Bürgerschaftliches Engagement: Möglichkeiten und Grenzen für die ländliche Entwicklung
1. Bürgerschaftliches Engagement:
Möglichkeiten und Grenzen für die
ländliche Entwicklung
Modul M-WPM08 – Regionale Entwicklung
Fachbereich Agrarwirtschaft und Lebensmittelwissenschaften
Master-Studiengang Agrarwirtschaft
von
Marcel Gerds
Juni 2008
2. Inhalt
1. Einleitung
2. Definition und Bedeutung
3. Umfang und Art des Engagements
4. Motivation
5. Möglichkeiten
6. Grenzen und Hemmnisse
7. Perspektiven
Gerds – Bürgerschaftliches Engagement im ländlichen Raum 01/23
3. Einleitung
• bürgerschaftliches Engagements im ländlichen Raum lange Tradition und große
Bedeutung
• Ursache: Mangel oder wenig differenziertes Angebot von Dienstleistungen,
Kultur und anderer Infrastruktur
• stärkeres Engagement der Bewohner für eigene Belange nötig
• besonders im ländlichen Raum höherer Stellenwert für die Lebensqualität als in
Agglomerationsräumen
• schafft es häufig erst eine soziale Infrastruktur
• mit abnehmenden Einwohnerzahlen der Gemeinden steigt das
bürgerschaftliche Engagement der Bürger tendenziell
• ländliche Bevölkerung hat ein Bedürfnis nach Selbsthilfe, geselliger
Freizeitgestaltung, Selbstdarstellung und Meinungsaustausch
Quelle: RÜCKERT-JOHN, 2005, S. 25; SCHMIDTKE, 2006, S. 42
Gerds – Bürgerschaftliches Engagement im ländlichen Raum 02/23
4. Definition und Bedeutung
• Bürgerinnen und Bürger übernehmen außerhalb ihrer Arbeitszeit und der
Familie Verantwortung im Rahmen von Organisationen
• Stütze jeder Zivilgesellschaft
• eröffnet Bürgerinnen und Bürgern Möglichkeiten für selbst organisierte
Mitgestaltung und Beteiligung
• Eigenschaften:
• Freiwilligkeit
• keine materielle Gewinnorientierung
• Gemeinwohlorientierung
• Öffentlichkeit
• Ergebnisse:
• soziales Kapital
• demokratische Kompetenz
• informelle Lernprozesse
Quelle: BMFSFJ, 2000, S. 33; Enquete-Kommission, 2002, S. 24, GENSICKE et al., 2006, S. 35
Gerds – Bürgerschaftliches Engagement im ländlichen Raum 03/23
5. Umfang und Art des Engagements
• 30 % der Bürger im ländlichen Raum beteiligen sich in irgendeiner Form aktiv
in gesellschaftlichen Bereichen
• Unterscheidung zwischen „Aktiven“ und „Engagierten“
• „aktiv“: in irgendeiner Form aktiv in gesellschaftlichen Bereichen beteiligt
• „engagiert“: haben eine gewisse Verantwortungsrolle in Form einer
bestimmten Aufgabe, Arbeit oder Funktion
Quelle: RÜCKERT-JOHN, 2005, S. 30
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6. Umfang und Art des Engagements
Anteil der „Aktiven“ in verschiedenen Engagementbereichen
Anteile der
quot;Ak tivenquot; in %
45
40
35 Dorf Kleinstadt (Groß-) Stadt
30
25
20
15
10
5
0
Sport und Freizeit und Kultur und Musik Kirche/religiöser Soziales und
Bewegung Geselligkeit Bereich politisches
Engagement
Engagementbereich
Quelle: eigene Darstellung nach BMFSFJ, 2000
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7. Umfang und Art des Engagements
Anteil der „Engagierten“ in verschiedenen Engagementbereichen
Anteile der
quot;Engagiertenquot; in %
16
14
12 Dorf Kleinstadt (Groß-) Stadt
10
8
6
4
2
0
Sport und Bew egung Freizeit und Kultur und Musik Kirche/religiöser Soziales und
Geselligkeit Bereich politisches
Engagement
Engagementbereich
Quelle: eigene Darstellung nach BMFSFJ, 2000
Gerds – Bürgerschaftliches Engagement im ländlichen Raum 06/23
8. Motivation
• zwei Antriebe:
• intrinsische Motivation
• Verbindung von Eigen- und Gemeinwohlorientierung
intrinsisch
• Menschen handeln nicht auf Grund einer Belohnung oder Bestrafung,
sondern aus eigenem Antrieb, Anteilnahme oder Interesse
• Handeln geprägt von persönlichem Einsatz für eine Sache, Zufriedenheit,
Verantwortlichkeit, der Wertschätzung und dem Vertrauen in das eigene
Handeln sowie der Unabhängigkeit von externen Stimuli
Verbindung von Eigen- und Gemeinwohlorientierung
• resultiert aus dem Bedürfnis, das eigene Handeln in einen übergeordneten
Sinnzusammenhang zu bringen.
• grundlegend: Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das ohne Anreiz eines
materiellen Vorteils besteht
Quelle: GANZERT, 2006, S. 160; SCHMIDTKE, 2006, S. 42
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9. Möglichkeiten
• zwei Hauptbereiche:
• Engagement im Rahmen der Kommunalpolitik
• ländliches Vereinswesen
Kommunalpolitik
• direkte Kontakt- und Einflussmöglichkeit des Bürgers auf die kommunalen
Entscheidungsträger bestimmt von der Größe der Gemeinde
• je kleiner eine Gemeinde, desto bürgernäher und erreichbarer sind die
Repräsentanten
• bei größeren kommunalen Einheiten Distanz zwischen Bürgern und den
politischen Entscheidungsträgern größer
Quelle: HENKEL, 2004, S. 361
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10. Möglichkeiten – Kommunalpolitik
• Elemente der direkten Demokratie:
• aktives und passives Wahlrecht
• Bürgerversammlung
• Bürgerentscheid
• Bürgerinitiativen
• Bürgerinformationen
• Bürgerantrag
• Einbeziehung sachkundiger Bürger in Ratsausschüsse
Quelle: HENKEL, 2004, S. 361
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11. Möglichkeiten – Kommunalpolitik
• Eigenschaften Bürgerinitiativen:
• spontaner Charakter
• Bezug auf ein konkretes Projekt
• zeitliche Begrenzung
• Abwesenheit einer formalen Mitgliedschaft
• kollektive Selbstorganisationen von Bürgern, die von einer Entscheidung
betroffen sind und daran beteiligt werden wollen
• häufig gerichtet gegen lokale Planungen oder Defizite in verschiedenen
Bereich (z.B. Umwelt, Verkehr, Sanierung, Schule, Ansiedelung von
Großprojekten etc.)
Quelle: HENKEL, 2004, S. 361
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12. Möglichkeiten – Vereine
• „Ohne von Ehrenamtlichen getragene Vereine würde in den Dörfern kein
soziales Leben stattfinden“
• prägen die Vielfalt des dörflichen Lebens und übernehmen wichtige
Funktionen zum Erhalt und zur Stärkung dörflicher Strukturen
• Aktivitäten umfassen eine Bandbreite von Kultur- und Freizeitaktivitäten bis
hin zu sozialen und karitativen Dienstleistungen
• große lokalpolitische Bedeutung (Treffpunkte der lokalen Eliten, Kanäle zur
Beeinflussung der öffentlichen Meinung)
• im ländlichen Raum deutlich höheres Engagement als im städtischen Raum
• höhere Dichte und Frequentierung (durchschnittlich kommen auf je 100
ländliche Einwohner ein Verein)
• Ursachen: Willen zur Selbsthilfe und fehlende Professionalisierung
Quelle: SCHMIDTKE, 2006, S. 42; RÜCKERT-JOHN, 2005, S. 25; HENKEL, 2004, S. 361
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13. Möglichkeiten – Vereine (2)
• In ländlichen Gemeinden eine größere kulturelle und soziale Bedeutung
• Vereinswesen = Kulturträger
• Agglomerationen: mehrere Kulturträger wie Theater, Bibliotheken,
Ausbildungseinrichtungen etc.
• im ländlichen Raum: Vereine = Wahrer der kulturellen Kontinuität
• Mitgliedschaft in einem der großen Vereine (z.B. Schützen-, Sport-,
Musikverein oder Feuerwehr) oftmals selbstverständlich
• Mehrfachmitgliedschaften sind Regel
• Vereinstätigkeit für Jugendliche im ländlichen Raum soziale Pflicht
• Mitgliedschaft in der Freiwilligen Feuerwehr dokumentiert Einstieg in die
Erwachsenengemeinschaft
Quelle: SCHMIDTKE, 2006, S. 42; RÜCKERT-JOHN, 2005, S. 25; HENKEL, 2004, S. 361
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14. Möglichkeiten – Vereine (3)
• soziale Integrationsfunktion
• Einbindung verschiedener Individuen in die Dorfgemeinschaft und das Dorf
in weiterreichende gesellschaftliche Zusammenhänge
identititätsstiftende Wirkung
• Vereinstätigkeit = Regelsystem (soziale Kontrolle und öffentliche Ehrung
des Mitgliederverhaltens)
• Übernahme wichtiger lokaler Aufgaben Entlastung der kommunalen
Haushalte
Quelle: SCHMIDTKE, 2006, S. 42; RÜCKERT-JOHN, 2005, S. 25; HENKEL, 2004, S. 361
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15. Möglichkeiten – Vereine (4)
• Wandlung des ländlichen Vereinswesens:
• stärkere Individualisierung
• Differenzierung und Zielveränderung der Vereine
• Transformation der traditionellen, kollektiven Vereine hin zu spezialisierten
und individualisierten Freizeitvereinen
• freiwillige und unverbindliche Art der Beteiligung
• Wandlungsprozess bedingt einen Rückgang der Dorfzentrierung der
Vereine und ihrer dörfliche Integrations- und Symbolkraft
• Vereine stellen anders als früher nur noch Ausschnitte der lokalen
Gesellschaft dar
Quelle: SCHMIDTKE, 2006, S. 42; RÜCKERT-JOHN, 2005, S. 25; HENKEL, 2004, S. 361
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16. Grenzen und Hemmnisse
• interne Hemmnisse
• Entpolitisierung ländlicher Räume
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17. Grenzen und Hemmnisse (2)
Interne Hemmnisse
• Erlahmung von regionalem Engagement durch Trittbrettfahren
• Entmutigung gemeinwohlorientierter Akteure, wenn egoistisch handelnde
Personen Vorteile vom Gemeinwohl haben, ohne selbst dafür einen Beitrag
geleistet zu haben
• Informationsangebote zugunsten regionaler Veränderungsprozesse oft
unwirksam
• richten sich meistens an die immer gleichen Gruppen, die zudem oft bereits
engagiert sind
• Informationen können Veränderungsprozesse zugunsten von mehr Engagement
im ländlichen Raum anstoßen, wenn sie Menschen vor Ort emotional
ansprechen
• Menschen müssen ihre eigenen Erfahrungen und Empfindungen anknüpfen
können und sich die regionale Idee zu eigen machen
Quelle: GANZERT, 2006, S. 160
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18. Grenzen und Hemmnisse (3)
Entpolitisierung ländlicher Räume
• hemmt besonders bürgerschaftliches Engagement im Rahmen der
Kommunalpolitik
• Einschränkung kommunaler Autonomie durch zentralistische Vorgaben und
Steuerungen seitens der Bundes- und Landespolitik
• Aushöhlung der Kommunalautonomie betrifft besonders kleine, meist politisch,
wirtschaftlich und administrativ schwächere Gemeinden des ländlichen Raums
• Maßstabsvergrößerung durch Gebiets- und Verwaltungsreformen trugen zu
einer erheblichen Entpolitisierung der ländlichen Regionen bei
• Degradierung von ehemals von Selbstversorgung geprägte Dörfer und
Kleinstädte zu einer Ergänzungseinheit durch die normative Umsetzung des
Zentrale-Orte-Konzeptes
• Beschränkung auf die Wohnfunktion
• Überführung der ehemals eigenen Infrastruktur von Schule, Rathaus und
Polizeistation in die zentralen Orte
Quelle: HENKEL, 2004, S. 364; KÜHNE, 2007, S. 174
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19. Grenzen und Hemmnisse (4)
• zunehmend rechtliche Reglementierung der Gemeinden durch Gesetzgebung
des Bundes und der Länder Degradierung zu bloßen Handlungs- und
Vollzugsorganen der staatlichen Gesetzgebung
• Konsequenz: Entpolitisierung und Entparlamentisierung der
Entscheidungsprozesse in den Gemeinden
• bürgerschaftliche Engagement in Form von Sachverstand, bürgerschaftlicher
Meinungsbildung und lokalen politischen Entscheidungen ist immer weniger
nötig
• lässt sich mit Verweisen auf übergeordnete rechtliche Vorgaben und
Sachzwänge beiseite schieben
• Übertragung politischer Macht auf überörtliche Verwaltungseinheiten weitere
Schwächung der örtlichen politischen Ebene
• Lokalpolitik verliert weitere Anreize für das bürgerschaftliche Engagement
Quelle: HENKEL, 2004, S. 364; KÜHNE, 2007, S. 174
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20. Grenzen und Hemmnisse (5)
• Weiteres Haupthindernis für die Entfaltung der Selbstverwaltung der
Gemeinden: Finanzierungssystem öffentlicher Ausgaben
• 90 % der kommunalen Ausgaben durch staatliche Vorgaben festgelegt
• Strategie der maximalen Subventionsmobilisierung statt Suche nach
Entwicklungsstrategien durch lokales bürgerschaftlichen Engagement
• demografischer Wandel immer weniger junge Menschen stehen für lokale
Politik zur Verfügung
• Überalterung und Mangel an Personal (lokale politische Gremien häufig nur
noch über Einheitslisten zu besetzen)
• Kompetenzen der kommunalen Parlamente tendieren auf Grund des
Übergewichts der zentralen Bürokratien gegen Null
• Angehörigen der Gemeindeparlamente sind „Gefangene gesetzlicher
Bestimmungen und administrativer Sachzwänge“
• Ergebnis: erhebliche Resignation und Apathie der Bürger des ländlichen Raums
Quelle: HENKEL, 2004, S. 364; KÜHNE, 2007, S. 174
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21. Perspektiven
• bürgerschaftliche Engagement ist einem Zwang zur Professionalisierung
unterworfen
• Anforderungen offenkundig gestiegen
• heute ähnliche Anforderungen an Zeitaufwand, Kompetenzen und
Verantwortungsbereitschaft wie eine reguläre Erwerbstätigkeit
• Professionalisierung stellt sowohl für Verbände als auch für die Politik eine
Herausforderung dar
Quelle: SCHMIDTKE, 2006, S. 42; HENKEL, 2004, S. 367; KÜHNE, 2007, S. 175
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22. Perspektiven (2)
• öffentliche Hand stellt für soziale Infrastruktur immer weniger Geld bereit
Bedeutung des Ehrenamtes im ländlichen Raum wird weiter zunehmen
• Beförderung des Engagement in der Kommunalpolitik, wenn diese wieder in der
Kompetenz und Verantwortung der Kommunalpolitiker liegt
• kommunale Verwaltungen auf dem Land muss gestärkt werden
• Verlagerung eines Teil des Überbaus an Fachleuten und Juristen aus
übergeordneten Einheiten in die Gemeindeverwaltungen
• grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Beseitigung der Krise der politischen
Selbstverwaltung:
• Stärkung der lokalen Ebene der Politik
• Stärkung der politischen Selbstverantwortung jenseits der
Parteiendemokratie
• Einbeziehung weiterer Akteure (z.B. aktive und engagierte Bürger) in die
politische Entscheidungsfindung
Quelle: SCHMIDTKE, 2006, S. 42; HENKEL, 2004, S. 367; KÜHNE, 2007, S. 175
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