Ride the Storm: Navigating Through Unstable Periods / Katerina Rudko (Belka G...
Essay "Zurück auf Anfang?"
1. Zurück auf Anfang?
Über Vinyl, sein Comeback und die nicht mehr ganz so neue Retroidee
Für viele Menschen ist die Welt nach wie vor eine Scheibe. Flach, noch nicht einmal
besonders groß. Und mit einem Loch in der Mitte. Ehrfürchtig legen sie das schwarze Kleinod
auf den Plattenteller. Ganz sachte, damit es nicht zerkratzt – so beginnt die Zeremonie. Ein
kurzer Puster über die Oberfläche wirbelt die letzten Staubkrumen hinfort. Auf Knopfdruck
bewegt sich der Arm des Plattenspielers langsam auf die Scheibe zu. Zunächst horizontal geht
die Bewegung in einem fließenden Übergang kurz vor dem Ziel in eine vertikale Landung
über. Die Nadel setzt auf der Rille auf. Einige Sekunden knistert ein leises Rauschen durch
die Lautsprecher. Bis die ersten Takte erklingen.
Ziemlich viel Aufwand. Ein Handgriff und jeder CD- oder MP3-Player würde das gewünschte
Stück sofort in lupenreinem Klang abspielen. War nicht die Markteinführung der Compact
Disc 1982 das Ende vom Lied für die Schallplatte? Schnell hatten sich die funkelnden
Datenträger zum Liebling der Musikindustrie gemausert. 1990 gingen bereits doppelt so viele
CDs wie LPs über die Ladentheke. Der Tod der Schallplatte wurde proklamiert. Doch der
Patient atmete noch. Zwar schwach, denn in den 90ern war der Anteil der Plattenverkäufe auf
dem Tonträgermarkt auf unter ein Promille gesunken. Aber er atmete. Eine kleine Schar
unbeugsamer Musikfans hörte nicht auf, den Eindringlingen aus Polykarbonat Widerstand zu
leisten. Lobgesänge auf die akustische Überlegenheit der CDs stießen bei ihnen auf taube
Ohren. Anscheinend sollten sie Recht behalten. Todgesagte leben bekanntlich länger. Seit
2003 ist der Verkauf von Plattenspielern um ein Drittel gestiegen. Wurden 2006 in
Deutschland etwa 600000 LPs erstanden, waren es 2008 bereits 900000. Vinyl feiert ein
Comeback. Erklärungsversuche:
Seit der Erfindung der Schallplatte ist Musik greifbar. Augenblickhaftes, für die Ewigkeit auf
Vinyl gebannt. Eine ähnliche Lebensdauer hatte man sich in den 80ern auch von CDs erhofft.
Entsetzt spitzte die Musikwelt die Ohren, als die Kunde von der begrenzten Haltbarkeit der
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Plastikscheiben umherging. Durch chemische Prozesse wird deren Aluminiumoberfläche im
Lauf der Zeit durchsichtig. Spätestens nach 80 Jahren ist es aus mit dem kompakten
Musikgenuss. Vorausgesetzt es gibt dann noch CD-Player, um den Verlust festzustellen.
LPs hingegen haben sich seit Jahrzehnten als fester Bestandteil der Popkultur behauptet. Ob
als Arbeitsmaterial für Schallplattenalleinunterhalter. Als Kunstobjekte, dank aufwendig
illustrierter Plattenhüllen. Oder als Fundgrube für Musikfreaks. Spätestens seit dem Beatles-
Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ wird nach Hidden Tracks gefahndet. Die
Stücke sind nicht im Inhaltsverzeichnis angegeben. Und lassen sich nur finden, wenn die
Nadel nach dem Ende des Albums auf der Auslaufrille kreist. Von kompletten Liedern, über
Improvisationsnummern bis zu Grußbotschaften reichen die Zugaben.
Wem das zu banal ist, spielt seine Platten rückwärts ab. Nicht immer kracht dann eine
Kakophonie durch die Lautsprecher. Manchmal spricht auch der Fürst der Finsternis. Womit
nicht unbedingt Ozzy Osborne gemeint ist. Schon öfter glaubten Rückwärtshörer satanische
Botschaften zu vernehmen. So soll „Hotel California“ von The Eagles Mephisto anpreisen.
Politiker und Jugendschützer in den USA fürchteten, die Platten könnten in richtiger
Laufrichtung die Zuhörer unbewusst in willenlose Teufelsanbeter verwandeln. In Kalifornien,
das seit dem The Eagles-Lied im Verdacht stand, mit seinem Hotel das Tor zur Hölle zu
markieren, überlegte man, solche LPs zu verbieten. 1988 behauptete der Serienkiller Richard
Ramirez, Rückwärtsbotschaften auf dem Album „Highway to Hell“ hätten ihn zu 14 Morden
angestiftet. AC/DC waren über die Vorwürfe bestürzt. Laut Angus Young hätte sich Ramirez
die LP gar nicht rückwärts anhören müssen. Der Albumtitel sei eindeutig genug.
Vielleicht lässt sich der erneute Vinyltrend mit Nostalgie erklären. Im Unterhaltungsbereich
überholen sich technische Neuerungen in immer kürzer werdenden Abständen. CDs haben die
Kassetten verdrängt, nun bekommen sie durch MP3s ernste Konkurrenz. Nur schwer lassen
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sich künftige Entwicklungen auf dem Tonträgermarkt prophezeien. Wie einfach dagegen die
Ära, als man nur zwischen den Alternativen Plattenspieler und kein Plattenspieler wählen
musste. Die gute, alte Zeit.
Überhaupt scheint es, als hätte die aktuelle Retrowelle die Flut an neuen LPs angeschwemmt.
Retro ist momentan vieles. Die Lieder von Amy Winehouse, Lesetouren der Drei ??? oder
Leggings. Retro ist hip. Aber irgendwie ist Retro auch voll retro. Die westliche Kultur hat
sich schon immer Anleihen aus der Geschichte bedient. In der römischen Antike war es en
Vogue, Stilelemente der griechischen Hochkultur zu übernehmen. Später versuchte Karl der
Große mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation das römische Original
nachzuahmen. Auch in der Renaissance und dem Barock galt die römische Antike als das
Maß der Dinge. Nicht so während des Klassizismus. Da war es wieder die Hellenistische.
Romantik und Neugotik bejubelten das Mittelalter. Erst in der Moderne wollte man sich von
früheren Trends lösen. Die Avantgardisten um 1900 manifestierten den Startschuss. Bis die
68er die ständigen Konsumneuerungen unknorke fanden und mit Secondhandläden und
Trödelmärkten an Vergangenes anknüpften.
In der heutigen Massengesellschaft gibt es so viele Stilrichtungen wie selten zuvor. Oldschool
und Newschool. Vinyl und MP3s. Dem Medienexperten Marshall McLuhan zufolge sind das
zu viele Möglichkeiten und Informationen. Laut seiner Theorie setzen sich allmählich Mythen
als Normenquellen durch. Mythen vereinfachen das Weltbild. Wie viel sie mit der Realität zu
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tun haben, bleibt zweitrangig. Solange sie helfen durchs Leben zu kommen. Auch Vinyl hat
sich zu einem wahren Mythos entwickelt. Am 12. August feiern seine Anhänger den „Tag der
Schallplatte“. Wenn Sie möchten, können Sie dann am Nierentisch zu Häppchen vom
Käseigel mit einem Kullerpfirsich darauf anstoßen.
Fiona Pröll