Grenzverschiebungen: Zwangsmigration und Flucht von Polen, Deutschen und Tsch...
OWN WRITING Gazette 17 Katharsis und Neubeginn
1. Europäische Union
Katharsis und Neubeginn
von Harry U. Elhardt
Der Friede kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische
Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.
(Robert Schumann, Erklärung vom 9.Mai 1950)
Renationalisierung
Europa ist in akuter Gefahr. Martin Schulz, der Präsident des
Europäischen Parlaments, der sein “ganzes politisches Leben
in Europa investiert hat,” wie er selbst sagt, wurde Ende
April in einem Politico-Interview deutlich: “Selten zuvor,”
gab er zu Protokoll, war er solch “blankem Zynismus der
Nationalstaaten ausgesetzt.” Dies manifestiere sich in
unerbittlicher Art in der Flüchtlingskrise, die von den
nationalen Regierungen benutzt werde, um aus taktischem
Kalkül heraus, nationalistische Ziele zu verfolgen.
Von London über Stockholn nach Warschau und weiter bis
Budapest und Wien verhöhnen nationale Regierungen die
Europäische Union; unilateral wie kollektiv im Europäischen
Rat vernichten sie die sittlichen Werte Europas, indem sie
die in der „Verfassung“ Europas, dem Vertrag über die
Europäische Union, niedergelegten Grundrechte Artikel um
Artikel tilgen - zum Ergötzen und Gaudium ihres nationalen
Pöbels.
„Es sind die nationalen Regierungen und niemand sonst,”
macht Martin Schulz seinem Zorn und seiner Enttäuschung
Luft, „die Asylrecht verweigern, die Menschenwürde
geradezu im wörtlichen Sinne in Dreck und Unrat der Camps
einpferchen und hinter Zäunen aus Rasierklingendraht
gefangen halten.“ Der Parlamentspräsident betont dabei
wieder und wieder, dass man mit Gemeinsamkeit, von
Solidarität mag man angesichts der Entwicklungen seit mehr
als anderthalb Jahren nicht einmal zu denken wagen, die
Flüchtlingskrise längst hätte hingekriegt. „Aber die natio-
nalen Regierungen haben bislang jede europäische Lösung
torpediert. Sie sind für das jämmerliche Elend der
Flüchtlinge und die bedrohliche Lage der Europäischen
Union verantwortlich - nicht Brüssel!”
2. Letzteres war auch an deutsche Medienmenschen gerichtet,
deren hirnlose Mantra vom ‘Versagen der EU’ landauf,
landab gehört, gesehen und gelesen wird.
Hinter der Obstruktion der Nationalstaaten einerseits und
der damit verbundenen Aushebelung europäischer
Grundwerte andererseits verbirgt sich das eigentliche Motiv
dieses, wie Martin Schulz es nennt, beispiellos “zynischen,
nationalen Handelns:” Es ist dies die Renationalisierung von
Politik.
Bespielsweise ist die Renationalisierung von Politik für die
Brexit-Briten nicht mehr und nicht weniger als der Weg zur
“Wiedererlangung nationaler Souveränität.” Und genau das
will das Millionenheer von Europagegnern im Land,
angeführt vom gerade erst als Lononer Bürgermeister
abgelösten Boris Johnson, durch das Referendum am 23.
Juni schaffen.
Renationalisierung von Politik führt jedoch unausweichlich
zu Abschottungseffekten. Dabei werden Prozesse der
Trennung in Gang gesetzt, die letztlich in die Isolation
führen und selbst den Stärksten verletzlich machen. Für
Johnson und seine Renegaten, die sich unverdrossen und
entschlossen ins 19. Jahrhundert aufmachen, ist es die
Verheiβung einer „splendid isolation.“
Im real existierenden Europa werden dabei aber Grenzen
neu definiert und wie mit Schleusen an einem Raumschiff
gesichert; danach dockt man ab und bringt rasch Distanz
zwischen sich und die anderen; dann sieht man das ehemals
Vertraute mit anderen Augen; nun erscheint es fremd und
nicht lange danach – feindlich.
Wer diesen Endzustand zum Staatsziel proklamiert, wie es
Brexit-Briten aber auch und vor allem die Polen und Ungarn
aggressiv und lauthals tun, geht zur europäischen Politik der
Integration und des Miteinander ganz bewuβt auf
Konfrontationskurs.
Diesem dezidiert anti-europäischen Kurs, der sich in der
bislang aggressivsten Form von Renationalisierung äuβert,
sind Frauke Petrys AfD, die Partei der Freiheit von Geert
Wilders, Norbert Hofers Freiheitlichen und Martine Le Pens
Front National innigst verbunden. Dass man kein Europa,
3. keinen Euro will, ist so neu nicht; auch dem Seehofer Horst
und den Seinen ist diese Haltung nicht fremd.
Neu ist hingegen, dass man die Europäische Union als eine
den nationalen Interessen feindlich gesinnte Macht begreift,
sie als solche deklariert und somit entweder aus dem
Einzugsbereich jener feindlichen Macht raus - der Freiheit
entgegen - oder sie bekämpfen will.
Als Randbemerkung: Was dem Betrachter nebenbei auffällt,
ist die all den Genannten gemeinsame Betonung von
‚Freiheit.‘ Für Adolf Hitler war dies ein propagandistisches
Leitmotiv seit seines schriftstellerischen Ejakulats, „Mein
Kampf.“ Der Reichsparteitag von 1935 ging dann ja auch als
„Parteitag der Freiheit“ in die Geschichte ein.
Aus der europäischen Geschichte des ausgehenden 19. und
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennt man auch die
Zwänge - wenn nicht, dann tut es nicht weh, deren
Bekanntschaft zu machen - der eigenen Bevölkerung
Trennung und Isolation wie eine doppelköpfige,
heilsbringende Monstranz vorzuführen. Wunder an sich muβ
man zwar keine vollbringen. Es ‚genügt‘ der Nachweis von
der Überlegenheit des eigenen Systems, des eigenen Volks.
Die “zutiefst beunruhigenden Folgen” eines solchen
Systemzwangs hat Martin Schulz erkannt - und nicht nur
er.
Mario Monti, Präsident der Bocconi-Universität von Milan
und von 2011 bis 2013 der 54. Premierminister Italiens und
davor, von 1995-2004, beinahe zehn Jahre Mitglied der
Europäischen Komission mit Zuständigkeit für Binnenmarkt
und Wettbewerb (1995-2004), wird recht deutlich. Er
spricht von “moralisch korrupten” nationalen Führern, die
im Stande seien, Europa zum Einsturz zu bringen. Dabei
schlieβt er eine dem aufstrebenden Nationalismus
innewohnende Gefahr nicht aus: Eine Neuauflage von
Europas gewalttätiger Geschichte aus der ersten Hälfte des
vergangenen Jahrhunderts, dessen Kriege Europa zerfetzten.
Im gegenwärtigen Szenario sind für Monti und für „Alle, die
Europa mit Verstand beobachten,“ nur die Kommission,
Europäischer Gerichtshof oder Europäische Zentralbank die
authentisch europäischen institutionen. Sie sind
gewissermaβen die „Gralshüter“ Europas. Denn sie allein
sind es, deren Sinn und Zweck, ja deren ganze
4. Daseinsberechtigung und die Zielsetzung ihrer Arbeit
ausschlieβlich europäisch sind. Der Vertrag über die
Europäische Union, die ‚Verfassung Europas‘, bildet das
Fundament, über dem sich ihre administrative, legislative,
juristische und finanzpolitische ‘Architektur’ erhebt. Selbst-
redend ist das Personal dieser genuin europäischen Insti-
tutionen auf die ‚Verfassung Europas‘ vereidigt. Dass man
dabei multikulturell, multi-ethnisch und polyglott geprägt ist
und dabei die nationalistische Haut, falls man sie je hatte,
längst abgestreift hat, ist Bestandtei ihrer DNA.
Dort ist Europa daheim, dort stemmt man sich den groβen
Krisen und Zerreiβproben entgegen - wieder und wieder.
Rechtsruck im Parlament
Wer MdEP werden will, muβ sich an die national
aufgestellten politischen Parteien halten. Dort und nur dort
bekommt man, was nötig ist: organisatorische und finan-
zielle Unterstützung. Es ist eine Abhängigkeit, die an sich
schon Loyalität stiftet, auch ohne nationalistisches
Glaubensbekenntnis. Wenn man sich dann noch vor Augen
führt, wie pekuniär lohnend eine Legislaturperiode für ein
MdEP sein kann - darüber berichtete die Gazette, No. 31,
2013 - dann hat die Kandidatenbindung an die eigene
nationale Partei und deren Ziele nicht nur in ideeller
Hinsicht einen starken Nennwert. Das heiβt aber auch:
Europa ist nicht notwendigerweise das hehre Ziel legislativen
Schaffens eines MdEP.
Bei den Wahlen zum Europaparlament vom Mai 2014 haben
die Rechtsnationalisten - darunter AfD, Marine Le Pens
Front National, UKIP, Camerons Conservatives und die
Enthemmten aus Polen und Ungarn - insgesamt 118 von 751
Sitzen oder rund ein Sechstel der Stimmen gewonnen. Aus
Sicht der etablierten Demokraten ein Ergebnis, mit dem man
leben kann: Zwei Monate später, am 15. Juli, stimmten 422
Abgeordnete - 376 waren zur absoluten Mehrheit
erforderlich - in einer wahrlich historischen Wahl für Jean-
Claude Juncker als neuen Präsidenten der Europäischen
Komission. Eingedenk des ungebrochenen Vormarsches der
Rechtsnationalisten ist allerdings absehbar, dass bei der
nächsten Europawahl im Mai 2019, ein solches Ergebnis
Nostalgie wäre. Projektionen zufolge rechnet man mit einer
Verdoppelung der Sitze im ultrarechten Lager. Eine
Wiederwahl Junckers würde es damit nicht mehr geben.
5. Im Jahre 2009 erlieβ der damalige Oppositionsführer im
House of Commons, David Cameron, eine ‘Sezessionsorder’
für seine Tories im Europaparlament. Derzufolge mussten
sie die Fraktion der europäischen Konservativen, die EVP
(Europäische Volkspartei) unverzüglich verlassen.
Seit jenem ‘Abdocken’ vor sieben Jahren distanzierten sich
die britischen Konservativen zunehmend von vormals Ver-
trauten, wie den deutschen Christdemokraten oder den
französischen, italienischen, spanischen Konservativen in
der EVP. Und im Zuge der Brexit-Debatten, die selbstredend
auch im Europäischen Parlament hochkochten, ist man sich
mittlerweile ziemlich fremd.
Freundschaftliche Beziehungen hingegen entwickelten die
Tories mit den nationalistischen Ultras. Mit denen sitzt man
nun ‚Backe an Backe‘ im gemeinsamen rechten Block und
stänkert in geschlossener Front gegen Europa. Es geht
hörbar folkloristisch zu und ganz vernehmlich stört man sich
auch nicht mehr am Rotwelsch der Polen. Denn wie man den
zerebralen Flatulationen des Boris Johnson entnehmen
kann, sind die Duftnoten kaum noch zu unterscheiden.
Charade und Zynismus im Rat
Der Justus-Lipsius-Bau beherbergt das Consilium – so
steht‘s am Ausgang der Metrostation Schumann im Zentrum
der Europäischen Institutionen, wo auf einer der
unterirdischen Etagen auch der ICE hält. Die Einschätzung
des Rats oszilliert oft zwischen Konklave und Kampfbahn.
Für Mario Monti, der den Rat seit nunmehr 30 Jahren kennt
und so manche Metamorphose dieser Institution beobachten
konnte, hält seine Charakterisiung des Rats als Hort der
„Zyniker und moralisch Korrupten“ für gerechtfertigt.
Dafür macht Mario Monti, der im richtigen Leben
anerkannter Nationalökonom ist und sich mit Helmut
Schmidt vermutlich gut verstanden hätte, die aus den USA
wie eine Heuschreckenplage eingefallene Finanzkrise von
2008 ursächlich verantwortlich. Mit deren Folgen hat
Europa immer noch zu kämpfen. Und eine der Folgen ist
dabei der Aufstieg des Rats zur letztlich allein
entscheidenden Instanz über Wohl und Wehe von 500
Millionen Europäern.
6. Dass das so gekommen ist, dafür sorgte, wie eigentlich
immer, die Macht des Geldes.
Um die Finanzkrise bewältigen zu können, um ganze
Volkswirtschaften der Eurozone – dem Kern Europas - vor
dem Kollaps zu bewahren, mussten gigantische Geldmittel
eingesetzt werden, wie sie die Europäische Union mit ihrem
Schnürsenkelhaushalt niemals aufgebracht hätte. Die
Rettungsschirme für Banken, den Finanzsektor insgesamt
und die Jahre währende Sicherung von Volkswirtschaften in
der Eurozone - immerhin 19 von 28 europäischen Ländern -
mussten also von den erfolgreichen Volkswirtschaften für
das Bonum Commune Kerneuropa, die Eurozone,
aufgespannt werden. Niemand sonst hätte das gepackt.
Hier muβ man Jenen eine Lanze brechen, die diese gewaltige
Aufgabe gestemmt haben: Deutschland und Frankreich als
Motoren des von Polen und Ungarn unerbittlich bekämpften
Kerneuropa, und der damalige Chef der Eurozone und
heutige Komissionspräsident, Jean-Claude Juncker. Man
hatte die Aufgabe angenommen, ohne dass es hierfür eine
vertragsrechtliche Verpflichtung gab - auch heute noch nicht
gibt – wie man sie vom Länderfinanzausgleich aus der
deutschen Verfassung her kennt. Nein, die Kerneuropäer
haben diese Aufgabe geschultert, weil sie ein Gebot der
Vernunft war.
Zur Zeit stellt man erfreulicherweise fest, dass Kerneuropa -
die Eurozone - mit einem für das gesamte Jahr 2016
vorhergesagten Wachstum von 1.6% rechnen kann. Nach
Jahren der Kontraktion nähert man sich nun wieder den
guten Wirtschaftsdaten vor der Krise an.
Deutschland ist der Wachstumsmotor in dieser positiven
Entwicklung, die nur eingetrübt ist durch die Unsicherheit
über den Ausgang des Brexit-Referendums. Ein Exit der
Briten würde nach übereinstimmender Ansicht der
Ökonomen zumindest vorübergehend zu einem Abbruch des
Wirtschaftswachstums in der Eurozone führen; davon wären
dann vor allem die schwächeren Länder hart betroffen. Ein
Szenario, das nach Berichten des Guardian, nur die
Hedgefund-Zocker begeistert, die sich deshalb auch für
einen Auszug aus Europa stark machen. Unsicherheit ist
schlieβlich eine ideale Bedingung für Wetten und short
selling.
7. Das Wort Mario Monties von den moralisch Korrupten trifft
hier punktgenau.
An diesem Punkt könnte man die deutsche Kanzlerin und ihr
vitales Interesse am Verbleib der Briten in Europa besser
verstehen. Auch der Charakter des Rats als Arena von
Schuldnern und Gläubigern tritt nun etwas greller beleuchtet
in den Vordergrund. Allerdings: Die Europäische Union mit
ihren Grundwerten ist als Fluchtpunkt in der Architektur
dieser Institution verschwunden.
Beim Gipfel vom 18.-19. Februar machte Donald Tusk in
seiner Rolle als Oberfixer, nominell Präsident des Rats, klar
wohin die Reise ging. Er präsentierte einen redigierten
Vertragstext, in dem er die „immer engere Union,“ das
politische Ziel Europas, schlichtweg getilgt hatte. Ob auf
Anweisung oder auf Eigeninitiative wird sich wahrscheinlich
nicht mehr feststellen lassen. Wie auch immer, der von Tusk
vorgelegte, redigierte Text ist “rechtlich verbindlich und
irreversibel,” so steht’s im Wortlaut, und damit besitzt er
Gültigkeit für Alle.
Der Ausspruch des flämischen Journalisten vom Standaard
klingt noch nach, der an diesem Tag davon sprach, dass der
Rat „hier und heute Europa seinen Sinn gestohlen“ habe.
Cameron, der britisch-konservative Nationalist, wollte das.
Er begründete seine Forderung mit dem Argument, dass er,
„um Groβbritannien in Europa halten zu können mit diesem
Text den Anti-Europäern im eigenen Land beweisen könne,
dass Groβbritannien niemals einer politischen Union
Europas angehören werde sondern nur vom groβen 500-
Millionen Konsumenten umfassenden europäischen Markt
als EU-Mitglied ohne Pflichten weiterhin profitieren werde.
Sein Marketingansatz für das Brexit-Referendum am 23.
Juni: „The best of both worlds for Britain.“
Des Pudels Kern.
Und weil’s so gut lief, gab’s noch eine Zugabe, indem die
„Delete“-Taste noch schnell mal die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer wegdrückte. Vom Wesen Europas noch ein
Stück mehr im Abfalleimer.
Cameron geht gestärkt ins Referendum.
8. Es wäre schon paradox, wenn die Abstimmung am 23. Juni
pro-Europa ausgehen sollte aufgrund eines Textes, der
seinem Inhalt nach anti-europäisch ist. Ein solch eher
dialektisch anmutendes, kühl kalkulierendes Procedere passt
dabei eher zu Protagonisten, die sowas öfter mal aus der
„Lamäng“ schütteln, um das mal so locker im verballhornten
Französisch des preuβischen Offizierskasino auszudrücken.
Aber, um vom Kaffeesatzlesen zur Klarheit zu gelangen: Seit
dem 1. November 2014 erfordern Entscheidungen dieser Art
die qualifizierte Mehrheit, die man auch als doppelte
Mehrheit kennt: 55% der Mitgliedsländer (16 von 28) sowie
65% der von den Regierungen dieser Länder repräsentierten
EU-Bevölkerung (ca. 325 Millionen). Man kann also getrost
davon ausgehen, dass zumindest die „Groβen“, nämlich
Merkel, Hollande und Rienzi, die Gefahr eines Austritts
Groβbritanniens als weitaus bedrohlicher für den
Fortbestand der EU betrachteten, und deshalb gemeinsam
mit Briten und Polen den anderen Regierungschefs zur
Zustimmung rieten. Vielleicht stammt er ja sowieso aus
deren gemeinsamer, redaktionellen Arbeit.
Letztlich hatte der von den nationalen Regierungen abgeseg-
nete neue Vertragstext den Charakter einer Absolution des
galoppierenden Nationalismustrends. Und der ist fatal und
potenziell böse.
Der Hort des Bösen
In Ungarn regiert Viktor Orbán seit den Parlamentswahlen
von 2014 an der Spitze eines ultranationalistischen Bünd-
nisses mit mehr als zwei Dritteln der Sitze (156 von 199).
Darüber hinaus gewann Orbáns Fidesz alle 20 Wahlkreise in
Ungarn. Aufgrund dieser Mehrheiten wurde nun die
ungarische Verfassung widerstandslos umgeschrieben - nur
die Komission erhob Einspruch.
In Polen hält Jaroslaw Kaczyński die Macht in Händen wie
ein Ayatollah. Er zieht auβerparlamentarisch die Strippen,
ordnet an, befiehlt, entwirft höchstselbst Gesetze, die
inzwischen die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts
abgeschafft sowie Grundrechte, deren Schutz Sinn und
Zweck eines Verfassungsgerichts ist, auβer Kraft gesetzt
haben. Die absolute Parlamentsmehrheit seiner Partei, PiS
(Prawo i Sprawiedliwość, zu deutsch Recht und
Gerechtigkeit), die Regierung unter der willfährigen Beata
9. Szydło, sowie der als Staatspräsident posierende Andrzej
Duda als fleischgewordener Unterschriftenautomat sichern
seine Macht. Kaczyński hat die Herrschaft des Rechts in
Polen de facto abgeschafft und Unrecht legalisiert.
Und auf den Straβen Warschaus veranstaltet die PiS
Aufmärsche, die der Einschüchterung bestimmter, von
Kaczyński identifizierter „Feindpersonen“ dienen.
Tomasz Lis, Chefredakteur von "Newsweek Polska," ist eine
der verbliebenen Stimmen der freien Meinungsäuβerung.
Dazu schreibt er noch für ein ausländisches Blatt mit
jüdischem Eigentümer, Sydney Harmann, was den um
judenfeindliche Absonderungen selten verlegenen Kaczyński
und Clacqeuren so gar nicht passt. Lis ist eine ideale
Feindperson. Bei einem Aufmarsch der PiS trugen deren
“Sturmabteilungsmänner” einen toten Fuchs zur Schau -
mit breitem Grinsen. Der Familienname des Newsweek-
Chefredakteurs, Lis, bedeutet ‘Fuchs’ auf deutsch.
Jean-Claude Juncker wollte und will das alles nicht
hinnehmen und hat daher eine Untersuchung rechtlicher
Verfahren gegen Polen angeordnet, die im Januar Günter
Oettinger, Komissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft,
und Frans Timmermanns, Komissar für Rechtstaatlickeit
und Grundrechte, im Europäischen Parlament in
Anwesenheit der polnischen Regierungschefin, verkünde-
ten. Guy Verhofstadt, der Chef der Parlamentsliberalen, rief
der Polin bei diesem Anlaβ zu: „Wenn Polen heute einen
Antrag auf Mitgliedschaft in Europa stellen würde, hätte es
keine Chance.“
Die Prinzipien einer offenen Gesellschaft, so wie sie in der
EU westlich von Oder und Neiβe vorgelebt werden “haben in
Polen keine Wurzeln” sagt Osteuropakenner George Soros,
der 1944 dem Holocaust entfliehen konnte. “Dort fürchtet
man die offene Gesellschaft,” führt er weiter aus. Und auch
das gibt er zu bedenken: “Polen ist ethnisch und religiös das
homogenste Land in ganz Europa. Ein muslimischer Ein-
wanderer ist dort die Fleischwerdung des Anderen. Und
dieser Andere verkörpert das Böse. Dass der so wahr
genommen wird, ist Kaczyńskis Werk. Er hat diesen Anderen
unablässig als Teufel gebrandmarkt.”
Dort also wabert der Geist umher, der ausgrenzt und zer-
stört, der nur im Trennenden sich selbst verwirklicht und
10. alles, was anders ist, das Fremde, erbarmungslos verteufelt
und mit Haβ verfolgt.
Die Verquickung von Verweigerung in der Flüchtlingsfrage
mit zunehmendem, nationalistischem Fanatismus ist eine
reale Gefahr für das in der Menschheitsgeschichte einmalige
“Friedensprojekt Europa,“ was den aus Argentinien stam-
menden Jorge Mario Bergoglio zutiefst beunruhigt.
Bergoglio ist Bischof von Rom und in diesem Jahr Träger des
Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen.
Papst Franciscus, so kennt ihn die Welt, nahm den Preis im
prunkvollen Sala Regia, quasi dem Vorzimmer zur
Sixtinischen Kapelle, im Apostolischen Palast in Rom am 6.
Mai 2016 entgegen.
Appell an die Erben der Aufklärung
Der Ort der Zeremonie war auβergewöhnlich, denn tradi-
tionell findet die Preisverleihung im Aachener Rathaus statt.
Aber die offizielle päpstliche Residenz im Vatikan war eine
gute Wahl. Dort geriet die zeremonielle Preisverleihung zu
einer Hommage an den Pontifex.
Zurecht, denn er ist geachtet, vielerorts bewundert, wie kein
anderer vor ihm auf dem Stuhle Petri.
In guter Erinnerung ist seine Rede vor dem Plenum des
Europäischen Parlaments im vergangenen November, als
Franciscus die Umsetzung der Grundwerte und Ziele der
Europäischen Union im Angesicht von Flüchtlingselend und
nationalistischem Egoismus leidenschaftlich einforderte.
Mit sicherem Gespür für die Gefahr, die der Europäischen
Union in diesen Tagen durch nationalistischen Fanatismus
droht, beschwor Franciscus in seiner Dankesrede “die Seele
Europas.” Dabei nannte er die Tradition von Aufklärung und
Humanismus, die Kreativität, die Toleranz und den Geist,
der Kraft und Mut verleiht, “...aus den eigenen Grenzen
hinauszugehen, sich in freier Entscheidung für das
Gemeinwohl zusammen zu schlieβen und dabei für immer
darauf zu verzichten, sich gegeneinander zu wenden.”
Vor etwas mehr als 60 Jahren brachte Robert Schumann
diesen Mut auf, als er gerade mal fünf Jahre nach dem Ende
des fürchterlichsten aller Kriege seine französischen
11. Landsleute mitnahm auf den Pfad zu Aufklärung und
Vernunft. Sein Plan der Vernuft sah vor, das “Arsenal des
Krieges,” wie man den bis dahin argwöhnisch behüteten
Nationalschatz von Kohle und Stahl kannte, gemeinsam mit
dem ehemaligen Kriegsgegner Deutschland zu kontrollieren
und zu verwalten. Und das Parlament in Paris stimmte dem
zu.
In der schlieβlich gemeinsam mit Konrad Adenauer auf den
Weg gebrachten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und
Stahl (EGKS) wurde gleichberechtigtes Teilhaben und
Mitbestimmen institutionaliert. Papst Franciscus erinnerte
in seiner Rede daran und mahnte eindringlich: „Gerade jetzt,
in dieser unserer zerrissenen und verwundeten Welt, ist es
notwendig, zu dieser Solidarität der Tat zurückzukehren, zur
selben konkreten Großzügigkeit, die auf den Zweiten Welt-
krieg folgte.“
Das haben an diesem 6. Mai 2016 wohl Alle begriffen im
Palast des Papstes mit der möglichen Ausnahme des proto-
kollarisch höchsten Repräsentanten der EU, dem als Präsi-
dent des Rates eingeladenen Polen Donald Tusk. Denn dem
fiel nichts besseres ein, als die “Warmherzigkeit und Gast-
freundschaft” seiner polnischen Landsleute zu preisen, die
der “Heilige Vater bei seinem anstehenden Besuch Polens”
erleben werde.
Quo Vadis, Europa?
Der Präsident der Europäischen Komission, Jean-Claude
Juncker, und der Präsident des Europäischen Parlaments,
Martin Schulz, sprachen eindringlich und emotional, was
sich dem Betrachter und Zuhörer der Aufzeichnung weit
entfernt vom Geschehen mitteilte. Aus ihnen sprach groβe
Sorge um das Friedenswerk Europa, zu dem sie - was nicht
so übertrieben ist, wie es vielleicht klingen mag - eine
symbiotische Beziehung haben. Dieses Europa ist ihr Leben.
Und Beide sprachen so bewegend vom Wesen und der Seele
Europas – als wenn’s ein Schwanengesang wäre.
Bei Jean Claude-Juncker war die Rede von der “bewussten
Entscheidung für das Gegenteil dessen, was die Generation
unserer Eltern erleben musste;” von dem “gelebten Bekennt-
nis zur Würde des Menschen, zum Miteinander, zu sozialem
Frieden, zu sozialer Gerechtigkeit und für den Ausgleich
12. zwischen den Menschen und den Völkern, und für
Flüchtlinge, vor denen wir keine Angst haben sollten.”
Eine solche Hinwendung zum Miteinander ist gleichbe-
deutend mit der Hinwendung zur Vernunft, zur europä-
ischen Tradition der Aufklärung. „Wir sind die Erben der
Aufklärung,” so sagte er trotzig und stolz.
Martin Schulz warnte vor der Gefahr, “dieses Erbe zu
verspielen.“ Denn nationale Egoismen, Renationalisierung,
Kleinstaaterei seien auf dem Vormarsch und trieben ihr
böses Spiel, was inzwischen vielfältig dokumentiert ist. „Mit
welcher Geschichtsvergessenheit wollen Manche 25 Jahre
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder Mauern und
Zäune in Europa errichten und damit eine unserer größten
europäischen Errungenschaften gefährden - die
Freizügigkeit? Wie können jene Regierungschefs sich
weigern, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen mit der
Begründung, man sei ein christliches Land?”
Nach diesen Römer Erklärungen kommt innere Unruhe auf.
War’s das? Geht’s weiter mit Europa und vor allem wie?
Katharsis und ‚Reset‘
Was in Rom keiner öffentlich ansprach: Das Europa der
Aufklärung ist im wesentlichen mit Kerneuropa, der
Eurozone, identisch. Dort ist die Seele dieses Europa noch
intakt, das Papst Franciscus und die Präsidenten von
Komission und Parlament, Juncker und Schulz, beschworen.
Und dieses Kerneuropa, diese Eurozone, muss umgebaut
oder auch zurückgebaut und neu aufgestellt werden.
Da es sich um ein Projekt Eurozone handelt, muss sicher
gestellt sein, dass die entsprechenden Vorschläge für
Retrukturierungsmaβnahmen nicht dem Rat vorgelegt
werden, wo Polen und Briten jede Gelegenheit ergreifen
würden, das Projekt Eurozonenrestrukturierung schon im
Ansatz zu Fall zu bringen; auch das Parlament wäre der
falsche Ort.
Kurz: Neue Foren müssen her.
Aus Paris wird seit gut und gern zwei Jahren über ein
Eurozonenparlament debattiert, was inzwischen in die
Editorials des Guardian oder auch die Besprechungen der
New York Review of Books einfloβ. Man bespricht
13. konstitutive, rechtliche Modalitäten, die allesamt in den
Prinzipien der Demokratie zuhause sind.
In diesen Debatten fehlt auch nicht die immer detaillierter
werdende Diskussion über die gerechtere Verteilung von
Volkseinkommen, der dynamischen Partizipation am
ökonomischen Geschehen und der Reform des Steuern- und
Abgabensystem. Immer im Blickfeld: Die Harmonisierung
für die gesamte Eurozone, um den zum jetzigen Zeitpunkt
noch bestehenden und die Eurozonenländer geradezu
schwindsüchtig machenden Irrsin von 19 verschiedenen
Zinssätzen, auch bei Körperschaften, abzuschaffen. Die
unterschiedlichen Zinssätze nützen nur den Spekulanten
und Hedgefund-Zockern von der Londoner City und der
Wall Street. Ökonomen wie Paul Krugman, Mario Monti
oder Thomas Piketty sind sich dessen sehr bewuβt.
Bei der Schuldenbekämpfung hat die EZB, eine der
authentisch europäischen Institutionen und ein Zentrum der
Eurozone mit ihrer Politik der Versorgung der Märkte mit
gröβeren Geldmengen - aufbauend auf dem 700 Milliarden-
Budget des Stabilitätsmechanismus - die richtigen Weichen
gestellt. Der Effekt der EZB-Maβnahmen war eine Soziali-
sierung der Schulden in der Eurozone. Aber gerade das hat
eine Gruppe selbstherrlicher deutscher Akademiker so
erregt, dass sie die EZB inszwischen vor das Verfas-
sungsgericht in Karlsruhe zerrten.
Aber so löblich die Aktion der EZB aus europäischer Sicht
und auch aus der nicht unmaβgeblichen Sicht der genannten
Ökonomen war, es reicht noch nicht. Man will so weit
kommen wie in Deutschland, dass man auch in der Eurozone
eine Art „Länderfinanzausgleich“ einrichtet.
Man kann gespannt sein, was der Seehofer Horst und die
Seinen dazu sagen werden.
Inzwischen nehmen auch die Vorschläge zum Eurozonen-
parlament konkretere Formen an, unter anderem wird ein
Vorschlag favorisiert, wonach die Abgeordneten dieses
Parlaments aus den nationalen Parlamenten und in der Zahl
proportional zu der Bevölkerungszahl rekrutiert werden.
Dass man diesem Parlament die klassischen parlamen-
tarischen Kontrollfunktionen anvertraut versteht sich: Wahl
der Regierung und Kontrolle des Budgets, sowie Ent-
scheidungen nicht nur über Fiskalisches sondern auch über
Krieg und Frieden.
14. Es wäre ein Reinigungsprozeβ der äuβerst angenehmen Art
mit dem Ergebnis, dass Europa eine echte, zweite Chance
bekäme.
Schluβbemerkung: Zur Zeit treffen sich überwiegend junge
Menschen nach Ende des normalen Arbeitstags und vor
Sonnenuntergang Abend für Abend auf dem Platz der
Republik in Paris. Man diskutiert, friedlich, gebildet,
informiert und manchmal weniger informiert über
Arbeitsrecht und Staatsverfassung, über Europa, soziale
Gerechtigkeit, Bildung und Ausbildung. So gut wie alle
Themen. Und Keiner brüllt, beleidigt oder grenzt aus. Es
geht ein Zauber aus von diesem Platz, der auch den Umbau
von Kerneuropa beseelen könnte.
Allons enfants...