleister zum Marktführer im Bereich der Netzwerktechnik aufsteigen (vgl.
Jürgens/Sablowski 2004). Damit wurde eine Dynamik ausgelöst, die auch die traditionellen
vertikal integrierten Großunternehmen erreichte. Diese gingen dazu über, große Teile ihrer
arbeitsintensiven Fertigungsbereiche auszulagern und verhalfen damit der Kontraktfertigung
ab Mitte der 1990er Jahre zu einem Durchbruch (vgl. Lüthje/Schumm/Sproll 2002).
Dies bedeutete den Umschwung zu einem neuen Paradigma industrieller Organisation, das
netzwerkförmige und transnationale Produktionsstrukturen hervorgebracht hat. Traditionell
wurden bei den fordistischen Großunternehmen der IT-Branche wie IBM, Digital Equipment,
Siemens oder Fujitsu alle wesentlichen Teile eines Computers noch im eigenen Hause
gefertigt, angefangen von den Mikrochips, der Hardware bis hin zu eigenen
Betriebssystemen, die nicht mit anderen Computersystemen kompatibel waren. In dieser
Form der Unternehmensorganisation basierten Wettbewerb und Unternehmenswachstum
auf einer starken vertikalen Integration und einer hohen internen Differenzierung zwischen
einzelnen Fachbereichen bei einer gleichzeitig hierarchischen Unternehmensstruktur. Die
Produktionsketten wurden von den Großunternehmern als Endfertigern gesteuert, deren
zentrale Kompetenz in der Produktion beziehungsweise in der Entwicklung proprietärer
Produktarchitekturen mit herstellerspezifischen Standards lag (vgl.
Naschold/Jürgens/Lippert/Renneke 1999: 8).
Die krisenhafte Entwicklung des fordistisch- tayloristischen Produktionsmodells, die sich
gerade in der Computerindustrie in immer schnelleren Preis- und Produktzyklen und
3
4. außerordentlich hohen Investitionskosten in Forschung und Entwicklung äußerte, ließen
selbst die Marktführer wie IBM in die Knie gehen und führten zu einem Bruch des alten
Produktionsmodells.
Schaubild 1
Das neue Paradigma industrieller Organisation für die Computerindustrie lässt einen
tiefgreifenden Prozess der vertikalen Desintegration erkennen, der die vertikale Struktur der
Branche durch eine horizontale ersetzt hat. Die einzelnen Systembestandteile von IT-
Geräten (zum Beispiel PCs, Router oder Server) wie Chips, Speicher, Festplatten und
andere Komponenten der Hard- und Software, der Systemfertigung oder auch Bereiche der
Distribution und des Vertriebs sind nunmehr jeweils eigenständigen, hochspezialisierten
Branchensegmenten zugeordnet, die lose miteinander verbunden sind. Dies wurde von
Michael Borrus und John Zysman (1997) mit dem Begriff des „Wintelismus“ bezeichnet, ein
Kunstwort, das sich aus dem bekannten Computerbetriebssystem Windows der Firma
Microsoft und Intel als dem wichtigsten Hersteller von Computerchips zusammensetzt. Man
denke nur an PCs von Markenherstellern wie HP oder Fujitsu-Siemens, die ihre Geräte mit
dem Verweis auf „Intel inside“ oder die Installation von Microsoft Windows als
Betriebssystem vertreiben, was verdeutlicht, dass bestimmte Komponenten faktisch den
Marktstandard definieren (Borrus 2000: 59). Es verweist darauf, dass die führenden
Unternehmen der einzelnen Branchensegmente quasi monopolistische Position einnehmen
und sich damit auch das Modell der Branchenkonkurrenz und der Marktkontrolle
4
5. grundlegend gewandelt hat. In einer zugespitzten Form wird um Produktdefinitionen und
Systemstandards konkurriert, die keine geschlossen proprietären Systeme mehr sind,
sondern als „open but owned“ bezeichnet werden können (Borrus/Zysman 1997).
Schaubild 2
Die wintelistische Industriestruktur impliziert damit zwei wichtige Neuerungen:
Erstens bildet sie eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Produktion nicht mehr
unangetastet als eine entscheidende Kernkompetenz gilt und die Produktentwicklung sich
somit von der Kompetenz in der Fertigung zunehmend entkoppeln konnte. Während Teile
der Fertigung sowie das Management der Beschaffungsketten von den Kontraktfertigern
übernommen wird, die ein neues horizontales Branchensegment bilden, sind es die
Markenunternehmen, die über die Technologieentwicklung und die Definition von Produkten
in Schlüsselsegmenten die Marktkontrolle ausüben. Dies impliziert auch eine räumliche
Entkoppelung von Innovation und Produktion, die zu einer weltweiten Neukonfiguration von
Produktions- und Entwicklungsstandorten geführt hat.
Zweitens haben sich durch die horizontale Neuorganisation der Branchensegmente die
ehemals integrierten Wertschöpfungsketten kommodifiziert. Das heißt, dass IT-Geräte aus
einzelnen Systemkomponenten zusammengesetzt sind, die als Waren von den einzelnen
Segmenten der Industrie auf dem Markt gehandelt werden. Ernst und O´Connor (ebd.)
beschreiben diesen Prozess als eine gleichzeitige Fragmentierung und Zentralisierung der
5
6. Wertschöpfungsketten (Ernst/O´Connor 1992). Damit verbunden ist eine Form ihrer
Steuerung, die nicht mehr, wie es in der Automobilindustrie zumindest in weiten Teilen noch
zutrifft, von den fokalen Großunternehmen als Endherstellern ausgeht, die über ihre eigene
Organisation die Wertschöpfungsketten beziehungsweise die Zuliefererbeziehungen
koordinieren (vgl. Sauer/Döhl 1994). Die wintelistisch fragmentierte Struktur der
Elektronikbranche mit netzwerkförmig verkoppelten eigenständigen Branchensegmenten
bildet also nicht nur eine Voraussetzung für eine neue Form der Steuerung und Koordination,
sondern auch für eine räumliche Neukonfiguration der Wertschöpfungsketten, die zur
Bildung von transnationalen Produktionsnetzwerken geführt hat. Eine wichtige technische
Bedingung hierfür ist die Informationstechnologie selbst, die Datenaustausch und
Kommunikation auch in räumlich entkoppelten Netzwerkstrukturen erleichtert.
1.2 Kontraktfertigung als Modell transnationaler Produktionsnetze
Nicht nur fabriklose US- Unternehmen wie Cisco und die traditionellen US-Konzerne der
Elektronikindustrie wie IBM, Lucent, Nortel oder Hewlett Packard folgten dieser strategischen
Neuorientierung, sondern bald auch die großen europäischen Konzerne wie Siemens,
Philips, Ericsson oder Alcatel. Seit Ende der 1990er Jahre lagerten auch sie Teile ihrer
Fertigung oder sogar ganze Produktlinien (wie PC oder Handys) an die bis dahin in Europa
fast gänzlich unbekannten Kontraktfertiger aus (Lüthje/Sproll 2002). Aus den ehemals
kleinen Kontraktfertigern wurden in wenigen Jahren große, transnational operierende
Konzerne, deren Betriebe mit moderner Technologie ausgestattet sind und weltweit einen
hohen Grad an Standardisierung aufweisen.
Sie sind dabei sowohl von traditionellen Zulieferern also auch von kleineren
Submontagefirmen oder „sweat-shops“ zu unterscheiden. Es handelt sich vielmehr um neue
Akteure, die als neues Segment in der vertikal desintegrierten IT- beziehungsweise
Elektronikindustrie große Teile der Fertigung für die Markenhersteller übernehmen, wobei
der Umfang der Dienstleistungen weit über die Lieferung von Geräteteilen und -modulen
hinausgeht. So verfügen sie nicht nur über umfassende technologische Ressourcen,
sondern übernehmen auch das Management des Fertigungsprozesses - einschließlich von
Teilen der Entwicklung und des produktionsnahen Engineering und der Logistik sowie das
Management der Supply Chain, also der Beschaffungskette (Einkauf, Materialwirtschaft). Je
nach Auftrag übernehmen sie auch die Distribution des Endproduktes direkt zum Endkunden
sowie Reparaturservices. Die Produktionsdienstleistungen beziehen sich zumeist auf die
automatische oder Handbestückung von Leiterplatten. Zum anderen sind Kontraktfertiger in
der Systemfertigung, dem sogenannten Box-build tätig, wo Geräte (wie Computer, Server,
Router, Handys, Spielekonsolen, Kartenlesegeräte für Banken oder Netzwerkschränke) an
Montagelinien überwiegend in Handarbeit zusammengebaut werden. Des Weiteren werden
6
7. auch nicht-elektronische Komponenten unter dem Dach der Kontraktfertiger hergestellt, was
insbesondere die Gehäusefertigung aus Metall- oder Plastikspritzgussteilen umfasst, sowie
die Herstellung von Netzteilen und Kabelsätzen. Welche Fertigungsdienstleistung von den
Kontraktfertigern und in welchem Umfang sie im Einzelnen erbracht wird, ist indes sehr
unterschiedlich und hängt von den jeweiligen Strategien der Auftraggeber, also der
Markenhersteller ab. Diese versuchten sich mit individuellen Modellen in der vertikal
desintegrierten Branchenstruktur zu positionieren, was die einen durch eine radikale
Auslagerung ganzer Produktlinien an die Kontraktfertiger, andere eher durch die Vergabe
von Teilproduktionen wie die Leiterplattenbestückung oder die Endkonfiguration
bewerkstelligten (vgl. Lüthje/Schumm/Sproll 2002: 58ff.).
Tabelle 1
Top Ten – Kontraktfertigungs-Unternehmen (EMS)
2005 2004 2005 2004
Unternehmen
Rang Rang Jahresumsatz Jahresumsatz
1 2 Foxconn $20,981 $15,811
2 1 Flextronics $15,582 $16,062
3 3 Sanmina-SCI $11,343 $12,484
4 4 Solectron $10,207 $11,630
5 5 Celestica $8,471 $8,839
6 6 Jabil $8,057 $6,575
7 7 Elcoteq $5,179 $3,899
8 9 Venture $3,238 $3,194
9 8 USI $1,621 $1,613
10 10 Benchmark $2,257 $2,001
Quelle: iSuppli Corp.
Die Kontraktfertiger wuchsen seit Mitte der 1990er Jahre in einem beeindruckenden Tempo.
Die Wachstumsraten lagen der Consultingfirma Technology Forecasters zufolge besonders
in den ersten Jahren um die 25% pro Jahr, die Jahreserlöse lagen dabei im Fall der
führenden Unternehmen Solectron und Flextronics nach deren eigenen Angaben bei etwa 10
Mrd. US-Dollar. Dieses außerordentliche Wachstum erklärt sich durch eine dezidierte Politik
der Akquise neuer Unternehmen und Geschäftsbereiche. Zum einen fielen den
Kontraktfertigern in rascher Folge ganze Betriebe ihrer Kunden zu, die im Zuge der
Neuorganisation der Branche ihre eigene Fertigung aufgaben oder reduzierten und selbst
Kernbetriebe auf neustem technologischen Stand an die Kontraktfertiger abtraten. Dabei
wurden oftmals Verträge über die Auftragsfertigung des Produktes für die Markenhersteller
über eine festgelegte Zeit abgeschlossen, während zeitgleich neue Produkte für andere
7
8. Kunden in den Betrieben angesiedelt wurden. Zum anderen erklärt sich das Wachstum
durch Unternehmenszusammenschlüsse und den Zukauf spezialisierter Unternehmen, unter
anderem im Bereich der Leiterplattenherstellung, des Designs, der Chipherstellung, des
Supply-Chain-Managements oder der Gehäusefertigung. Damit erweiterten sie ihr Know-how
und wurden immer mehr zu kompetenten Anbietern einer Rundumdienstleistung für die
Markenhersteller, die Timothey Sturgeon als Turnkey-Production bezeichnete (Sturgeon
1999). Den Kontraktfertigern, die anfangs auf die Computerindustrie beschränkt waren,
gelang außerdem der Eintritt in neue Segmente der Elektronikfertigung, vor allem in die
Telekommunikation, aber auch in zum Teil heiß umkämpfte Sparten wie die
Automobilelektronik oder die Medizin- und Industrieelektronik. Dabei ist ein
Konzentrationsprozess zu erkennen, in dem fünf bis 10 große Kontraktfertiger den Markt
weitgehend beherrschen.
Ein weiterer entscheidender Faktor für das starke Wachstum der Kontraktfertiger liegt in der
Expansion in die Niedrigkostenstandorte, die ab 1997 einsetzte. Nach dem Aufbau neuer
Betriebe für die Massenfertigung an Standorten des alten Südens der USA, wo es keine
Tradition gewerkschaftlicher Organisation gibt, wurden neue Betriebe in Lateinamerika (in
Mexiko und Brasilien, die in der vorliegenden Studie vorgestellt werden) sowie in Asien
(Malaysia und China) und Mittelosteuropa (besonders Ungarn, Polen, Tschechien,
Rumänien) eröffnet oder teilweise auch von Markenherstellern übernommen (vgl. Sproll
2003, Lüthje/Sproll 2004). Dabei entwickeln sich qualifizierte und komplexe
Fertigungsstrukturen, die eine neue Form der internationalen Arbeitsteilung hervorbringen,
die die besagten Regionen nicht nur als verlängerte Werkbänke in die Produktionsketten
integrieren, wie es etwa Fröbel, Heinrichs und Kreye (1977) in den 1970er Jahren für die
Neue Internationale Arbeitsteilung in den 1970er Jahren beschrieben. Zunehmend werden
auch höherqualifizierte Fertigungsprozesse sowie Teile der Produktentwicklung in Ländern
der „Dritten Welt“ realisiert. Den Kontraktfertigern kommt eine Vorreiterrolle für diesen
Prozess zu, in dem sie entlang der hochgradig fragmentierten Wertschöpfungsketten ganz
unterschiedliche Bedingungen der Akkumulation und der Verwertung von Arbeitskraft an den
unterschiedlichen Standorten koordinieren. Dabei stehen auch die einzelnen Standorte der
Kontraktfertigungsunternehmen in den verschiedenen Regionen untereinander in einem
harten Wettbewerb um neue Aufträge. Das neue Produktionsmodell zeigt an dieser Stelle,
dass die Form der Konkurrenz sich nicht nur bezogen auf Produktdefinitionen und
Marktkontrolle, sondern auch in Bezug auf die Konkurrenz zwischen den einzelnen
Standorten verändert und verschärft hat und damit auch einen erheblichen Druck auf den
Arbeitsprozess und die Arbeitsorganisation, die Entlohnung und die
Beschäftigungsverhältnisse geschaffen hat. Ökonomische Prozesse wie die Restrukturierung
der Elektronikbranche sind also immer auch verbunden mit politischen und sozialen
8
9. Veränderungsprozessen an den konkreten Orten, was ich in dieser Arbeit für die Standorte
in Brasilien und Mexiko ausführlich darstellen werde3.
Schaubild 3
Global locations Flextronics International, 2000
Diese Konkurrenz hat sich besonders im Zuge des Konjunktureinbruchs in der weltweiten
Elektronikindustrie zugespitzt, die Ende 2001 mit dem Niedergang der New Economy zur
historisch tiefsten Krise in der IT-Branche geführt hat. Dies hatte auch für die Kontraktfertiger
weitreichende Konsequenzen, doch der Rückgang ihrer Umsätze ging keineswegs so weit,
wie es zu vermuten war. Denn unter dem Druck der Krise wurde der Prozess des
Outsourcing von Produktion durch die Markenhersteller an die Kontraktfertiger sogar
beschleunigt. Im Zuge dieser Entwicklung stieg etwa IBM ganz aus der Fertigung von PCs
aus und verkaufte weltweit alle Werke, in denen PCs hergestellt wurden an einen der
größten Kontraktfertiger, Sanmina-SCI, um nur ein Beispiel zu nennen. Damit erhielten die
Kontraktfertiger eine wichtige Rolle im Krisenmanagement der IT-Industrie, indem sie nicht
nur verstärkt die Risiken in einem schwankenden Markt übernahmen, sondern auch zu
einem Ventil für das große Problem der Überkapazitäten wurden. Dieses Problem war ein
entscheidender Katalysator für die Krisendynamik im IT-Sektor, der die schnellen Produkt-
3
Zu der Dynamik der internationalen Arbeitsteilung in der Elektronikindustrie, den global-regionalen
Standortstrategien und der Arbeitspolitik der Kontraktfertiger in Asien und Mittelosteuropa siehe
Hürtgen/Lüthje/Schumm/Sproll im Erscheinen.
9
10. und Preiszyklen von IT-Geräten anheizte. Daran wird deutlich, dass das Produktionsmodell
auf einer höchst instabilen Verfassung der Wertschöpfungsketten beruht und sich daraus
auch eine ständige Dynamik der Krise und des Wandels ergibt.
Die Kontraktfertiger reagierten auf die Krise im Jahr 2001 ebenfalls mit einer Strategie der
weltweiten Restrukturierung, die sich vor allem in Entlassungen und Betriebsschließungen
äußerte, die besonders die alten Industriestandorte in den USA und Europa betrafen. Damit
wurde der Trend zur Verlagerung in die Niedrigkostenstandorte in Asien, Mittelosteuropa und
Lateinamerika verstärkt, der allerdings nicht gleichmäßig vonstatten ging. Es setzte unter
dem Eindruck der Krise eine richtige Verlagerungswelle von Produktionsaufträgen in die
neuen Betriebe in China ein, während die Kontraktfertigung in Mittelosteuropa und
Lateinamerika, vor allem in Mexiko, einen empfindlichen Rückgang erlebte, bis die Standorte
mit der Erholung der Konjunktur wieder neuen Auftrieb erhielten. Im Zuge des
Krisengeschehens traten auch die eingangs erwähnten Original Design Manufacturer (ODM)
in das Feld der Kontraktfertigung, die aufgrund ihrer langjährigen Kompetenzen in Design
und Fertigung den EMS (Electronics Manufacturing Services)- Unternehmen starke
Konkurrenz im Kampf um die Aufträge der Markenhersteller machten. Einer der asiatischen
Akteure, der taiwanesische Konzern Hon Hai Precision trat unter dem Namen Foxconn
ebenfalls in das EMS-Geschäft ein und konnte mit einer Wachstumsrate von 46% im
Zeitraum von 2006 bis 2008 in kurzer Zeit zur Weltspitze aufsteigen (Deffree 2008).
Der Trend zur Auslagerung der Produktion ist nicht beendet, er hat sich allerdings
verlangsamt. Die Markenhersteller haben ihre Strategien diversifiziert und so haben sich
auch die Kooperationsmodelle mit ODM und EMS-Unternehmen oder auch mit anderen
Markenherstellern ausdifferenziert. Insgesamt hat sich das Modell Kontraktfertigung jedoch
gefestigt, was nicht zuletzt die folgenden Zahlen der Electronic News belegen: Auch in 2007
wuchs die EMS-Industrie mit einer Rate von 17% und erwirtschaftete Erlöse von 268 Mrd.
US-Dollar. Während die ODMs noch höhere Wachstumsraten von 23% aufweisen, liegt der
Anteil der EMS-Unternehmen am Kontraktfertigungsgeschäft aber immer noch bei 60%
(Deffree 2008).
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