Disziplinäre und interdisziplinäre Zusammenarbeit sind eine Voraussetzung damit soziale Dienste ihre Aufgaben erfüllen können. Digitale Medien bieten neben den Möglichkeiten einer adressatengerechten Kommunikation
vor allem auch gute Potenziale um Kooperationen innerhalb der Einrichtung, einrichtungsübergreifend und interdisziplinär zu organisieren.
2014 feb wie-koennen-digitale-medien-die-kooperation-in-sozialer-arbeit-bereichern-schmitz-hans-karl
1. ■ Die Versuche, das Phänomen
Digitale Medien zu beschreiben,
haben zur Entstehung einer Vielzahl
neuer Begriffe, wie „Web 2.0“, „Social
Software“, „digitale Medien“ und „So-
cial Network“ geführt. Die Digitalisie-
rung bietet uns neue technische Funk-
tionalitäten. Dieses Moment der Tech-
nologie wird durch Kulturtechnik (al-
so wie man mit der Technik umgeht)
erst handgreiflich. Ich verstehe unter
„Web 2.0“ das der allgemeinen Öf-
fentlichkeit bekannte und massen-
hafte Bereitstehen technisch niedrig-
schwelliger Anwendungen, die eine
aktive und produktive Teilhabe im
World Wide Web ermöglichen, aber
nicht quasi-automatisch herstellen.
Begriffsbestimmend für Web 2.0 sind
einfache Bedienbarkeit, die Möglich-
keit zur Interaktion, zur Kooperation,
zur Bildung von Gemeinschaften und
zur Erstellung von Inhalten. Das Web
2.0 ist weniger eine Technik, als viel-
mehr ein kulturelles Phänomen, das
neue Potenziale für Partizipation aus-
strahlt.
Kritischer Umgang mit Technik
Computer haben offensichtlich weder
Macht- noch Erkenntnisinteressen.
Aber „Technologie ist nie nur bloßes
Mittel, sie zwingt uns stets ihre Funk-
tionslogik auf, doch das bedeutet
nicht, dass wir unsere Verantwortung
für das, was geschieht, auf sie abwäl-
zen könnten.“ (Bunz 2012: S. 18). Der
reflektierte und kritische Umgang mit
Technik und das Ringen um den men-
schengerechten Einsatz der Technik ist
alt: Technik wird von Aristoteles gese-
hen als die Erweiterung des Menschen
nach seinem Vorbild, von Gehlen als
Hilfsmittel und von den Futuristen als
Retter des Mängelwesens Mensch.
Die Gefahr der Technokratie wird
thematisiert von Horkheimer, Adorno,
Forum sozialarbeit + gesundheit 2/201410
Titelthema
Marcuse und Habermas. Chancen zur
Emanzipation erkennen Brecht und En-
zensberger (vergl. Bunz 2012: S. 78 f).
Brecht nimmt sogar das Web 2.0 vi-
sionär vorweg: „Der Rundfunk ist aus
einem Distributionsapparat in einen
Kommunikationsapparat zu verwan-
deln. Der Rundfunk wäre der denkbar
großartigste Kommunikationsapparat
des öffentlichen Lebens, ein unge-
heures Kanalsystem, d. h., er würde
es, wenn er es verstünde, nicht nur
auszusenden, sondern auch zu emp-
fangen, also den Zuhörer nicht nur
hören, sondern auch sprechen zu ma-
chen und ihn nicht zu isolieren, son-
dern ihn in Beziehung zu setzen.“
(Brecht 1932: S. 129)
Brechts Ringen um gesellschaftli-
che Teilhabe reiht sich ein in die Auf-
klärung: Wage zu wissen! „Habe Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen!“ (Kant 1784: S. 635). Sozia-
le Arbeit fokussiert soziale Gerechtig-
keit und gesellschaftliche Teilhabe.
Die Partizipation ist kein beliebiges,
austauschbares Element in der Sozia-
len Arbeit neben vielen anderen, son-
dern konstitutiver Bestandteil, zentra-
les fachliches Prinzip und handlungs-
anleitendes Leitbild. Während die
Partizipation der Adressaten im Fokus
der Fachöffentlichkeit steht, wird die
Thematik Partizipation der Akteure
Sozialer Arbeit ausgeblendet. Aber
sind Sozialarbeiter nicht professionel-
ler, wenn sie aktiver am Diskurs zum
Verhältnis von Politik, Wirtschaft und
Sozialwesen partizipieren, an Netz-
werken, am organisationalen Lernen
der sozialen Einrichtung, an der Scien-
tific Community?
Kooperation mittels digitaler Medien
Bevor wir zu konkreten Beispielen
kommen, ist vorab eine funktionale
Neue technische Möglich-
keiten kreativ nutzen
Für Professionen und
Einrichtungen der Sozialen Arbeit
steigen die Anforderungen mit
einer stärkeren Vernetzung und
der zunehmenden Dezentra-
lisierung der Angebote. Diszipli-
näre und interdisziplinäre Zusam-
menarbeit sind eine Vorausset-
zung damit soziale Dienste ihre
Aufgaben erfüllen können.
Digitale Medien bieten neben
den Möglichkeiten einer adressa-
tengerechten Kommunikation
vor allem auch gute Potenziale
um Kooperationen innerhalb der
Einrichtung, einrichtungsüber-
greifend und Interdisziplinär zu
organisieren.
Hans Karl Schmitz
Wie können digitale Medien die Kooperation in Sozialer Arbeit bereichern?
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2. 2/2014 Forum sozialarbeit + gesundheit 11
Einordnung der digitalen Medien in
Sozialer Arbeit geboten. Sie können
genutzt werden, um:
■ mit den Adressaten der
Sozialen Arbeit zu kommunizieren
■ Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben
■ miteinander zu kooperieren.
Kooperation ist eine Herausforde-
rung, der sich Professionen und Ein-
richtungen der Sozialdienste heute
stellen müssen. Je stärker vernetzt,
flexibel, dezentral Sozialdienste ar-
beiten, desto höher sind die Anfor-
derungen. Kooperation und Vernet-
zung werden als notwendige Voraus-
setzungen für die Zielerreichung und
Funktionssicherung der Gesundheits-
und Sozialsysteme angesehen. Mit
ihnen können die Dysfunktionen von
Hierarchie (Rigidität und mangelnde
Flexibilität) und Markt (Marktversa-
gen) ausgeglichen werden. Im Fol-
genden thematisiere ich die Möglich-
keiten der Kooperation mittels digi-
taler Medien für die Soziale Arbeit:
■ die Zusammenarbeit in der eigenen
Einrichtung, im eigenen Team
■ die interdisziplinäre Zusammen-
arbeitverschiedenerBerufsgruppen
aus den unterschiedlichen Leis-
tungsbereichen des Sozial- und
Gesundheitssystems
■ die einrichtungsübergreifende Ko-
operation, in der mehrere Einrich-
tungen kooperieren, um eine
Dienstleistung zu erbringen, die
eine allein nicht leisten kann. Da es
in Kooperationen meist um sen-
sible Daten von Klienten geht,
kommen hier „Social Networks“
wie Facebook, Google-Plus, Twit-
ter und so weiter nicht in Frage.
Hier braucht es den eigenen Web-
server, geeignete Software und
Datenschutz.
Kooperation in der Einrichtung
Wie digitale Medien die Kooperation
in der Einrichtung bzw. im Team be-
reichern können, zeigt ein Beispiel
von virtueller kollegialer Beratung.
Kollegiale Beratung, unterstützt durch
Supervision, gehört zur Reflexions-
kultur einer Einrichtung im Sozialwe-
sen, sei es im Bereich Soziale Arbeit,
Bildung oder Gesundheit. Im Intranet
der Einrichtung, die dieses Pilotpro-
jekt durchführte, stand für ein Team
ein Weblog zu diesem Zweck zur Ver-
fügung (Der Begriff Weblog, kurz
Blog, lang World-Wide-Web-Logbuch
bezeichnet ein digitales Tagebuch.
Die Inhalte werden chronologisch
angezeigt – der aktuellste Beitrag zu-
erst. Leser können die Beiträge kom-
mentieren). Es diente der virtuellen
Ergänzung der kollegialen Beratung.
Die physische kollegiale Beratung
wurde dadurch befreit von einfach zu
klärenden Fragen. Es führte zu auf das
Wesentliche reduzierte Teamsitzun-
gen. Teamsitzungen binden Ressour-
cen. Es führte auch zu schnelleren Er-
gebnissen, wenn man für ein simples
Problem binnen kurzer Zeit Antwor-
ten und Anregungen bekam, statt auf
eine Teamsitzung warten zu müssen.
Mehr Problemlagen wurden bearbei-
tet. Der Aufwand konnte so besser
der Breite und Tiefe der Beratungs-
themen angepasst werden. Prozesse
und Prozesskosten konnten optimiert
werden. Nicht alle Fragen lassen sich
in einem Weblog ausreichend klären,
die Leistungsfähigkeit ist begrenzt.
Virtuelle kollegiale Beratung kann
physische kollegiale Beratung so we-
nig ersetzen, wie kollegiale Beratung
die Supervision oder ein Telefonge-
spräch ein persönliches Gespräch –
aber sie kann bisherige Beratungsfor-
men ergänzen.
Interdisziplinäre Kooperation
Ein konkretes Beispiel, wie digitale
Medien die interdisziplinäre Koopera-
tion bereichern können, ist eine virtu-
elle ständige Helferkonferenz mittels
eines Weblogs. Hauptadressat der
Hilfe war ein verhaltensauffälliger
Grundschüler einer Förderschule für
Hörgeschädigte. An der Hilfe beteiligt
waren, neben Vater und Mutter als
weitere Adressaten ein Erziehungs-
helfer, ein Vertreter des Trägers der
Erziehungshilfe, ein Mitarbeiter des
Jugendamtes, zwei Klassenlehrerin-
Der Kiezatlas in Berlin ist ein gutes Beispiel für die Nutzung von Internettechnik
für Soziale Arbeit, mit weitreichenden Informationen zu Angeboten für Jugendliche.
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3. Forum sozialarbeit + gesundheit 2/201412
Titelthema
nen, eine Schulleiterin, drei Mitarbei-
tende der offenen Ganztagsschule,
ein Ergotherapeut, ein Arzt sowie ein
Psychologe einer kinder- und jugend-
psychiatrischen Praxis. In mehreren
Betreuungsjahren wurde eine (!) Hel-
ferkonferenz organisiert – alle Profis
an einem Tisch. Das war ein sehr wert-
volles Treffen. Aber es ist sehr auf-
wändig, die Beteiligten an einen Tisch
zu bekommen. Eines war klar: Es wird
nicht einfach werden, so etwas zu
wiederholen. Stattdessen wurde ein
Weblog angelegt, im Zugang auf die
genannten Personen begrenzt und
durch Benutzernamen und Passworte
geschützt. Alle Teilnehmer hatten Inter-
netzugang und konnten andere Hilfe-
beteiligte ohne großen Aufwand über
Neuigkeiten informieren, um Hilfe und
Unterstützung bitten, Anregungen ma-
chen, von Erfahrungen berichten,
Wichtiges dokumentieren, Befürchtun-
gen äußern, Ziele vereinbaren, sich
aufeinander beziehen, etc. Sie standen
in einem ständigen Diskurs. Den Eltern
blieben Aussagen wie „das können wir
bei unserem Termin in sechs Wochen
besprechen“ oft erspart.
Mit dieser virtuellen, ständigen Hel-
ferkonferenz wurde mehr geschaffen,
als ein „so geht es auch“: Die Akteure
wurden dauerhaft vernetzt; die Arbeit
der Profis wurde den Adressaten
transparenter; die Teilhabe der Adres-
saten wurde erhöht. Das ist Prozess-
qualitätsentwicklung. Es wurde Geld
gespart, denn Wiederholungen der
physischen Helferkonferenz wären mit
hohen Personalkosten verbunden ge-
wesen. Aus professionspolitischer
Perspektive ist die (Wieder-) Erlangung
der Definitionsmacht darüber, was
gute Soziale Arbeit ausmacht, hervor-
zuheben, nämlich die Vernetzung der
Hilfe durch Akteure Sozialer Arbeit, die
im Virtuellen erst handgreiflich wird.
Einrichtungsübergreifende
Kooperation
Wie digitale Medien die einrichtungs-
übergreifende Kooperation bereichern
können, sei am Kiezatlas aufgezeigt
(C www.kiezatlas.de). Der Kiezatlas
ist ein Projekt aus der Jugendhilfe,
der Transfer auf Arbeitsfelder im Ge-
sundheitswesen sind jedoch leicht zu
leisten. Hier eine Selbstdarstellung:
„In Berlin werden mit Hilfe von Kiez-
atlas unter anderem Angebote der
Jugendhilfe in ihrem sozialräumli-
chen Zusammenhang sichtbar ge-
macht. Dieser Aspekt ist vor allem für
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
unterschiedlichen Dienste und Einrich-
tungen von Interesse, kann es doch
dazu dienen, die Angebote transpa-
renter zu machen, sie besser aufei-
nander abzustimmen und zu vernet-
zen. Ressourcen können aufgezeigt,
sozialräumliche Zusammenhänge
können visualisiert werden. Der Kiez-
atlas stellt somit ein mächtiges Werk-
zeug für die sozialräumliche Betrach-
tung von Infrastrukturdaten dar [...]
Auf den Karten der Kiezatlasseiten
werden Einrichtungen und Angebote
unterschiedlicher Art geografisch „ver-
ankert“ sowie weitere Informationen
zur Einrichtung angezeigt (Anschrift,
AnsprechpartnerInnen, Öffnungszei-
ten, Erreichbarkeit mit öffentlichen
Verkehrsmitteln, Internet- und E-Mail-
Adressen, Angebote, Programme,
Fotos, Logos, Sozialstrukturdaten
etc.).“ (C http://pax.spinnenwerk.de/
~kiezatlas/projektbeschreibung.html)
Zusammenfassung
Um gesellschaftliche Teilhabe und so-
ziale Gerechtigkeit zu ringen, ist eine
Kernaufgabe der Sozialen Arbeit. Di-
gitale Medien bieten Partizipations-
potenziale und können die Koopera-
tion in Sozialer Arbeit bereichern. Par-
tizipation stellt sich nicht automatisch
Literatur
Brecht, Bertolt (1932): Der Rundfunk
als Kommunikationsapparat. In: Ders.
(1963): Gesammelte Werke, Bd. 18.
Suhrkamp: Frankfurt am Main, S. 127–
13.
Bunz, Mercedes (2012): Die stille Re-
volution: Wie Algorithmen Wissen,
Arbeit, Öffentlichkeit und Politik ver-
ändern, ohne dabei viel Lärm zu ma-
chen. Suhrkamp Verlag – edition un-
seld: Frankfurt am Main.
Kant, Immanuel (1784): Beantwor-
tung der Frage: Was ist Aufklärung?
In: Die Kritiken. Frankfurt fm.: Zweitau-
sendeins, 2008. (Lizenzausg.) (S. 633–
640) (Org. 1784). C http://kiezatlas.
de | (Rev. 16.01.2014)
Wünschenswert wäre eine Qualifizierung
für Sozialarbeiter im Umgang mit
digitalen Medien.
ein, sondern muss mühsam errungen
werden, sich als Kulturtechnik durch-
setzen.
Einen Weblog zu benutzen, ist nicht
schwierig. Einen Weblog auf einem
Server einzurichten oder eine digitale
Landkarte zu erstellen oder anzurei-
chern, erfordert mehr Kenntnisse,
aber kein Informatik-Studium. Wün-
schenswert wäre eine Qualifizierung
für Sozialarbeiter im Umgang mit di-
gitalen Medien sowie die selbstver-
ständliche Bereitstellung der techni-
schen Infrastruktur. Und eine Attitüde
des Sozial Arbeitenden, nämlich sich
als Hacker, als „Social-Work-Hacker“
zu verstehen. „Social-Work-Hacking“
heißt, Software innovativ zu benutzen
zu sozialarbeiterischen Zwecken. Ha-
cken wird hier verstanden als der
kreative Umgang mit Software, um
etwas zu erstellen, für das es nicht zur
Verfügung gestellt wurde. „Habe Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen!“ (a. a. O.) Denn wer nicht
programmieren kann (oder keinen Pro-
grammiererbeauftragt),wirdprogram-
miert.
■ Hans Karl Schmitz ist Diplom-
Pädagoge und als selbstständiger
Berater für Unternehmen im Sozial-
und Bildungsbereich tätig,
6 mail@hans-karl-schmitz.de
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