Angewandte Kognitions- und Medienwissenschaft an der Universität Duisburg_Essen
Französische Orgelmusik im 19. Jahrhundert, Orgelmusik und Liturgie
1. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Der französische Organist als Kirchenmusiker
1) Geschichtlicher Hintergrund
2) Orgel und Liturgie
3) Traditionelle Rolle der Orgel
4) Notizen zum Repertoire
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2. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.20142
Jean-Nicolas Marrigues (1757–1834)
Organist in Versailles
Récit de Nazard
Kirchenmusik | Geschichtlicher Hintergrund
3. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Geschichtlicher Hintergrund
„Geistliche“ oder „weltliche“ Musik?
• In der französischen Musik gab es immer Überschnei-
dungen zwischen geistlichem und weltlichem Stil.
• Fétis, Danjou und Niedermeyer propagierten einen
kontrapunktischen Stil statt eingängiger Melodien und
Rhythmen. Andere Komponisten wie Berlioz, Gounod
und Franck pflegten kaum einen stilistischen
Unterschied zwischen weltlicher und geistlicher Musik.
• Saint-Saëns sagte: „Es gibt eigentlich keine geistliche
Musik, es gibt gute Musik und schlechte Musik und es
ist letztlich eine Frage des Geschmacks und der
Konvention.“
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4. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.20144
Gervais-François Couperin (1759–1826)
Organist an Saint-Gervais und Saint-Merri
Deposuit [potentes]
Kirchenmusik | Geschichtlicher Hintergrund
5. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Geschichtlicher Hintergrund
Ausgangslage am Anfang des 19. Jhs.
• Paris hatte vor der Revolution 222 Kirchen, davon 45
grosse Pfarrkirchen,
• nach der Revolution verblieben 12 grosse Pfarrkirchen
und 27 kleinere Kirchen. Die anderen wurden zerstört
oder umgenutzt in Fabriken und Schulen.
• Die Kirchenmusik erholte sich nur langsam von der
Revolutionszeit.
• Noch lange Zeit nach der Wiederaufnahme der
Gottesdienste hatte die Kirchenmusik einen schlechten
Ruf.
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6. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Geschichtlicher Hintergrund
• Zu Beginn des Jahrhunderts wurden junge Musiker noch fast
automatisch zu Nachfolgern ihrer Lehrer ernannt. Später
wurden die neuen Stelleninhaber mehr und mehr durch
Wettbewerbe erkoren. Dabei wurden Repertoirespiel,
Improvisation und Choralbegleitung geprüft, später auch das
Auswendigspielen vorgegebener Stücke.
• Folgende Entwicklungen prägten zunehmend das Bild des
Organisten als Künstler:
• das wachsende Repertoire an Musik verschiedener Stile und
früheren Epochen
• das Interesse an der Beherrschung der Spieltechnik
• die Entwicklungen im Orgelbau
• die Erweiterung der musikalischen Ausbildung.
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7. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
• Schon im 17. Jahrhundert genossen die französischen
Bistümer eine hohe Autonomie bezüglich der Liturgie.
Für die Orgelmusik war der „Pariser Ritus“ am
bedeutendsten, der auch in anderen Landesteilen
praktiziert wurde.
• Die meiste Orgelmusik bis in die Mitte des 19.
Jahrhunderts wurde für diese Liturgie geschrieben.
• Die Aufgabe der Organisten bestand darin, Messen
und bestimmte Offizien zu spielen. Dies beinhaltete
das Spiel von Versetten im Wechsel mit der Schola,
zusätzlich benötigte der Organist ein Repertoire an
freien Stücken für festgelegte Teile des
Gottesdienstes.
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Kirchenmusik | Geschichtlicher Hintergrund
8. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Hinwendung zum Römischen Ritus
• In der Mitte des Jahrhunderts wurde der Pariser Ritus
zunehmend durch den Römischen Ritus ersetzt. Die
gedruckten Orgelmessen wurden immer seltener. Es wurden
mehr freie Stücke komponiert und veröffentlicht (Entrées,
Offertoires, Élévations, Communions, Sorties, Versets).
Beispiele umfangreicher Sammlungen:
• Franck „l’Organiste“
• Lefébure-Wély „l’Organiste catholique“
• Batiste „100 Pièces simple“
• Guilmant „l’Organist pratique“, „l’Organist liturgiste“
• Boëllmann „Heures mystiques“
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Kirchenmusik | Geschichtlicher Hintergrund
9. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.20149
Quelle: http://www.chantcafe.com/2012/08/bring-back-serpent.html
Kirchenmusik | Orgel und Liturgie
10. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Orgel und Liturgie
• „Ich komme eben aus St. Sulpice, wo mir der
Organist die Orgel vorgeritten hat: sie klingt wie ein
vollstimmiger Chor von alten Weiberstimmen; aber
sie behaupten, es sei die erste Orgel in Europa,
wenn man sie reparirte, was 30.000 Francs kosten
soll.
• Wie der canto fermo mit einem Serpent begleitet
klingt, das glaub Niemand, der es nicht gehört hat,
und dazu läuten die dicken Glocken! “
• Felix Mendelssohn-Bartholdy in einem Brief vom 21.
1.1832
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11. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Orgel und Liturgie
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Adolphe Miné (1796–1854)
Organist an Saint-Roch
Entrée de choeur – Sortie de choeur
12. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Orgel und Liturgie
Chorgesang und Orgel
• Die Begleitung des Gesangs erfolgte zu Beginn des
Jahrhunderts noch mit Serpent und Kontrabass, später
zunehmend mit der Chororgel. Somit wurden in den
grösseren Kirchen zwei Organisten und ein Chorleiter
benötigt: Titulaire, Organist accompagnateur, Maître de
chappelle.
• In Kirchen mit Chor wurde die Orgelmusik oftmals auf
wenige Stücke reduziert: Entrée, Offertoire, Ite missa est.
Um den Chororganisten zu sparen, wurde der Chor oft auf
der Empore platziert. Es gab aber auch Situationen mit zwei
genialen Organisten, die sich gegenseitig mit
Improvisationen inspirierten, so Widor und Fauré in Saint-
Sulpice.
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13. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Orgel und Liturgie
• Singweise und Begleitung des Chorals änderten
sich mit der Hinwendung zum römischen Ritus.
• Louis Niedermeyer entwickelte 1859 in seiner
„Traité théorique et pratique de
l’accompagnement du plaint-chant“ eine streng
modale Methode der Choralbegleitung, die sich
vom bisherigen tonalen Stil stark unterschied.
• Zahlreiche Komponisten schrieben in der Folge
auch Versetten und freie Orgelstücke im
modalen Stil, z. B. Alkan, Gigout, Guilmant.
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14. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Traditionelle Rolle der Orgel
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1) Die Messe an Sonn- und Feiertagen
• Begleitung des gregorianischen Chorals (plain chant) durch den
Chororganisten „Organiste de choeur“
• Alternatim-Spiel zum Choral (Versetten) durch den Hauptorganisten
„Titulaire“, später durch den Chororganisten
• Fünf freie Stücke (s. „Livres d’orgues“)
• Entrée zum Einzug des Zelebranten und der Assistenten
• Offertoire zur Gabenbereitung (längere mehrteilige Stücke)
• Élévation zur Wandlung und Communion zur Austeilung der
Kommunion (s. a. Prière oder Méditation)
• Sortie zum Auszug (Toccata, Grand Choeur, Marche)
• Das Ausgangsspiel entwickelte sich im Lauf des Jahrhunderts zum
virtuosen Postludium (Sortie). Andrerseits wandelte sich der lautstarke
Charakter des Offertoriums nach und nach zu einem meditativen.
15. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Traditionelle Rolle der Orgel
2) Messe de Minuit
• Mitternachtsmessen waren seit langem ein Merkmal der
Weihnachtsfeiern. Sie waren eine Mischung von bekannten Melodien
und Feiertagsstimmung.
• Mit der Revolution versiegte die Produktion neuer Noëls beinahe
(Ausnahmen: Beauvarlet-Charpentier, Séjan, Miné und Boëly), gegen
Ende des Jahrhunderts wurde sei wieder verstärkt.
• Noëls wurden oft unabhängig von ihrer liturgischen Verwendung
veröffentlicht, Ausnahme: Boëlys Messe de minuit.
3) Messe basse
• In der „stillen Messe“ spielt der Organist fast durchgehend
• Orgelmusik vom Einzug bis zur Lesung
• Evangeliumslesung und Predigt
• Orgelmusik bis und mit Auszug
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16. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Traditionelle Rolle der Orgel
4) Vesper
• Häufigste Form: Versetten zum Magnificat
• In der Vesper spielte der Organist meistens eine Versette nach dem ersten,
dritten und fünften Psalm. Hymnus und Magnificat wurden alternierend
musiziert. Wie in der Messe konnte ein Stück zum Einzug und zum Auszug
gespielt werden.
• In der Pariser Tradition war die erste Versette eines Hymnus Choral-
gebunden, die zweite eine Fuge, die weiteren Versetten variierten je nach
Hymnus.
• Weitere Hymnen: Magnificat (7 V.), Te Deum (16 V.), Veni creator (5 V.),
Pange lingua (7 V.), Ave maris stella (4 V.), A solis ortus (4 V.),
5) Inauguration und Konzerte
• Orgeleinweihungen bieten Gelegenheit für konzertante Orgelmusik
• Ab ca. 1860 finden auf den grossen Orgeln zunehmend Konzerte statt, auch
mit Orgelvirtuosen aus dem Ausland (z. B. Adolf Hesse). Ab 1878 auch im
Palais du Trocadéro (5000 Plätze).
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17. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Traditionelle Rolle der Orgel
• Typisches Beispiel einer kompletten Orgelmesse zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Guillaume Lasceux, Messe Cunctipotens (1819)
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I KYRIE
1.Kyrie [cf]
2.Fugue
3.Cromorne avec les fonds
4.Flûtes
5.Chœur – Grand Jeu
II GLORIA
6.Gloria in excelsis
Et in terra pax [cf]
Benedicamus te [cf]
Glorificamus te [cf]
7.Voix humaine
8.Duo
9.Qui tollis [cf]
10.Hautbois et Voix humaine
11.Chœur – Grand Jeu
12.Petit plein jeu pour l'Amen
III OFFERTOIRE
13.Offertoire
IV SANCTUS
14.1er Sanctus [cf]
15.3e Sanctus – Petit plein jeu
V ÉLEVATION
16.Élévation (Flûtes)
VI AGNUS DEI
17.1er Agnus [cf]
18.3e Agnus – Clairon et cromorne
avec les fonds
VII ITE MISSA EST
19.Ite missa est – Petit plein jeu
18. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Traditionelle Rolle der Orgel
• Zwei Magnificat von Guillaume Lasceux (1785 und
1812)
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I MAGNIFICAT en Fa majeur 1785
(zum Gebrauch im 5. oder 6. Ton)
1. Duo
2. Cromorne avec les fonds
3. Dialogue de Voix humaine et de Hautbois
4. Récit de Flûte
5. Grand Jeu
6. Grand Jeu „Chasse“, Offertoire
II MAGNIFICAT en Ré Mineur 1812
(zum Gebrauch im 1. oder 4. Ton)
1. Duo
2. Cromorne avec les fonds
3. Flûte
4. Dialogue de Voix humaine et de Hautbois
5. Choeur en Rondeau
6. Grand Jeu pour servir l’Offertoire
19. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Traditionelle Rolle der Orgel
Inauguration Saint-Louis-d’Antin 1858 gespielt von Lefébure-Wély (LW)
1. Improvisation in F-Dur mit Gamben auf 2 Manualen, crescendo zum
Tutti und decrescendo
2. Improvisation in e-Moll mit Flûte harmonique, Oboe 8’ und Flöte 4’
3. Solo von Mme LW: „Ave Maria“ von Miné, begleitet mit Voix humaine
4. Fuge in d-Moll op. 122.6 mit Zungen und Grundstimmen des Récit mit
crescendo zum Grand Choeur und decrescendo
5. Bauernmarsch in b-Moll, staccato mit Oboensolo als Dudelsack
6. Trauermarsch op.122.9 Grundstimmen und Trompette harm. mit
Tremulant
7. Solo von Mme LW: „O salutaris“ von LW mit Solo Flûte harmonique
8. Improvisation in G-Dur mit Harfeneffekten
9. Improvisation in C: Hirtenszene, Volkstanz, Gewitter Effekte
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20. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Traditionelle Rolle der Orgel
Guilmants „Concert historique“ 1889 im Trocadéro-Saal
1. Gabrieli: Canzona | Palestrina: Ricercare | Merulo: Toccata |
Byrd: Pavane
2. Titelouze: Verset Exultet coelum | Scheidt: „Da Jesus an
dem Kreuze stund“ | Frescobaldi: Capriccio-Pastorale
3. Muffat: Toccata C-Moll
4. Froberger: Caprice | Buxtehude: „Lobt Gott“
5. Pachelbel: Ciacona | Dandrieu: Musette | Clérambault:
Prélude
6. Bach: Toccata und Fuge C-Dur
7. Boëly: Andante | Mendelssohn: Präludium in G | Lemmens:
Scherzo symphonique concertant
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21. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Notizen zum Repertoire
• Wir wissen wenig darüber, wie die Orgelmusik tatsächlich
geklungen hat. Sie wurde meistens improvisiert, gedruckte
Musik war für Organisten bestimmt, die nicht gut improvisieren
konnten.
• Es gab Ausgaben mit Werken einzelner Komponisten und
Sammelbände mit gemischtem Inhalt. Darunter
Neukompositionen, Auszüge grösserer Werke, Transkriptionen
und Stücke aus dem Ausland (meist aus Deutschland).
• Diese Kollektionen wurden meistens in Reihen oder
Zeitschriften bzw. „Journaux“ publiziert. Beispiel: „Journal des
Organistes“, herausgegeben von Jean-Romery Grosjean,
erschien regelmässig von 1859 bis 1914.
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22. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Notizen zum Repertoire
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• Im Laufe des Jahrhunderts wurden die
Ausbildungsmöglichkeiten immer besser und die Zahl der gut
ausgebildeten Organisten nahm zu. Der Umfang und die
Bandbreite der publizierten Orgelwerke wuchsen damit.
• Viele Top-Organisten leisteten wichtige Beiträge zur
Gottesdienstmusik, trotzdem spiegelt die publizierte Musik nur
einen kleinen Teil der tatsächlich aufgeführten Musik wider.
• Im ganzen Jahrhundert wurde die kontrapunktische Musik
Bachs und seiner Nachfolger viel gerühmt aber selten gespielt.
Die Kirchgänger und Geistlichen bevorzugten melodische,
farbige, heitere und unkomplizierte Kirchenmusik.
• Auch die anspruchsvollsten Organisten spielten hauptsächlich
das, was ihren Gemeinden gefiel.
23. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Notizen zum Repertoire
• In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es einen Trend
zu modaler Orgelmusik, z. B.
• Alkan „Petits préludes sur les 8 gammes du plaint-chant“
• Gigout „Cent pièces brèves dans la tonalité du plain-chant“
• Guilmant „60 Interludes dans la tonalité grégorienne“
• Vespern von d’Indy, la Tombelle, Chausson, Ropartz u. a.
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24. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.201424
Charles-Valentin Alkan (1813–1888)
Petites Préludes sur les huit Gammes du Plain-chant
Beispiele: Préludes im 2., 3., 5. und 7. Ton
Kirchenmusik | Notizen zum Repertoire
25. Französische Orgelmusik des 19. Jahrhunderts Version 15.11.2014
Kirchenmusik | Notizen zum Repertoire
• cantus-firmus gebundene Versetten wurden im Römischen
Ritus nicht mehr gebraucht, trotzdem blieben die alten
Melodien auch in grösseren Orgelwerken erhalten, z. B.
• Batiste „Offertoire du saint jour de Pacques“(o filii)
• Lefébure-Wély „Verset sur le chant de l’hymne de la
pentecôte“
• Lemmens „Sonates pour orgues“ 2+3 (o Filii, Victimae
Paschali)
• Auch Guilmant war wie sein Lehrer Lemmens ein
Verfechter der choralgebundenen Orgelmusik, er
komponierte ca. 130 choral-gebundene Stücke (auch
über deutsche Kirchenlieder)
• Widor komponierte mehrere Symphonien über
gregorianische Themen: Symphonie 2, Symphonie
Gothique, Symphonie Romane25